Kapitel 20: Atlas
Irgendetwas an ihrem Gesicht ließ mich zweifeln, dass sie meiner Anweisung Folge leisten würde, wenn es darauf ankäme. Vielleicht waren es ihre bernsteinfarbenen Augen, die für einen Sekundenbruchteil einen verschreckten Ausdruck angenommen hatten, ehe sie wieder ihre Unschuldsmiene aufsetzte. Oder es waren ihre rosigen Lippen, die sie immer leicht kräuselte, wenn sie etwas verbrochen hatte.
Sie räusperte sich und setzte dieses ansteckende Lächeln auf, bei dem ich jedes Mal das Gefühl hatte, die Sonne würde aufgehen.
,,Keine Sorge. Ich glaube nicht, dass Athanasios mich in sein Reich lassen würde, wenn ich noch lebe.''
Ich glaubte ihr nicht. Kein bisschen.
Diesem Mädchen würde ich zutrauen, dass sie alles tun würde, um ihre Liebsten zu retten. Unabhängig davon, ob sie dabei selbst in Gefahr wäre.
Ich sollte mir keine Gedanken machen, da sie sowieso niemals die Grenze zur Schattenwelt übertreten könnte, und doch hatte ich ein ungutes Gefühl im Bauch. Sol hatte die missliche Eigenschaft, sich immer in Gefahren zu bringen. Dazu kam, dass seltsamerweise unsere Gesetze bei ihr nicht zu gelten scheinen. Vielleicht war sie sogar in der Lage zwischen den Welten zu wandeln, ohne dabei sterben zu müssen. Wer wusste das schon?
Hast du es auch gespürt?, unterbrach Horus meine Gedanken, als er fertig war, die letzten Stücke der Pizza zu verspeisen, die eigentlich für Sol gedacht waren. Doch Horus hatte die Gunst der Stunde genutzt und sich still und heimlich bedient.
Ich runzelte die Stirn und warf dem Raben einen kurzen Blick zu.
Was meinst du?, antwortete ich ihm in Gedanken, während ich Sol dabei beobachtete, wie sie mit den Fingern die Haut an ihren Nägeln abschabte.
Ihre Energie ist heute anders. Stärker.
Der Rabe rückte näher an Sol heran und setzte sich auf ihren Schoß. Sie lächelte daraufhin noch breiter und begann, dem Raben eine Kopfmassage zu geben.
Ich unterdrückte ein Augenverdrehen, als ein Knurren seinen Schnabel verließ.
Konzentriere dich, Horus, erinnerte ich ihn an unser Gespräch, das er kurzweilig vergessen zu haben schien.
Als ich Sol näher in den Blick nahm, musste ich zugeben, dass der Rabe recht hatte. Ihre Seele brannte schon seit dem Moment, als ich sie das erste Mal gesehen hatte wie ein Inferno. Doch um dieses Feuer lag nun eine hauchdünne Schicht. Eine Energie, die nicht ihre eigene war.
Ich fühle eine Verbindung zu ihr, die ich gestern noch nicht gespürt habe. Zumindest nicht so stark wie heute. Was kann das bedeuten, Herr?
In diesem Moment erinnerte ich mich an Dantes Worte. Es hat bereits begonnen. Du kannst nun nicht mehr zurück. Deine Seele hat schon längst für dich entschieden, bevor du es selbst realisiert hast.
Eine leise Vorahnung beschlich mich. Diese Veränderung musste etwas mit dem zu tun haben, was Dante angedeutet hatte. Wahrscheinlich amüsierte dieser Mistkerl sich gerade prächtig in seinem Palast, während er mir dabei zusah, wie ich versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen. Doch mir fehlte die Verbindung zwischen den Phänomenen, die um Sol herum passierten.
Doch ich wollte mich im Moment nicht damit befassen. Jetzt zählte nur, dass ich mit ihr zusammen war und ich ihr einen Abend bieten wollte, den sie nicht so schnell vergessen würde.
,,Ich habe noch eine Überraschung für dich. Bist du bereit für ein neues Abenteuer?''
Ihre Augen weiteten sich, als hätte sie Angst vor dem, was ich nun schon wieder geplant hatte. Ich grinste verschmitzt und wackelte anspielungsvoll mit den Augenbrauen.
,,Nur wenn es nichts mit Höhe zu tun hat. Ich springe unter gar keinen Umständen aus einem Flugzeug! Das kannst du vergessen, Atlas'', rief sie mit vorgehaltenem Finger, um mir ihren Standpunkt deutlich zu machen. Meine Mundwinkel zuckten bei ihren Worten, da ich tatsächlich kurz daran gedacht hatte.
,,Gib's zu, dir hat der freie Fall gefallen'', stichelte ich und erinnerte mich an das Funkeln in ihren Augen, als sie schwerelos in der Luft schwebte, während die Zeit still stand.
,,Das war ein ganz mieser Zug von dir. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du mich einfach vom Dach gestoßen hast.''
Ich grinste nur als Antwort und reichte ihr meine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Zögerlich legte sie ihre zarte Hand in meine, doch das Feuer in ihren Augen loderte noch immer. ,,Wenn du jetzt wieder mit deinem Zaubernebel anfängst, kannst du was erleben'', drohte sie mir. Horus krächzte laut auf, als er sich in die Lüfte erhebt. Er wusste, was gleich passieren würde.
,,Da bin ich mal gespannt'', flüsterte ich, ehe ich sie eng an mich zog und der Nebel sich aus der Energie meines Körpers formte.
,,Was hast du vor?'', rief sie und wedelte wild um sich, als könnte sie damit den Nebel verscheuchen.
,,Schließ die Augen und mach sie erst wieder auf, wenn ich es dir sage'', flüsterte ich ihr leise ins Ohr. Eine Gänsehaut bildete sich in ihrem Nacken. Um sicher zu gehen, dass sie wirklich die Augen geschlossen hielt, bedeckte ich sie mit meiner flachen Hand. Den Arm hatte ich fest um ihre Taille geschlungen und genoss die Wärme ihres Körpers an meinem. Nichts hatte sich jemals so richtig angefühlt. Da war diese Gewissheit in mir, dass sie zu mir gehörte und ich zu ihr. Als hätten all meine Entscheidungen, die ich je getroffen hatte, mich direkt zu ihr geführt. Wenn es das war, für das ich all die Jahrhunderte gekämpft hatte, immer auf der Suche nach etwas, das mich ausfüllte und komplett machte, dann würde ich diesen Weg immer wieder gehen. Nur, um am Ende an ihrer Seite zu sein. Das war alles, was in diesem Augenblick für mich zählte.
Für einen Abend wollte ich vergessen, wer ich war.
Nur für wenige Stunden würde ich mir erlauben, mich fallen zu lassen und mich der Illusion hingeben, ich wäre ein ganz normaler Mann, der die Frau, die er mochte, zu einem Date ausführte. Auch, wenn dieser Abend Konsequenzen nach sich ziehen würde, war ich bereit dazu, diese zu tragen.
Seichter Nebel tanzte um meine Handgelenke und hatte uns binnen weniger Sekunden komplett eingehüllt. Sol war mir so nah, dass ihr Haar, das immer nach Kokosnuss duftete, mich leicht am Kinn kitzelte. Wieder spürte ich ein dumpfes Pochen in meiner Brustgegend und tausend kleine Blitze durchzuckten mich, als sich ihre Finger um meinen Unterarm schlossen und sie sich an meinem Oberkörper zurücklehnte. Ein Zeichen, das sie mir vertraute. Etwas, das sie nicht sollte. Früher oder später würde ich sie enttäuschen. Ich konnte mir zwar einreden, dass in mir mehr war als Knochen und Haut, doch die Wahrheit war, dass die Dunkelheit immer ein Teil von mir sein würde. Egal, was ich auch unternehmen würde, der Geruch des Todes würde auf ewig an mir haften. Auch das Licht in ihr würde diese Finsternis nicht verdrängen können. Ich verdiente ihr Vertrauen nicht.
Trotzdem behielt ich sie an meiner Seite. Weil ich ein egoistisches Arschloch war und ich nicht mit der Vorstellung leben könnte, dass sie irgendwo da draußen war und ich nicht bei ihr sein konnte.
Deshalb zog ich sie noch enger an mich, nur um zu spüren, dass sie noch da war und der Tod mir sie nicht entrissen hatte. Dieses Mal würde ich nicht allein zurückbleiben.
Ein Beben durchfuhr mich, als ich an den Ort dachte, den ich Sol zeigen wollte. Ihr Griff um meinen Unterarm verstärkte sich, als das altbekannte Ziehen unsere Körper erfasste. Als wir wenige Augenblicke später auf dem Weg unterhalb der riesigen Kuppel landeten, lockerte ich meinen Griff um ihre Taille und legte stattdessen die Hand auf ihre Hüfte. Ganz so, als gehörte sie dahin.
Alles um uns herum war dunkel, nur das Licht des Mondes schien durch die Deckenfenster. Langsam löste ich meine Hand von ihrem Gesicht. Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute.
Widerwillig trat ich einen Schritt zurück und gab ihr ein wenig Freiraum.
,,Du kannst deine Augen nun öffnen'', flüsterte ich, während ich ihre Reaktion genau beobachtete. Das dumpfe Pochen in meiner Brust verstärkte sich. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich denken, dass ich nervös war.
Sol öffnete langsam ihre Augen. Sie blinzelte mehrmals, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ich hatte damit keine Schwierigkeiten, da ich sowohl tagsüber als auch nachts eine hundertprozentige Sehleistung hatte.
Ihr Blick schweifte durch den großen Raum und ein erstauntes ,,Oh'' entfuhr ihr, als sie sich fasziniert im Kreis drehte.
Das Tropenhaus war voller exotischer Pflanzen, die sich lechzend der Glasfront entgegenreckten. Kakteen, große Bananenstauden und verschiedene Farnarten bildeten eine wunderschöne Symbiose. Auf der kleinen Anhöhe, auf der wir standen, konnte man direkt einen Blick auf den kleinen Teich werfen, auf dem sich die geschlossenen Seerosen dicht nebeneinander reihten. Neben der Anhöhe thronte ein kleiner Pavillon, der nach griechischem Vorbild erbaut wurde. Drei Meter hohe Säulen reihten sich dicht nebeneinander und hielten die steinerne Kuppel auf Position. Eine kleine Bank stand in der Mitte, von der man einen perfekten Blick auf das gesamte Tropenhaus hatte. Es war unglaublich still, nur unser leiser Atem war zu hören.
,,Wo sind wir hier?'', flüsterte Sol ehrfürchtig, während sie sich mit leichtgeöffnetem Mund umschaute. Ich konnte den Blick nicht von ihr lösen. Ihr ganzes Wesen zog mich magisch an. Wie konnte jemand nur so unschuldig sein und gleichzeitig so eine Stärke ausstrahlen?
Als ihre bernsteinfarbenen Augen mich daraufhin direkt anschauten, hätte ich schwören können, dass mein nichtvorhandenes Herz einen Sprung vollzogen hatte. Ich räusperte mich und unterbrach den Blickkontakt. Unruhig steckte ich meine Hände in die Jackentaschen und zwirbelte den Stoff zwischen meinen Fingern. Ich wusste nicht, was ich sonst mit meinen Händen anfangen sollte. Irgendetwas an dieser Situation machte mich unruhig.
,,Im Tropenhaus. Ich dachte, es könnte dir vielleicht gefallen.''
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie neckisch die Augenbraue hob.
,,So etwas wie ein normales Date kommt bei dir nicht in Frage, oder?''
Kurz war ich verunsichert, weil ich nicht abschätzen konnte, ob ich mit meiner Idee richtig gelegen hatte oder nicht. Doch als sie ihre Arme um mich schlang und ihren Kopf an meine Brust drückte, lösten sich meine Zweifel und meine Anspannung in Luft auf.
,,Wir beide und normal?'', fragte ich sie und legte eine Hand an ihren Hinterkopf, während ich ihr sachte durch die weichen, gewellten Haare fuhr.
,,Du weißt schon, dass ich mich gerade strafbar mache, oder? Im Gegensatz zu dir habe ich so etwas wie ein Führungszeugnis.''
Meine Mundwinkel zuckten verräterisch bei ihrer vorwurfsvollen Stimme, die den Schalk aber kaum überdeckte.
,,Mach dir da mal keine Sorgen. Dein Führungszeugnis wird auch nach diesem Abend lückenlos sein.''
Wenn dieses kleine Problem das einzige war, worüber sie sich Sorgen machte, war ich beruhigt.
,,Wollen wir ein wenig Licht ins Dunkle bringen?''
Sol löste sich ein Stück von mir und starrte mich aus großen Augen an.
,,Jetzt sag bloß nicht, dass du mit deinem Zaubernebel sogar das Licht anschalten kannst.''
Ich schmunzelte und schüttelte nur amüsiert den Kopf.
,,Mein sogenannter Zaubernebel kann zwar viel, aber das nicht, nein. Aber es ist viel einfacher als das.''
Erwartungsvoll schaute sie mir dabei zu, wie ich die Hand hob. Ich spürte den Strom in meinen Fingerspitzen pulsieren, als ich mit einem einfachen Fingerschnipsen die Energie entlud und in den umliegenden Laternen und Lichterketten, die mit großen Glühbirnen an den Geländern befestigt waren, die Lichter angingen, sodass das Tropenhaus in gleißendes Licht getaucht wurde.
Durch die Erleuchtung des Raumes wirkte der Ort magisch. Aufgrund der vorherigen Dunkelheit hatte man auch nicht die eigentliche Attraktion sehen können, für die ich Sol extra hergebracht hatte.
,,Es ist wunderschön'', hauchte Sol eindrucksvoll, während sie gedankenversunken über eine Glühbirne strich.
Plötzlich bewegte sich etwas in meinem Augenwinkel. Ein kleiner Schmetterling mit gelb-orangenen Flügeln schwebte dicht an mir vorbei und setzte sich auf Sols Hand, die unter der federleichten Berührung erschrocken zusammenzuckte. Es dauerte nicht lange, da schwirrten immer mehr Schmetterlinge um uns herum.
,,Du hast nicht gesagt, dass es ein Schmetterlingshaus ist'', rief sie erfreut auf, während die Schmetterlinge es sich auf ihrer Schulter und ihren Armen gemütlich machten. Manche waren größer als andere, mit wunderschönem türkis-blauen Gewand, das durchzogen war von atemberaubenden Mustern. Ganz vorsichtig nahm sie einen kleinen Falter auf ihren Handrücken. Ihr Lächeln dabei war unbezahlbar. Mein Körper wurde bei diesem Anblick mit einer solchen Wärme durchflutet, dass ich Angst hatte, ich könnte daran ersticken. Diese Gefühle waren neu für mich, und doch ließen sie mich lebendig fühlen. Etwas, das ich eigentlich nicht sein sollte.
Mich ignorierten die Schmetterlinge. Lebendige Wesen mieden den Tod. Auch, wenn ich sie berühren wöllte, würden sie es nicht zulassen. Zudem wollte ich diese zarten Tiere nicht mit einer Brandmarkung versehen. Sie waren schon ihr ganzes Leben gefangen in diesem Käfig. Eine Berührung von mir, und sie würden die Fähigkeit verlieren zu fliegen.
,,Schmetterlinge sind sehr zerbrechliche Lebewesen, die leicht verletzt werden können. In der griechischen Mythologie wurden sie als Symbol der unsterblichen Seele angesehen. Und auch im Christentum ist der Schmetterling häufig auf Grabsteinen zu finden, wo er die Auferstehung repräsentieren soll. Diese Tiere sind das komplette Gegenteil von mir und doch finde ich mich in ihnen wieder. Auch ich bin eine unsterbliche Seele, nur dass ich nicht das Leben bringe, sondern den Tod.''
Warum ich in diesen Moment so etwas wie Demut verspürte, wusste ich nicht.
,,Vielleicht sollte es genauso sein. Wo Leben existiert, muss es auch den Tod geben. Du bist ein wichtiger Teil dieses Kreislaufs. Ohne dich würden sich die Seelen verirren und nie ihre Ruhe finden. Und nicht jeder Mensch liebt das Leben so wie ich es tue. Manche sind müde und erschöpft. Für diese Menschen bist du ihre Erlösung von einem Leben, das ihnen jeden Tag vor Augen geführt hat, wie zerbrechlich sie sind und wie schwierig es ist, jeden Tag neu zu kämpfen. Am Ende sind wir doch alle Schmetterlinge, denen früher oder später die Flügel gebrochen werden und wir nicht mehr in der Lage sind zu fliegen. Du hast einen Wert für diese Welt, Atlas. Du musst ihn nur noch erkennen.''
Dabei legte sie ihre zarte Hand auf meine Brust, unter der sich das dumpfe Pochen weiter verstärkte. Ein brennendes Kribbeln durchfuhr mich, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Als hätte Sol diesen Energieschub ebenfalls gespürt, zuckte sie leicht zusammen und nahm ihre Hand von meinem Oberkörper.
Ich schaute ihr tief in die Augen. In ihrem Blick lag eine Spur Überraschung und etwas, das ich nicht verdient hatte. Diese Liebe, die sie für mich empfand, würde sie irgendwann zerstören.
Vorsichtig berührte ich ihr Gesicht und strich ihr mit dem Daumen über die weiche Haut. Mein Innerstes erbebte, je näher ich ihr kam.
,,Hast du schon einmal vom Schmetterlingseffekt gehört? Es beschreibt ein Phänomen, bei dem schon kleinste Entscheidungen große Auswirkungen auf die Zukunft haben können. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings am Ende der Welt einen Tornado auslösen kann. Wenn ein Schmetterling seine Flügel bewegt, so kann der dadurch entstehende Luftwirbel einen größeren anstoßen, welcher wieder einen noch größeren anstößt, bis am Ende ein Sturm entsteht.''
Sol nickte nur, während ich mit dem Daumen über ihre rosige Unterlippe fuhr.
Ich sollte sie nicht auf diese Weise berühren.
Ich sollte sie nicht mit diesem Blick anschauen.
Ich sollte nicht meinen Finger unter ihr Kinn legen und ihr Gesicht näher zu meinem ziehen.
Sie sollte mich nicht mit diesen unschuldigen Augen ansehen und gleichzeitig das Feuer in mir entfachen.
Sie sollte nicht ihre Hand an meinen Bauch legen und kleine Kreise darauf ziehen.
Sie sollte mich nicht mit diesem Blick betrachten und mir das Gefühl geben, als wäre ich etwas Besonderes.
,,Würdest du etwas riskieren, was dir viel bedeutet, auch wenn es jemand anderem schaden könnte?'', fragte ich mich kratziger Stimme, als ich daran dachte, was unsere Verbindung für Folgen hatte, wenn wir sie weiter intensivierten. Es drehte sich alles ums Gleichgewicht. Ihre Seele war dazu verdammt zu sterben. Ein Umstand, den ich nicht geschehen lassen würde. Doch wenn ich es schaffte, sie zu retten, musste eine andere Seele sterben. So war das Gesetz.
,,Es kommt darauf an, wie groß der Schaden für den anderen wäre.''
Ich verfestigte den Griff um ihre Taille.
,,Und wenn man es nicht absehen kann? Wenn die Konsequenzen ungewiss sind? Würdest du es wagen? Dem Gefühl nachgeben?''
Dabei kam ich ihr mit dem Gesicht gefährlich nahe. Ihr süßlicher Duft umhüllte mich und benebelte wichtige Rezeptoren in meinem Gehirn, die mich eindeutig von dem, was ich im Begriff war zu tun, abhalten sollten.
Die wenige Luft, die noch zwischen uns existierte, knisterte wie verrückt. Als sie ihren Mund einen Spalt breit öffnete, ohne etwas zu erwidern, verlor ich beinahe die Kontrolle. Meine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.
,,Ich sollte nicht egoistisch sein'', hauchte ich, während meine Lippen nur wenige Zentimeter über ihren schwebten. Wir waren uns so nahe, dass ich ihr Herz schlagen hörte.
,,Ja'', flüsterte sie erstickt. ,,Ich würde es riskieren.''
Und dann hielt mich nichts mehr. Ich überbrückte die letzte Distanz zwischen uns und legte sanft, aber bestimmend, meine Lippen auf ihre. Schon bei der ersten Berührung ihres Mundes explodierte ein wahres Feuerwerk in mir. Gefühle, die ich nicht mal gewagt hatte, jemals spüren zu können, überfielen mich nun lawinenartig und rissen mich in ein buntes Farbenmeer aus Emotionen. Alles an ihr schmeckte nach Leben. Erst zaghaft strich ich über ihre Lippen, ehe sie ihren Mund leicht öffnete und meiner Zunge Einlass gewährte. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und zog sie noch näher an mich, während ich den Kuss intensivierte. Ich wollte sie in diesem Augenblick so sehr, dass ich nicht in der Lage war, mich von ihr zu lösen.
Schon seit ich sie das erste Mal aus dem Fahrstuhl hatte steigen sehen, hatte ich es tief in mir gewusst. Sie war es. Sie würde es immer sein.
Und in diesem Moment schwor ich mir, alles in meiner Macht Stehende zu unternehmen, um sie vor ihrem Schicksal zu bewahren. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Ich würde Athanasios aufsuchen und darum bitten, ihre Seele zu verschonen. Er konnte alles von mir haben. Mir war es gleich. Ich wollte nicht mehr in einer Welt leben, in der sie nicht existierte.
Als ihre Zungenspitze spielerisch über meine strich, musste ich lächeln, weil mich noch nie etwas so glücklich gemacht hatte. Es kam mir vor wie ein Traum.
Auch Sol fing an zu lächeln.
Zum ersten Mal in meiner Existenz fühlte ich mich komplett.
Meine Seele war vollständig. Sol vertrieb all die Dunkelheit in mir mit ihrem kraftvollen Licht.
Es war, als würde die Sonne den Mond berühren. Oder als würden zwei Sterne kollidieren, die meilenweit voneinander entfernt gewesen waren und sich nun zu einem größeren Stern formierten. Fast so, als hätten sie sich endlich gefunden.
Sie heilte meine geschundene Seele, ohne es zu ahnen.
Wie könnte ich nur ohne sie weiterleben?
Ein Beben erschüttert meinen Körper, als mir bewusst wurde, dass unsere Zeit begrenzt war. Unser Kuss verwandelte sich in einen verzweifelten Kampf.
,,Ich kann dich nicht gehen lassen'', flüsterte ich, während ich ihr immer wieder kleine Küsse auf den Mund hauchte. Eine ungeheure Welle der Verzweiflung überrollte mich plötzlich. Ich wollte sie halten, doch ich wusste nicht, wie.
Eine Träne rollte ihr über die Wange. ,,Mach das nicht'', hauchte sie und nahm mein Gesicht in ihre Hände. Ich hielt inne und schaute sie an. Sie war völlig ruhig, nur in ihren Augen tobte ein Sturm.
Doch bevor ich antworten konnte, erstrahlte das Schmetterlingshaus plötzlich in vollständiger Helligkeit. Jemand musste das Licht angeschaltet haben. Das konnte nur eines bedeuten.
,,Scheiße, sie haben uns erwischt'', rief ich und packte Sols Hand. Ihre Augen weiteten sich vor Schock, ehe sie plötzlich laut auflachte. Schnell presste sie sich eine Hand vor dem Mund. Doch das Beben hatte längst ihren Körper erfasst. Vergessen war der traurige Moment von eben.
,,Hey, ist da jemand?'', schrie eine fremde Stimme. Wahrscheinlich ein Sicherheitsmann.
Sol liefen schon die Tränen aus den Augen, während sie sich hinter einen großen Farn in gebückter Haltung den schmerzenden Bauch hielt. Dieses Mädchen war unmöglich. Im Moment erinnerte sie mich ein wenig an Dante. Der war auch so ein Stimmungschamäleon wie Sol.
Ich schüttelte über den Gedanken den Kopf.
,,Komm, wir müssen hier raus'', flüsterte ich und grinste sie verschmitzt an.
Ich verflocht unsere Hände miteinander und sprintete los. Horus flog mit kräftigen Flügelschlägen über uns und krächzte voller Freude. Das Adrenalin pumpte in meinen Venen und trieb mich an, noch schneller zu laufen. Ich erinnerte mich nicht, wann ich das letzte Mal gerannt war.
,,Hey, du da! Bleib sofort stehen!'', drohte uns der Sicherheitsmann von der anderen Seite des Tropenhauses.
,,Was ist mit deinem Zaubernebel?'', schrie Sol mir schwer atmend zu, während wir über den steinigen Weg hasteten.
,,Das wäre doch langweilig.'' Oh, sie würde mich später dafür töten. Doch für den Augenblick genoss ich die Fassungslosigkeit in ihrem Blick.
Natürlich hätte ich uns auch einfach an einen anderen Ort teleportieren können und doch wollte ich mich noch länger so lebendig fühlen. Genau das war es, was sich Sol gewünscht hatte. Sie wollte etwas Verrücktes machen. Vor einem Wachmann davon zu laufen, zählte eindeutig dazu.
Als wir das Schmetterlingshaus durchquert hatten und durch die Notausgangstüren entflohen waren, liefen wir lachend über den menschenleeren Parkplatz, während wir uns fest an den Händen hielten. Die Hauptstraße erreichend, bogen wir um die nächste Ecke, vorbei an den Mülltonen liefen wir die leere Straße entlang und ließen die bunt geschmückten Schaufenster hinter uns. Nach einer gefühlten Ewigkeit und weiteren drei Abbiegungen später, blieben wir stehen. Als wir uns für einen Sekundenbruchteil anschauten, sah ich, wie ihre Mundwinkel verräterisch zuckten, ehe wir uns beide lachend und schnaufend den Bauch hielten.
Ihr Lachen, das so voller Herzlichkeit war, war ansteckend.
,,Das war der Wahnsinn'', sprudelte es aus ihr heraus, während sie sich die Tränen von der feuchten Wange wischte.
Wieder umgab mich dieses warme Gefühl, das ich nur in ihrer Nähe spürte.
War es möglich, dass der Tod lebendig werden konnte?
,,Danke.'' Es war nur ein kleines Wort, doch darin steckte so viel mehr.
Wie konnte ich dieses Mädchen jemals gehen lassen?
Nach diesem Abend gab es keine andere Option mehr.
Nichts würde mich aufhalten.
Nicht dieses Mal.
Dante hatte Recht gehabt. Meine Seele hatte sich längst entschieden, bevor ich es realisiert hatte.
Es war an der Zeit, dem Gott der Schattenwelt einen Besuch abzustatten.
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