Epilog
Ein Jahr später
Das wilde Hupen eines SUV-Fahrers ließ mich zusammenfahren, als er in einem Mördertempo an mir vorbeiraste. Die Sonne brannte auf meiner Haut und der Himmel erstrahlte in einem kräftigen Azurblau. Ein Tag wie dieser sollte sich leicht anfühlen, mein Herz sollte frei sein und doch hatte ich nie aufgehört, nach ihm zu suchen.
Ein Jahr war an mir vorbeigegangen, ohne dass ich den Druck der Zeit auf meinen Schultern gespürt hatte. In dem Moment, als Atlas von dieser Erde gegangen war, wusste ich, dass ich niemals in meinem Leben diesen Schmerz überwinden würde.
Doch ich bemühte mich, mein Versprechen, dass ich Horus gegeben hatte, einzuhalten und dieses Leben, dass Atlas mir schenkte, nicht zu verschwenden. Über die Zeit hatte ich gelernt, mich um mich selbst zu kümmern. Ich lernte in der Mitte meines Betts zu schlafen, weil ich mich dort am meisten mit ihm verbunden fühlte. Ich ging arbeiten und aß regelmäßig – manchmal allein und manchmal mit Hailee. Und währenddessen hatte ich akzeptiert, dass ich bestimmte Dinge in diesem Universum nicht ändern konnte, auch wenn ich mir nichts sehnlichster wünschte, als nun an seiner Seite zu sein. Egal, wo auch immer das war.
Es war nun vier Wochen her, dass ich gemeinsam mit Hailee in ein Flugzeug gestiegen bin. Eines Nachts hatte mich die Sehnsucht nach ihm so aufgefressen, dass ich Hals über Kopf zwei Tickets nach Rom gebucht hatte. Es war eine zugleich traurige als auch schöne Reise. Hailee und Amy hatten mich die meiste Zeit über abgelenkt. Erst als wir vor dem Trevi-Brunnen ankamen, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Aber ich glaube, das war okay.
Denn ich hatte gelernt, dass es vollkommen okay war, ihn zu vermissen.
Im Schmetterlingshaus war ich bereits Dauergast. Larry, der Türsteher hatte mich sogar wiedererkannt, aber er schien zu bemerken, dass ich auf jemanden wartete, also sagte er nichts, wenn ich bis spät nach den Öffnungszeiten noch immer auf der Bank saß, wo wir uns das erste Mal geküsst hatten. Manchmal, wenn ich die Augen schloss, dann konnte ich ihn spüren, fast so, als wäre er noch bei mir, als hätte er mich nie verlassen.
Das waren die Tage, die am meisten weh taten und an denen ich mich gleichzeitig am lebendigsten fühlte.
Und wie jeden Tag lief ich heute auf dem Weg zur Arbeit zu dem Fußgängerübergang, auf dem ich zum ersten Mal mit Atlas gesprochen hatte.
Wenn ich daran zurückdachte, fühlte es sich wie eine Ewigkeit an und doch sah ich ihn noch immer da stehen, mitten auf dem Fußgängerweg, seine Augen lagen auf mir, als wäre ich das schönste Wesen, das er jemals gesehen hatte. Heute wusste ich, dass er mich zu diesem Zeitpunkt bereits geliebt hatte. Nur hatten zu diesem Zeitpunkt so viele unausgesprochenen Geheimnisse zwischen uns gelegen.
Dennoch erinnerte ich mich gerne an diesen Moment zurück. Denn hier, genau auf dieser Straße, begann unsere Unendlichkeit.
Deshalb lächelte ich, weil er es geliebt hatte, wie ich ihn anlächelte. Jedes Mal hatte er seine warme Hand an mein Gesicht gelegt und mich mit diesem Aufblitzen in seinen Augen betrachtet, als wäre ich das Kostbarste, das er besaß. Als könnte er sein Glück kaum fassen.
Ihn zu vermissen, fühlte sich an wie ein Gewitter. Es war laut, schwer und manchmal kam es unerwartet. Alles um mich herum drehte sich, während sich meine Welt grau färbte und all die Farben um mich herum verblassten. Manchmal dachte ich, der Regen würde niemals aufhören, aber die Wahrheit war, dass er mir so fehlte, dass ich nur darauf wartete, dass der Regen stärker wurde. Denn ich hatte Angst, dass ich mich irgendwann nicht mehr so an ihn erinnern würde, wie ich es jetzt tat. Ich wollte kein Detail von ihm vergessen.
Für einen Moment schloss ich die Augen und sah ihn vor mir, wie er auf der anderen Seite der Straße stand und auf mich wartete. Er winkte mir zu und strahlte mit entgegen. So wie er es damals getan hatte.
Ich öffnete meine Lider. Die Ampel zeigte auf Rot. Mir gegenüber stand eine große Traube an Menschen. Es waren zu viele, als dass ich sie alle überblicken konnte.
Besonders in solchen Augenblicken stellte ich mir vor, dass Athanasios ihm doch noch eine Chance gegeben hatte und seine Seele nun irgendwo auf dieser Welt wandelte.
Vielleicht bist du immer hier. Mit einem völlig anderen Gesicht und einem anderen Aussehen. Als eine komplett neue Existenz.
Wenn ich das dachte, dann schaute ich ständig in die Gesichter aller Menschen, denen ich begegnete. Bist du es? Wenn ich an dir vorbeiging, würdest du mich erkennen und meine Hand ergreifen, so wie du es immer gemacht hast? Auch wenn es nur für einen kurzen Augenblick wäre.
Die Ampel schlug auf grün und ich setzte mich in Bewegung. Wie jeden Tag pochte mein Herz, als würde es einen bestimmten Rhythmus vorgeben, immer mit der leisen Hoffnung, dass ich ihn irgendwann finden würde.
Ich sah mich um und betrachtete all die fremden Menschen, die an mir vorbeiliefen, als würde ich nicht existieren.
Wo könntest du gerade sein?
Was machst du in diesem Moment?
Ich lächelte und schüttelte über meine Gedanken den Kopf, ehe ich schließlich auf den Boden starrte.
Mädchen, manchmal ist es besser den Kopf aufrecht zu halten. Denn wenn du immer nach unten schaust, könntest du etwas Wichtigstes verpassen, flüsterte Amy sanft und ich erkannte erst jetzt nach all der Zeit, dass sie vielleicht immer nur das Beste für mich gewollt hatte. Meine Stimme der Vernunft, mein Motivator.
Und so hob ich ganz langsam den Kopf, weil ich plötzlich ein mulmiges Gefühl im Magen verspürte. Es war genau wie damals, kurz bevor ich Atlas das erste Mal gesehen hatte. Ich spürte ihn, bevor ich ihn sah.
Meine Augen huschten suchend über die mir entgegenkommende Menschenmenge, bis sie schließlich gefunden hatten, wonach sich meine Seele die ganze Zeit gesehnt hatte. Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
Mein Herz setzte aus, ehe es in dreifacher Geschwindigkeit zu schlagen begann. Ich öffnete den Mund, aber kein Wort kam über meine Lippen.
Alles, was ich sah, war er.
Ich blinzelte ganz oft, um mich davon zu überzeugen, dass er kein Trugbild war und ich mir nicht nur einbildete, er stehe dort, am Ende der Straßenseite.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, während alles in mir zum Stillstand kam.
Obwohl seine Haare nun von einem tiefen Schwarz durchzogen und an den Seiten etwas länger waren, war es noch immer sein Gesicht, das ich berührt und seine Lippen, die ich unzählige Male geküsst hatte. Er trug einen eleganten, langen Mantel, der ihn männlich und gleichzeitig unglaublich attraktiv aussehen ließ. Er unterstrich seine Eleganz und das Markante an ihm. Ein wenig erinnerte er mich an den Mantel, den er damals als Schattenmann immer getragen hatte. Vielleicht hatte er diese Version seiner selbst niemals abgelegt.
Meine Sicht verschwamm, während die fremden Menschen, mit den fremden Gesichtern sich an mir vorbeidrängelten. Der Straßenlärm, das Gemurmel der Passanten und das laute Hupen der Autos drang in den Hintergrund. Nichts davon spielte noch eine Rolle.
Meine Seele explodierte in meiner Brust. Alles in mir drängte mich zu ihm zu gehen, doch ich bewegte mich nicht. Dieses Mal machten sich meine Füße nicht selbstständig.
,,Atlas'', wisperte ich, als sich bereits die erste Träne aus meinem Augenwinkel löste und meine Wange hinabwanderte.
Ohne mich anzuschauen, kam er mit großen, eleganten Schritten direkt auf mich zu. Er hatte mich noch nicht bemerkt.
Ich verharrte noch immer an Ort und Stelle. Vielleicht, weil ein kleiner Teil in mir wusste, dass er mich nicht erkennen würde. Die Angst, es könnte so sein, lähmte mich. Doch der größere Teil in mir, derjenige, der nie aufgehört hatte, zu hoffen, wollte solche Gedanken nicht zulassen.
Als wäre ich unter Trance setzte ich einen Schritt vor den nächsten.
Meine Augen verließen ihn dabei niemals. Denn er war der Mittelpunkt meiner kleinen Welt. Das war er schon immer und würde er auch immer sein.
Während alles in mir sich nach ihm sehnte, schien er mich nicht zu registrieren. Er schaute geradewegs nach vorn. Seine Miene wirkte angespannt, als beschäftigte ihn etwas.
Es trennten uns nur noch wenige Meter.
Und gerade, als er dabei war, an mir vorbeizugehen, hafteten sich seine sturmgrauen Augen auf mich.
Die Welt um uns herum erstarrte für einen winzigen Augenblick, ehe wir langsam aneinander vorbeigingen. Als wären wir zwei Fremde.
Ganz leicht, sodass ich fast glaubte, ich hätte es mir nur eingebildet, berührten sich unsere Arme. Ein Stromstoß durchfuhr mich und ließ all die Zellen in meinem Körper, die ihn niemals vergessen hatten, erzittern. Wie schon damals brachte er meine Welt mit einer winzigen Berührung aus dem Gleichgewicht.
Mitten in der Bewegung hielt ich inne und legte meine Hand auf mein schmerzendes Herz, denn nun hatte sich meine Vermutung bestätigt. Er erinnerte sich nicht an mich.
Die Gewissheit riss mir den Boden unter den Füßen weg und ich konnte nicht verhindern, wie meine Lippen zu zittern begannen und sie mit salzigen Tränen benetzt wurden. Ich holte Luft, doch kein Sauerstoff drang in meine Lungen. Meine Schultern bebten, während ich mich mit eiligen Schritten von ihm entfernte. Amy und meine Seele schrien mich an, zurückzugehen, doch ich konnte einfach nicht. Es raubte mir schlichtweg den Atem. Das Einzige, was für mich zählen sollte, sollte sein, dass er lebte und doch verletzte es mich zutiefst, dass er sich nicht an mich zu erinnern schien.
Doch als ich schon fast die andere Seite des Fußgängerüberwegs erreicht hatte, spürte ich plötzlich eine warme, vertraute Hand auf meiner nackten Schulter. Die Schmetterlinge in meiner Brust explodierten zu einem großen Feuerwerk aus bunten Farben. Mein Herz stolperte förmlich über seinen eigenen Rhythmus, während ich für einen Sekundenbruchteil die Augen schloss und versuchte, das starken Beben meines Körpers zu kontrollieren.
Während ich mich ganz langsam zu ihm umdrehte, hörte ich ihn schwer atmen.
Als ich meinen Blick langsam hob, starrte ich in gräuliche Augen, die so menschlich wirkten, dass ich das tiefe Schluchzen in meiner Kehle nicht unterdrücken konnte.
Er war zurück. Mein Atlas.
Seine Augen verschlangen mich. Ein Sturm tobte in ihnen, der mich mit sich riss. Und ich? Ich ließ mich einfach mit ihm ziehen. Ein verdächtiger Glanz umhüllte seine Iriden, während er zögerlich, fast als hätte er Angst, ich könnte nicht real sein, seine Hand an meine Wange legte und meine Tränen beiseite wischte. Unruhig huschten seine Augen über mein Gesicht, als könnte er nicht glauben, dass ich vor ihm stand.
Ich presste meine zitternden Lippen aufeinander, nicht im Stande etwas zu ihm zu sagen. Das musste ich auch nicht. Wir wussten, was der andere fühlte. Und so schmiegte ich mich an seine raue Hand, so wie ich es immer getan hatte, weil ich Angst hatte, er könnte in der nächsten Sekunde wieder verschwinden.
,,Endlich habe ich dich gefunden'', raunte er, ehe sich seine Lippen zu einem Lächeln kräuselten und er ohne Vorwarnung seinen Mund auf meinen presste. Erschrocken zog ich die Luft ein, doch alles, was in diesem Moment zählte, war das prickelnde Gefühl seiner Lippen, die sich drängend an meine schoben. Ich krallte mich an ihm fest und zog ihn noch näher zu mir, weil ich das Gefühl hatte, es würde eine ganze Welt zwischen uns liegen und ich befürchtete, er könnte jede Sekunde wieder verschwinden. Meine Hände vergruben sich in seinen dunklen Haaren, die sich weich und seidig anfühlten. Der Geschmack von salzigen Tränen vermischte sich mit unserer Sehnsucht zueinander, die mit jeder verstrichenen Sekunde größer zu werden schien.
Und plötzlich erwachte meine Seele zu neuem Leben. Sie heilte, während sie vorsichtig ihre Fühler ausstreckte und sich mit Atlas verband. So wie es immer vorherbestimmt gewesen war. Unsere Seelen knüpften ein Band für die Ewigkeit.
Als seine Zunge in mich drang, explodierte ein weiteres Feuerwerk in mir. Und mit jedem Kuss, mit jeder kleinen Berührung spürte ich, wie unser Band wuchs und unsere Seelen sich Stück für Stück zusammensetzten. Doch dieses Mal würde niemand dabei sterben.
Ein Leben. Das war alles, was wir uns gewünscht hatten, und dieses Leben würden wir zu unserer Unendlichkeit machen.
,,Atlas'', wisperte ich zwischen all den Küssen, die mir den Verstand raubten. ,,Wie?'', setzte ich an, doch da wurde ich wieder von seinen stürmischen Lippen unterbrochen. Ganz vorsichtig packte er mich mit beiden Händen an der Taille und zog mich zu sich. Dabei lächelte er, als könnte er nicht glücklicher sein. Und ich? Ich konnte nicht ausdrücken, wie sehr ich in diesem Moment liebte.
Nur im Hintergrund bekam ich mit, wie das Hupen der Autos immer lauter und drängender wurde.
,,Psch'', flüsterte er dicht an meinen Lippen, während er meine Taille noch fester umfasste. ,,Alles zu seiner Zeit.''
Er strahlte mich an, während er mich ohne Vorwarnung in seine kräftigen Arme hob und mich das letzte Stücke über die Straße trug.
Unser Lachen erfüllte die Straßen.
Denn das Schicksal hatte es das erste Mal gut mit uns gemeint.
Wir hatten von ihm das Wertvollste dieser Erde bekommen.
Zeit.
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