Kapitel 5: Sol
Heute Morgen fühlte es sich so an, als würde mein Gehirn aus seiner Schale ausbrechen wollen. Die Kopfschmerzen waren kaum auszuhalten. Das hatte Dr. Forster also damit gemeint, dass die Schmerzen schlimmer werden würden. Ob sie wohl noch stärker werden würden?, fragte ich mich, während ich kraftlos meine Tasche schulterte und die Tür hinter mir schloss.
Wenige Minuten später hatte ich meine Wohnung hinter mir gelassen und folgte dem breiten Gehweg. Das Pochen an meinen Schläfen wurde nahezu unerträglich, als ich an einer Fußgängerampel zum Stehen kam. Der Lärm, der an mir vorbei rasenden Autos und die Traube an Menschen um mich herum, verstärkten die Kopfschmerzen zunehmend. Wenn das so weiterging, wie sollte ich den Arbeitstag in einem Großraumbüro nur überstehen?
Als ich vor drei Jahren nach Philadelphia gezogen war, hatte ich kurzerhand einen stupiden Bürojob angenommen. Wenn die Bezahlung nicht so gut gewesen wäre, hätte ich mir schon längst einen neuen Job gesucht. Doch ich konnte es mir nicht leisten, irgendwelchen Träumen nachzujagen. Also blieb ich eine Angestellte von Mr. Goldmann, obwohl ich wusste, dass er meine Gutmütigkeit zu seinen Gunsten ausnutzte. Ich konnte einfach schlecht nein sagen, wenn jemand mich um etwas bat. Darüber waren sich auch meine Kollegen im Klaren. Wenn ich nicht gerade dabei war, meiner Arbeit nachzugehen, war ich der Laufbursche meiner verehrten Mitarbeiter. Manche von ihnen meinten es vielleicht nicht einmal böse. Aber sie taten es trotzdem.
Unruhig wippte ich mit meinen Füßen auf und ab. Die Ampel zeigte noch immer auf Rot. Ich ließ meinen Blick über die Menschenmenge auf der gegenüberliegenden Straßenseite schweifen. Erst, als es zu spät war, bemerkte ich, nach wem ich unbewusst Ausschau gehalten hatte.
Da stand er. Inmitten der wartenden Masse und starrte mich aus seinen silbrigen, glänzenden Augen unverhohlen an.
Wie bei den letzten beiden Malen stoppte die Welt für wenige Augenblicke erneut.
Ich spürte die Erschütterung seiner Wirkung auf mich bis tief in meine Knochen.
Mein Mund öffnete sich einen Spalt breit, während ich kaum merklich den Kopf schüttelte. Fassungslos starrte ich zurück. Ich konnte es nicht glauben.
Seine Augen lagen auf mir und schienen jede meiner Bewegungen zu verfolgen. Ich schluckte hart. Das dumpfe Pochen in meiner Brust wurde stärker. Die Wärme, die ich die ganze Zeit, seit er im Nebel verschwunden war, schmerzlich vermisst hatte, durchströmte mich nun mit voller Wucht und nahm meinen Körper komplett ein. Mein Herz raste.
Die Ampel schlug auf Grün. Die Menschen um mich herum setzten sich in Bewegung. Ich konnte mich nicht aus meiner Starre lösen. Noch immer hielt mich sein Blick gefangen. Als gäbe es in diesem Moment nur uns beide. Ich blinzelte, doch in der nächsten Sekunde war er verschwunden. Als hätte ich mir all das nur eingebildet.
Suchend ließ ich meinen Blick über die mir entgegenkommenden Menschen schweifen, aber ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Er war nicht hier.
Augenblicklich begann ich zu frösteln und eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich schlang die Arme um meinen Bauch und überquerte mit schnellen Schritten die Straße.
Als ich auf der anderen Seite angekommen war, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und reckte meinen Kopf in alle erdenklichen Richtungen, in die er verschwunden sein konnte. Doch ich konnte ihn nicht entdecken. Das dumpfe Pochen verstärkte sich. Ich hatte den unabdingbaren Drang, ihn finden zu müssen. Als wäre da etwas in mir, dass mich zu ihm zog.
Enttäuscht ließ ich die Schultern hängen und fasste mir an meine schmerzenden Rippen.
Wie konnte ich mir all das nur einbilden?
Amy, was machst du nur mit mir, verfluchte ich dieses Ding, während ich mir mit der flachen Hand über die Augen wischte. Ich hatte gehofft, dass die Halluzinationen eine einmalige Sache gewesen wären. Doch vermutlich lag ich damit mehr als falsch. Es hatte weniger als sechzehn Stunden gedauert, dass ich den attraktiven Fremden erneut gesehen hatte. Obwohl er nicht da war. Nicht existierte. Amy hatte mir wieder einmal einen Streich gespielt.
Und wenn es doch real ist, warf Amys neunmalkluge Stimme ein. Am liebsten hätte ich sie auf den Mond geschossen, doch leider war sie fest mit meinem Gehirn verwachsen. Dieses lästige Ding.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, um mich gegen meine imaginäre, bipolare Stimme zu wehren.
Es konnte nicht real sein, weil Menschen sich nicht einfach in Nebel auflösen, schrie ich Amy in Gedanken entgegen. Es frustrierte mich, dass mich dieses Ding so verunsicherte. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.
Also versuchte ich auf meinen gesunden Menschenverstand zu hören und mich nicht von Amy verunsichern zu lassen. Auch, wenn diese Begegnung gerade eben diese Vorstellung erheblich ins Schwanken brachte.
Nachdem ich nach unserer kleinen Auseinandersetzung und der imaginären Begegnung mit dem attraktiven Fremden nun voller Energie war und eine gute Ladung Adrenalin im Blut hatte, kam ich kurze Zeit später vor meinem Arbeitsplatz zum Stehen. Erst jetzt spürte ich, dass die pochenden Kopfschmerzen verflogen waren. Als wären sie nie da gewesen, wie der mysteriöse Fremde.
Energisch schüttelte ich den Kopf und stieß schwungvoll die Glastür auf. Ich musste mir diesen Typ unbedingt aus dem Kopf schlagen. Das war ja nicht zum Aushalten.
Da stimme ich dir voll und ganz zu, Schwester.
Ich verdrehte innerlich die Augen. Wenn die Menschen um mich herum wüssten, dass ich die meiste Zeit über von einem Typen fantasierte, der nicht real war und ich mich zudem mit meinem Gehirntumor unterhielt, würden sie mich für völlig verrückt erklären.
Doch zum Glück sahen die Menschen nur das, was ich ihnen zeigte. Ob das weniger verrückt war, konnte ich nicht einschätzen. Zumindest gab ich mir Mühe, die meiste Zeit über gute Laune zu haben und den Menschen um mich herum, ein positives Gefühl zu vermitteln.
Auf dem Weg zu meinem Schreibtisch im zweiten Stock begrüßte ich freundlich einige meiner Kollegen, die an mir vorbeikamen, mit einem Kopfnicken. Ich stieg in den Fahrstuhl und betätigte den Knopf für die zweite Etage. Der Fahrstuhl war voll besetzt, als wir schweigend die Stockwerke hinauffuhren.
Zum Glück war meine Fahrzeit kurz, sodass ich nach wenigen Sekunden den stickigen Raum verlassen konnte.
Der eine Typ hatte einen solchen Schweißgeruch, dass ich dachte, ich ersticke. Hat der noch nie etwas von einer Dusche gehört?, murrte Amy und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Hailee lag absolut falsch. Auch ein Teil von mir konnte anscheinend böse Gedanken haben.
Ich betrat das Großraumbüro und stockte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Es wurde wild durcheinander geredet und das typische Geräusch von Tastaturen war zu hören. Gerade knallte Elizabeth, neben deren Tisch ich stand, ihren Hörer geräuschvoll auf das dazugehörige Gerät. Ich zuckte dabei kaum merklich zusammen. Mr. Goldmann stand auf diese alten Telefone, sodass jeder von uns eins auf seinem Arbeitsplatz hatte.
Der Lärm umhüllte mich und ließ den Schmerz in meiner pochenden Schläfe wieder zum Leben erwecken.
Schnell durchquerte ich den Raum, der nach Kaffee, Schweiß und strengem Parfüm roch. Dazu kam dieser undefinierbare Duft nach abgestandenen Möbel und Kopierpapier.
Geräuschvoll ließ ich meine Tasche neben mir auf den Boden fallen und setzte mich auf meinen Drehstuhl. Ich hatte Glück, dass mein Schreibtisch direkt am Fenster stand. So konnte ich auf die große Eiche schauen, die vor dem Gebäude hochwucherte. Wenn ich mich noch weiter nach vorne beugte, konnte ich sogar die Straße sehen. Manchmal verlor ich mich darin, die vielen Menschen da unten zu beobachten.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als jemand mir einen Kaffeebecher vor die Nase stellte.
,,Ich habe dir einen Cappuccino mitgebracht. Er ist auch noch heiß. Sei vorsichtig, dass du dich nicht verbrennst.''
Mein Herz ging bei Eliahs warmen Stimme auf und sofort schlich sich ein breites Lächeln auf meine Lippen. Ich wusste nicht, woher plötzlich das Gefühl kam, doch ich sprang auf und fiel meinem besten Freund um den Hals. Ich drückte mich fest an ihn. Sein Aftershave, das nach einer Mischung aus Zimt und Apfel roch, erinnerte mich daran, wie sehr ich ihn gestern gebraucht hätte. All die angestauten Gefühle des vergangenen Tages brachen wie eine Flut über mir zusammen.
Eliah verstand mich auch ohne Worte. Seine Feinfühligkeit war etwas, das ihn auszeichnete.
Sanft legte er seine Hand auf meinen Rücken und klopfte beruhigend mit der anderen Hand auf meine Schulter.
,,Egal, was es ist. Es wird wieder'', flüsterte er, während er seine Wange an meine legte. Seine dunklen, fast schwarzen Haare, die an den Seiten etwas zu lang waren, kitzelten mich im Gesicht und ich musste automatisch wieder lächeln. Ich nickte als Antwort und löste mich von ihm.
Seine kristallblauen Augen, die mich sorgenvoll anfunkelten, verfolgten jede meiner Bewegungen.
,,Möchtest du mir davon erzählen?'', versuchte er es erneut und ging neben mir in die Hocke. Aufgrund seiner eher kleinen Körpergröße verschwand er fast gänzlich unter dem Schreibtisch, sodass ich auf ihn hinabschauen musste. Seine treuen Augen funkelten mich an und doch ließ er mir den Freiraum, den ich benötigte. Eliah war wahrscheinlich der einzige Mensch auf dieser Welt, der wusste, dass auch ich an manchen Tagen traurig sein konnte.
Er urteilte nicht über mich, sondern nahm mich so, wie ich war.
Wenn ich nicht nach Philadelphia gezogen wäre und diesen Job begonnen hätte, wäre ich ihm nie begegnet. Ohne ihn, wäre ich in dieser Stadt schon längst verloren gewesen.
In diesem Moment wusste ich, dass ich Eliah von meiner Erkrankung erzählen würde. Weil er wahrscheinlich der Einzige war, der nicht sofort durchdrehen würde und genau das brauchte ich im Augenblick.
,,Das werde ich. Aber nicht jetzt.''
Ich legte meinen Arm auf seinen, um ihn für seinen stillen Trost zu danken, doch er zuckte unter meiner Bewegung zusammen und verzog zischend den Mund.
Die Alarmglocken in mir schrillten dunkelrot, da sein Verhalten nur eines bedeuten konnte. Schneller, als er reagieren konnte, schob ich den Ärmel seines Pullovers nach oben und schnappte hörbar nach Luft.
Dunkle, in lila-blau Tönen gefärbte Blutergüsse zierten sich über seinen Handrücken bis hinauf zu seinem Ellenbogen.
Bei dem Anblick durchströmten mich Wut, Fassungslosigkeit und Traurigkeit. Ich biss die Zähne zusammen und blinzelte die aufkommenden Tränen beiseite. Das half ihm jetzt auch nicht weiter.
,,Wer war es dieses Mal?'', flüsterte ich mit einer Spur von Zorn in der Stimme, während ich ihm sanft über die Verletzung strich. In mir wütete ein Sturm.
Eliah schaute beschämt zur Seite und wich meinem Blick aus.
,,Bitte, Eliah. Schau mich an.'' Ich griff nach seinem Gesicht. Er hatte die Lippen fest aufeinandergebissen und seine Augen strahlten eine Traurigkeit aus, dass sie mir den Boden unter den Füßen wegzogen.
Jegliche Luft entwich meinen Lungen.
,,Wir müssen damit zu Mr. Goldmann'', sagte ich mit belegter Stimme und zeigte dabei auf seinen geschundenen Arm. ,,So kann es nicht weitergehen.'' Ich redete leise, aber eindringlich auf ihn ein. Doch er schüttelte nur kraftlos den Kopf, ehe er sich den Pullover wieder nach unten strich.
Ich konnte mich nicht erinnern, wie oft wir beide dieses Gespräch schon geführt hatten. Einmal, als er besonders übel zugerichtet gewesen war, hatte ich schon bei Mr. Goldmann vor dem Büro gestanden, um den Vorfall zu melden. Diese widerwertigen Typen mussten ihre gerechte Strafe bekommen. Doch Eliah hatte mich unter Tränen angefleht, unserem Geschäftsführer nichts von dem Vorfall zu erzählen. Er hatte Angst, dass sie ihm danach noch schlimmere Dinge antun würden.
Das Mobben hatte wenige Monate vor meinem Umzug nach Philadelphia angefangen. Eliah war ein Jahr älter als ich und somit eher fertig mit dem College gewesen. Am Anfang hatte er sich mit den meisten Kollegen gut verstanden, bis sie herausgefunden hatten, dass er auf Männer stand. Einige Typen, besonders die aus dem achten Stock, die häufiger mit uns zusammenarbeiteten, nahmen dies als Grund zum Anlass, um sich anfangs über Eliah lustig zu machen. Sie verhöhnten ihn, riefen ihm schreckliche Beleidigungen entgegen und zogen ihn aufgrund seiner Homosexualität vor der gesamten Belegschaft auf. Doch niemand unternahm etwas dagegen. Niemand stellte sich auf seine Seite. Niemand war für ihn da.
Nun, drei Jahre später hatte das Mobben noch immer nicht aufgehört. Es war für Eliah zum täglichen Spießrutenlauf geworden. Wenn er allein auf die Männer traf und sie besonders gute Laune hatten, schlugen sie ihn. Aus Spaß.
Eliah war aufgrund seines schmalen Körperbaus und seiner Größe im Nachteil. Dazu kam sein sanftes Wesen. Er könnte nicht mal einer Fliege etwas zu Leide tun.
Eine ungezügelte Wut packte mich allein bei dem Gedanken, wie ich ihn einmal mit blutüberströmtem Gesicht abends im Treppenhaus gefunden hatte. Da kannte ich Eliah noch nicht sehr gut, da ich erst neu gewesen war. Ich war völlig aufgelöst und panisch gewesen. Anstatt ihm sofort zur Hilfe zu kommen, hatte ich mich am Treppengeländer festgekrallt und angefangen zu weinen. Am Ende war es Eliah, der mich getröstet hatte. Was für eine Ironie. Noch heute könnte ich mich ohrfeigen für meine Unfähigkeit. Seit diesem Tag waren wir unzertrennlich gewesen. Ich hatte versucht, ihm zu helfen, aber es wurde nur schlimmer. Mittlerweile glaubte ich nicht mehr daran, dass die Typen ihn wegen seiner Sexualität schikanierten. Sie brauchten einfach nur ein Opfer, der für all ihre Frustrationen hinhalten musste.
,,Eliah. Bitte. Waren es die Typen vom letzten Mal?'' Verzweiflung, gemischt mit einer Wut, die ich nicht mehr unterdrücken konnten, waren deutlich aus meiner Stimme herauszuhören.
Er zuckte zusammen, was mir als Zustimmung reichte. ,,Die können etwas erleben'', fluchte ich und stand ruckartig von dem Stuhl auf. Meine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Ich würde das nicht mehr länger mitmachen. Es war an der Zeit, dass diese Typen ihre Strafe erhielten.
,,Niemand wird mir glauben.'' Eliahs Hand zitterte, während er mich am Handgelenk packte. Sein Blick lag flehend auf mir.
,,Es geht mir gut'', versuchte er mich zu beruhigen.
,,Dir geht es nicht gut! Ich...''
,,Na, wen haben wir denn da? Unsere Heulsuse und meine bezaubernde Sol. Habe ich dir schon mal gesagt, dass du wie die Sonne am Nachthimmel strahlst '', unterbrach uns Jimmy, der plötzlich in mein Sichtfeld trat und sich unangenehm weit über den Tisch zu mir lehnte.
Ausgerechnet dieser Mistkerl hatte mir gerade noch gefehlt. Ich verdrehte innerlich die Augen und wappnete mich mental für den bevorstehenden Kampf.
Wusste er überhaupt, was für eine Gülle er da jedes Mal zusammenredete? Seit wann strahlte die Sonne am Nachthimmel?
Vielleicht ist ihm nicht bewusst, dass der Mond ein eigenes Himmelsobjekt ist, stichelte Amy.
Ich fragte mich jedes Mal, wie er es geschafft hatte, Teamleiter zu werden. Mit seinem Gehirn, das der Größe einer Erbse glich, konnte er schon mal nicht überzeugt haben. Wahrscheinlich war es sein Ego, das ihn gepuscht hatte.
,,Was willst du, Jimmy?'', sagte ich genervt, da er Eliah und mich gerade in einer wichtigen Angelegenheit störte, die nicht auf sich warten lassen konnte. Ich kannte Eliah. Er würde sich zurück in sein Schneckenhaus ziehen.
Ein Blick auf ihn bestätigte meine Vermutung. Noch mehr als vor den Schlägertypen schien er vor Jimmy Angst zu haben. Wahrscheinlich, weil er es war, der Eliah in unserer Abteilung am meisten mobbte.
,,Ich wollte zu dir, meine schöne Belle'', säuselte er und beugte sich noch weiter zu mir. Sein süßlicher Parfumduft stieg mir in die Nase. Ein Brechreiz von der üblen Sorte formte sich in meiner Galle, doch ich unterdrückte ihn.
Wusste er nicht, dass belle französisch ist und schön bedeutet?
Was für eine Intelligenzbestie, stimmte mir Amy zu.
Kräftig atmete ich ein. Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl, stützte die Hände vor mir auf dem Schreibtisch ab und lehnte mich so weit zu ihm vor, dass ich noch genügend Sicherheitsabstand bewahrte. Es reichte mir.
Jimmy schien diese offensive Geste zu gefallen, obwohl er sie wahrscheinlich missdeutete. Seine braunen Augen funkelten anzüglich, während ihm eine dunkelblonde Haarsträhne in die Stirn fiel.
Warum sah er mit seinen gegelten Haaren nur so verdammt widerlich aus?
Er war so anders als...
Stopp. Erde an Sol. Hör auf an diesen Typen zu denken. Er ist nicht real. Nicht real.
Ich will dich und deine Fantasien nicht stören, aber ich glaube, du wolltest was zu unserer Eintagsfliege sagen.
Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken freizumachen. Kurz dachte ich an das Gespräch mit Hailee zurück. Jetzt war genau der richtige Zeitpunkt gekommen.
Es interessierte mich nicht mehr, wie Jimmy reagieren würde. Er konnte mich anschreien oder kündigen. Was auch immer. In ein paar Monaten wäre ich eh nicht mehr hier. Also, was hatte ich zu verlieren? Diesem Mistkerl musste jemand mal die Meinung geigen.
,,Jetzt hör mal zu, JIMMY.'' Dabei betonte ich seinen Namen mit einer solchen Kälte, dass er erschrocken die Augen aufriss. Mein Zeigefinger bohrte sich in seine Schulter. Es ekelte mich an, ihn zu berühren, doch es verstärkte den Effekt, den ich erzeugen wollte. ,,Ich weiß nicht, wie oft ich dir schon gesagt habe, dass ich kein Interesse an dir habe. Aber ich sage es gerne nochmal. Halte dich von mir fern! Wenn du mich und Eliah in Zukunft nicht in Ruhe lässt, werde ich zu Mr. Goldmann gehen und ihm von den sexuellen Übergriffen erzählen. Das willst du doch nicht, oder?'', zischte ich mit fester Stimme.
Sein Gesicht wurde blass und ich beobachtete mit Genugtuung, wie er kräftig schluckte. Seine Augen huschten ängstlich zwischen meinen hin und her. Wahrscheinlich überprüfte er, ob ich die Wahrheit sagte. Als er sich überzeugt hatte, dass ich jedes Wort ernst meinte, entfernte er sich ruckartig von mir und brachte einen gebürenden Abstand zwischen uns.
,,Ich erwarte, dass die Dokumente bis zum Tagesende auf meinem Tisch liegen'', sprach er mit neutraler Miene und nickte uns kurz zu, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und mit schnellen Schritten am Ende des Raums zu seinem Schreibtisch lief.
,,Was hast du zu ihm gesagt?'', wollte Eliah wissen. Dabei funkelte er mich mit seinen großen Augen bewundernd an. Eliah war wie ein kleiner Hundewelpe. Es tat mir im Herzen weh, dass man ihn auf diese Weise behandelte.
Ich fasste einen Entschluss. Morgen würde ich zu Mr. Goldmann gehen. Auch wenn mich Eliah dafür verfluchen würde. Ich musste einfach. Schon viel zu lange hatte ich dabei zugesehen, wie er misshandelt wurde. Wenn ich ihn schon nicht beschützen konnte, musste ich es auf meine Weise versuchen.
Ich lehnte mich zu ihm herunter und tätschelte seine Wangen.
,,Er wird dir in Zukunft nicht mehr wehtun. Das verspreche ich dir.''
Nachdem Eliah sich kurze Zeit später zu seinem Schreibtisch aufgemacht hatte, hatte ich begonnen den Papierkram auf meinem Tisch zu sortieren.
Als mich das Gefühl überkam, beobachtet zu werden, blickte ich von meinen Dokumenten auf und schaute durch den Raum. Doch ich konnte niemanden entdecken.
Ein inneres Gefühl ließ mich nach draußen zu der alten Eiche schauen. Einzelne Sonnenstrahlen blitzten durch die grünen Blätter und ließen das edle Federgewand des schwarzen Vogels in seiner Pracht glänzen.
Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich den schwarzen Raben bemerkte, der nur wenige Meter entfernt auf einem großen Ast hockte und mich direkt anstarrte.
Als ich ihn eingehend musterte, erkannte ich, dass der Vogel nur ein Auge hatte. Er sah dem Raben, der auf der Schulter des attraktiven Fremden gesessen hatte, zum Verwechseln ähnlich. Konnte es sein...? Nein, oder?
Es war ein Gefühl, das ich nicht zuordnen konnte. Vielleicht war es mehr eine Vermutung und doch war ich mir sicher, dass es derselbe Rabe war.
Konnte das alles ein purer Zufall sein? Und warum starrte er mich so an?
Ich hatte das Gefühl, dass er mir wie sein Besitzer bis tief in die Seele schauen konnte. Es sollte mich beunruhigen oder mir Angst machen, aber das tat es nicht. Aus einem unerklärlichen Grund konnte ich meinen Blick nicht von dem schwarzen Vogel abwenden.
Plötzlich, als würde jemand anderes die Kontrolle meines Körpers übernehmen, spürte ich eine Welle von Emotionen, die nicht die meine waren. Die Geräusche um mich herum verstummten. Und immer wieder, es war nur ein zartes Hauchen, hörte ich eine Stimme in meinem Geist, die immer zu ,,Mein'' flüsterte.
Ich schloss die Augen und gab mich dem wärmenden Gefühl hin bis dieses plötzlich mit einem Mal verschwand. Zurück blieb nichts als tobende Leere und eisige Kälte.
Ich hatte wieder Kontrolle über meinen Körper. Mein Blick klärte sich und ich konnte wieder die Stimmen meiner Kollegen deutlich wahrnehmen. Was war da gerade passiert? Warst du das, Amy?
Mädchen, nicht alles liegt in meinem Kontrollbereich.
Ich legte angestrengt den Kopf schief und schaute geradewegs zu dem Raben, der mich noch immer anstarrte. Warum kam er mir so vertraut vor?
Instinktiv schüttelte ich den Kopf und legte eine Hand auf meine feuchte Stirn.
Er würde mir gleich recht keine Antwort geben. Die Ereignisse wurden immer kurioser.
Ich zwang mich, meine Augen von der alten Eiche abzuwenden und mich stattdessen auf meine Arbeit zu konzentrieren. Doch ich konnte seinen durchdringenden Blick auf mir noch deutlich spüren. Egal, was gerade mit mir passiert war, ich durfte es nicht überbewerten.
Für den Rest des Tages war ich die meiste Zeit über von dem Raben vor meinem Fenster abgelenkt. Zwar schaffte ich es schließlich doch noch, meine Arbeit zu beenden, doch einen Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass ich deutlich über die Stränge geschlagen hatte.
Es war mittlerweile 22:00 Uhr, als ich meinen PC ausschaltete, die Lichter des Büros ausmachte und als letzte Angestellte das Büro verließ. Bevor ich die Lichter ausschaltete, wagte ich noch einmal einen Blick zu der alten Eiche. Der Rabe war nirgendwo zu sehen.
Es war nicht direkt Enttäuschung, die mich überfiel. Aber es war, als hätte ich einen Teil von mir verloren.
Mit hängenden Schultern verließ ich durch die Drehtüren das Bürogebäude und wurde eins mit der Nacht. Um diese Uhrzeit waren in diesem Stadtteil kaum Menschen unterwegs. Ich stellte mich an die Ampel und wartete, die Hände in den Jackentaschen gesteckt, darauf, dass ein grünes Strichmännchen aufleuchtete. Ich sah nach rechts und beobachtete die einzelnen vorbeifahrenden Autos.
Als ein knackendes Geräusch ertönte, das mir signalisierte, dass die Ampel auf Grün gesprungen war, wandte ich meinen Blick zurück auf den Fußgängerüberweg und erstarrte.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während das dumpfe Pochen unaufhaltsam lauter wurde.
Ich unternahm keinen Schritt, um die Seite zu überqueren.
Denn am Ende der anderen Straßenseite stand der mysteriöse Fremde im Schein der Laterne und schaute mich an.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro