
𝑆𝑒𝑐ℎ𝑠
„Marie? Marie!" Die Traumwelt war zusammengestürzt und ich saß aufrecht in meinem Bett. Mum saß neben dem Bett auf dem Boden, Dad stand in der Tür.
„Was ist los?" Ich war zu verwirrt und mir darüber Gedanken zu machen, wie spät es war, oder warum sie aus ihrem Zimmer gekommen waren, eigentlich wollte ich nur wieder zurück zu der Frau und herausfinden, warum sie meinen Namen kannte.
„Marie Soon", flüsterte ich nachdenklich. Meine Eltern blicken mich fragend an. Sie wussten nicht, warum ich meinen Namen gesagt hatte. „Sie kannte meinen Namen", versuche ich zu erklären.
„Wer?"
„Die schwarze, funkelnde Frau aus dem Spiegelsaal."
„Was hat sie zu dir gesagt?"
„Sie wollte wissen wie ich heiße, aber eigentlich wusste sie es schon."
Warum interessieren meine Eltern sich dafür, was die Frau zu mir gesagt hatte? Warum schien es so, als wüssten sie mal wieder mehr als ich? Es war doch alles nur ein Traum, oder?
Wieder gaben sich meine Eltern vielsagende Blicke und verschwanden dann, ohne ein weites Wort zu sagen, aus meinem Zimmer. Erst wollte ich ihnen hinterherrufen, doch ich musste gähnen. Dann sah ich auf die Uhr.
Zwei Uhr nachts.
Dafür, dass ich um elf Uhr morgens nach Hause gekommen, und dann eigentlich sofort ins Bett gegangen war, war ich noch erstaunlich müde. Dabei hatte ich schon so lange geschlafen.
Deprimiert versank ich wieder in meine Kissen. Was hatte das alles zu bedeuten? Was wollten mir diese ganzen Träume sagen?
Ich brauchte einen Plan, und zwar schnell! Mein Leben schien gerade völlig aus dem Ruder zu laufen. Ein Plan könnte mir dabei helfen, mich zu ordnen.
Aber erst einmal musste ich etwas anderes machen. Ich griff nach meinem Handy und öffnete die Notizen. Mein letztes Gedicht war nun schon einen Monat alt, und mir durstete es nach einem neuen. Bevor das alles losging, hatte ich quasi jeden Tag eins geschrieben. Egal, wie langweilig mein Tag war, mir viel immer etwas ein. Mein letzter Text handelte von Sand am Strand, den ich als Metapher für die Menschheit genommen hatte. Es gibt Milliarden von uns, aber jeder ist einzigartig.
Auch wenn das Thema nicht wirklich ordinär war, fand ich das Ergebnis trotzdem nicht schlecht. Ich hatte eine gute Sprache für meine Botschaft gefunden und ein paar außergewöhnliche Reime erschaffen.
Das Thema für mein neues Gedicht war natürlich auch schon klar. Es würde von all den Geheimnissen handeln, die mich gerade bedrückten, aber mir fehlte noch ein ansprechender Titel. Wenn ich ein Gedicht schrieb, brauchte ich immer als allererstes einen Titel, an dem ich mich orientieren konnte.
Ich brauchte einen Titel, der perfekt zu dem ganzen Drama passte. Er musste geheimnisvoll, und mystisch sein. Fantasievoll und verschlossen, aber auch nicht zu verschlossen, denn bald würde ich das Geheimnis lüften. Bald würde ich allem auf die Schliche kommen. Bald würde ich dastehen, und auf alles eine Antwort wissen.
Bald ...
Soon!
Ich sollte es Soon nennen, denn bald würde ich alle Geheimnisse gelüftet haben.
Und noch bevor ich es aufschrieb kam mir ein Gedanke. Über meine Arme zog sich eine Gänsehaut und mir war plötzlich unfassbar kalt. Das konnte nicht wahr sein!
Soon.
Marie Soon.
Soon, Marie.
Bald, Marie.
Mein Nachname! Was, wenn auch das eine Botschaft war?
Meine Eltern hatten unseren Nachnamen ändern lassen, als ich vier Jahre alt war. Vorher hießen wir Teppa, was zwar eigentlich ganz schön klang, aber auf italienisch Gelump hieß. Meine Eltern hatten Angst, dass mich meine Mitschüler deswegen ärgern würden. Tja, dann hätten sie sich das mit den Augen früher überlegen sollen. Als Experiment beschimpft zu werden, war wesentlich schlimmer, als mit seinem Nachnamen.
Auf jeden Fall hatten sie sich dann für Soon entschieden. Laut ihnen, weil Soon ja so schön und einfach klang.
Jetzt war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob das wirklich der einzige Grund war. Wir hätten ja auch einfach Mums alten Namen annehmen können. Dann würde ich jetzt Marie Winters heißen, was auch sehr schön klang. Auch jeder andere Nachname wäre gut gewesen. Also: Warum Soon?
𝚂𝚘𝚘𝚗
𝚅𝚘𝚛 𝚠𝚎𝚗𝚒𝚐𝚎𝚗 𝚃𝚊𝚐𝚎𝚗 𝚐𝚒𝚗𝚐 𝚎𝚜 𝚕𝚘𝚜.
𝙿𝚛𝚘𝚋𝚕𝚎𝚖𝚎 𝚠𝚞𝚛𝚍𝚎 𝚒𝚗 𝚖𝚎𝚒𝚗𝚎𝚖 𝙻𝚎𝚋𝚎𝚗 𝚐𝚊𝚗𝚣 𝚐𝚛𝚘ß.
𝙻𝚞𝚗𝚊 𝚔𝚊𝚖, 𝚞𝚗𝚍 𝚕𝚊𝚌𝚑𝚝𝚎.
𝙳𝚎𝚛 𝙼𝚘𝚗𝚍, 𝚍𝚎𝚛 𝚖𝚒𝚛 𝙵𝚕ü𝚐𝚎𝚕 𝚋𝚛𝚊𝚌𝚑𝚝𝚎.
𝙳𝚒𝚎 𝚂𝚘𝚗𝚗𝚎, 𝚍𝚞𝚛𝚌𝚑 𝚍𝚒𝚎 𝚒𝚌𝚑 𝚐𝚊𝚗𝚣 𝚜𝚝𝚛𝚊𝚑𝚕𝚝𝚎.
𝚄𝚗𝚍 𝙿𝚒𝚊, 𝚍𝚒𝚎 𝚊𝚗 𝚖𝚎𝚒𝚗𝚎𝚗 𝙶𝚎𝚍𝚊𝚗𝚔𝚎𝚗 𝚖𝚊𝚕𝚝𝚎.
𝚃𝚛ä𝚞𝚖𝚎, 𝚍𝚒𝚎 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚑𝚎𝚒𝚖𝚜𝚞𝚌𝚑𝚎𝚗.
𝚄𝚗𝚍 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚒𝚗 𝚓𝚎𝚍𝚎𝚛 𝙽𝚊𝚌𝚑𝚝 𝚋𝚎𝚜𝚞𝚌𝚑𝚎𝚗.
𝙴𝚒𝚗 𝚊𝚕𝚝𝚎𝚛 𝙼𝚊𝚗𝚗, 𝚍𝚎𝚛 𝚗𝚊𝚌𝚑 𝚎𝚒𝚗𝚎𝚛 𝙰𝚞𝚜𝚎𝚛𝚠ä𝚑𝚕𝚝𝚎𝚗 𝚏𝚛𝚊𝚐𝚝.
𝚄𝚗𝚍 𝚖𝚎𝚒𝚗 𝙶𝚎𝚑𝚒𝚛𝚗, 𝚍𝚊𝚜 𝚊𝚗 𝚖𝚎𝚒𝚗𝚎𝚗 𝙿𝚛𝚘𝚋𝚕𝚎𝚖𝚎𝚗 𝚗𝚊𝚐𝚝.
𝙰𝚞𝚌𝚑 𝚖𝚎𝚒𝚗𝚎 𝙴𝚕𝚝𝚎𝚛𝚗 𝚟𝚎𝚛𝚑𝚎𝚒𝚖𝚕𝚒𝚌𝚑𝚎𝚗 𝚖𝚒𝚛 𝚠𝚊𝚜.
𝚄𝚗𝚍 𝚍𝚒𝚎 𝚂𝚒𝚝𝚞𝚊𝚝𝚒𝚘𝚗 𝚒𝚜𝚝 𝚖𝚒𝚛 𝚎𝚒𝚗𝚏𝚊𝚌𝚑 𝚣𝚞 𝚔𝚛𝚊𝚜𝚜.
𝙳𝚘𝚌𝚑 𝚍𝚊𝚜 𝚊𝚕𝚕𝚎𝚜 𝚠𝚒𝚛𝚍 𝚟𝚎𝚛𝚜𝚌𝚑𝚠𝚒𝚗𝚍𝚎𝚗,
𝙱𝚊𝚕𝚍
Natürlich war dieses Gedicht keine Meisterleistung, aber genau so war mein Leben im Moment: Verwirrend und voll von Probleme. Eben nicht perfekt.
Zufrieden schaltete ich mein Handy aus und versuchte wieder in den Schlaf zu finden. Wie konnte es sein, dass ich auch nach einem Zwölfstundenschlaf, immer noch so müde war?
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„Marie?
Marie!"
Etwas verschwommen tauchte Luna vor mir auf.
„Luna?"
„Marie?" Ich wusste nicht, ob sie mich sehen konnte, deswegen berührte ich sie leicht.
„Marie!" Ich glaube, jetzt hatte sie mich bemerkt. Lange blickte sie mir in die Augen, bevor sie etwas sagte.
„Marie, komm morgen auf keinen Fall in die Schule!"
Dann verschwand sie. Und mit ihr mein Traum.
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Die Nacht hatte sich ewig lang gezogen. Nach der komischen Begegnung mit Luna war ich noch einmal aufgewacht, und konnte die ganze restliche Zeit nicht mehr einschlafen. Als um halb sechs mein Wecker klingelte, war ich mehr als erleichtert.
Schnell sprang ich unter die Dusche und ließ mich von dem kalten Wasser wach machen. Ich sah den Tropfen zu, wie sie an meiner Haut abperlten und dann an meinen Beinen nach unten flossen. Am Boden angekommen, verschwanden sie im Abguss. Ich nahm mir vor, an gar nichts zu denken und einfach nur dem Klang des Wassers zu lauschen.
Dadurch, dass ich so gerne duschte, hatten meine Eltern mir eine Regendusche gekauft. Kurz gesagt, das Wasser kam von der Decke und prasselte in sanften Tropfen auf mich hinab. Wenn man kein Geräusch von sich gab, hörte es sich wirklich an wie der echte Regen. Dieses Geräusch war sehr beruhigend, und entspannte mich. Ganze zwanzig Minuten musste ich nicht an Lunas Warnung denken.
Doch dann ging das Wasser aus. Diese dumme zwanzig Minutenregelung!
Fluchend zog ich mich an und schnappte mir meine Schulsachen. Dann rannte ich wütend die Treppe hinunter. Einmal konnte ich all meine Probleme vergessen, und da mussten meine Eltern natürlich eine Zeitsperre einstellen. Zwanzig Minuten und dann war der Zauber der Unwissenheit wieder aus.
Unten angekommen schaltete ich den Fernseher ein, und stellte das Wasser für meinen Tee an. Heute brauchte ich definitiv einen schwarzen Tee, der schmeckte mir zwar nicht so gut, aber meine momentane Lage schmeckte mir ja auch nicht. Meine Eltern schliefen wohl noch, denn ich hörte keinen Mucks aus dem Arbeitszimmer. Noch einmal hochzugehen und an ihrem Schlafzimmer zu lauschen, traute ich mich nicht. Wahrscheinlich waren sie von meinem Poltern auf der Treppe aufgewacht, aber sie würden bestimmt erst aus ihrem Zimmer kommen, wenn sie die Haustür hinter mir zufallen hörten. Oder sie waren wieder zu ihren normalen Urzeiten zur Arbeit gefahren. Naja ... so schlecht wie sie gestern gelaunt waren ... wohl eher nicht.
Mit meinem Tee setzte ich mich vor den Fernseher, doch die Nachrichten konnten mich nicht ablenken. Anders als das Wasser, das ohne Hilfe von der Decke auf den Boden fiel, ging es in der Sendung auch nur um Probleme.
Nach wenigen Minuten gab ich es auf, und schaltete den Fernseher wieder aus. Stattdessen checkte ich meine SMS's. Nichts.
Noch nicht einmal Pia hatte mir geschrieben. Komisch. Seit sie gestern aus dem Park verschwunden war, hatte ich kein Lebenszeichen von ihr bekommen.
Ging es ihr gut?
Marie Soon:
Pia?! Geht es dir gut? Wohin bist du gestern verschwunden? Melde dich bei mir!
Endlich bekam ich eine Antwort.
Pia Salega:
Ja, alles gut. Ich bin wieder zuhause. Gestern hab ich mich am Kopf gestoßen, und bin dann ins Krankenhaus gegangen. Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder. Liebe Grüße Pia!
Erleichterung überkam mich. Pia ging es auch gut! Ich musste sie morgen unbedingt besuchen gehen, um mal nach ihr zu sehen. Vielleicht könnten wir uns dann auch über etwas weniger Beschwerliches unterhalten. Sie könnte meine Dusche sein, ohne nach zwanzig Minuten einfach auszugehen.
Plötzlich wehte ein leichter Windstoß durch den Raum. Er kam von dem geöffneten Fenster neben dem Fernseher. Mir wurde unwillkürlich kalt. Ich trug eine kurze, blaue Hose und ein rotes Top, was für die Temperaturen um sechs Uhr morgens vielleicht noch etwas gewagt war.
Toll ... Ich war übermüdet, ich hatte tausend Probleme, und jetzt war mir auch noch kalt. Vielleicht sollte ich auf Luna hören, und nicht in die Schule gehen, sondern einfach in meinem Bett ein Buch lesen.
Doch da fiel mir auf, dass ich auch schon gestern die Schule geschwänzt hatte. Am zweiten Tag, an dem ich unentschuldigt fehlte, würde es bestimmt jemandem auffallen. Und ich wollte nicht unbedingt, dass meine Eltern davon Wind bekamen. Den Tag gestern würden sie mir vielleicht noch entschuldigen. Immerhin hatte ich erzählt, dass ich auf dem Schulweg gestolpert war. Aber heute würde ich absichtlich fehlen. Das würden sie mir sicher nicht durchgehen lassen.
Also stand ich auf und machte mich, trotz Lunas Bedenken, auf den Weg.
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In der Schule angekommen sah ich, dass bereits Jana auf meinem Platz saß. Als Luna mich entdeckte, sah sie mich schockiert an. Es schien fast so, als hätte sie mir gestern wirklich diese Nachricht geschickt, und als wäre sie jetzt enttäuscht darüber, dass ich nicht auf sie gehört hatte.
Ein wenig enttäuscht setzte ich mich auf Janas alten Platz. Zweite Reihe neben Mara und dem Fenster.
Noch vor zwei Tagen hätte ich mich darüber gefreut hier zu sitzen, doch die Situation hatte sich geändert, und nun hasste ich meinen neuen Sitzplatz ab der ersten Sekunde.
Na toll! Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute zu versuchen, Lunas Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Doch wie sollte ich von hier aus mit Luna ins Gespräch kommen?
Die ganze Stunde saß ich einfach auf dem Stuhl und versuchte der Lehrerin zuzuhören, die etwas über den zweiten Weltkrieg erzählte, doch ihre Stimme drang einfach nicht zu mir durch.
Entweder schwärmte meine Sitznachbarin Mara lautstark über einen Jungen - natürlich nicht mit mir, sondern mit Nele, die auf der anderen Seite neben ihr saß - , oder ich versuchte dem Gespräch zwischen Jana und Luna zu lauschen.
Naja, auch diese Unterhaltung war nicht spannender. Jana erklärte Luna nämlich nur, welcher Junge aus der Klasse den besten Körper hatte, welcher der lustigste war, und welchen man lieber nicht beachten sollte.
Oh Mann, war das oberflächlich!
Mich interessierte keiner der Jungen. Ich war bis jetzt nur einmal verliebt gewesen, und zwar in den - wie hätte es anders sein können - beliebtesten Jungen meiner Stufe, der natürlich nichts von der uncoolen Marie wissen wollte.
Man musste aber erwähnen, dass er bei dem Bio-Projekt, welches wir zusammen vorbereiten sollten, echt nett zu mir war. Ich dachte wirklich, dass er nicht so ein „Ich bin der beste"-Typ ist, aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Denn als ich ihm meine unsterbliche Liebe gestand, sagte er mir, dass er nach einem besseren Mädchen Ausschau hielt.
Wie dumm ich im Nachhinein doch gewesen bin. Peinlich und naiv. Zum Glück war das Ereignis jetzt schon so lange her, dass ich mich nicht mehr im vollen Ausmaß daran erinnern konnte.
Ich wusste wirklich nicht, was mich damals geritten hatte. Ich sprach doch sonst mit niemandem. Warum hatte ich gedacht, diesem Jungen meine Liebe zu gestehen wäre eine gute Idee?
Endlich klingelte es. Sofort zog ich mein Pausenbrot aus der Tasche.
Nach der Pause sollten wir wieder unseren Klassenlehrer haben. Vielleicht würde er mich ja wieder auf meinen alten Stuhl setzen. Ich vermutete, dass Jana nicht von alleine den Platz räumte, aber wenn ich es mir so recht überlegte, war mein Klassenlehrer da auch keine große Hilfe. Seit vorgestern hasste er mich sicher offiziell.
„Hey." Ich war wohl zu sehr in meine Gedanken versunken gewesen, und hatte Luna nicht bemerkt, die direkt vor mir stand. Die restlichen Klassenkameraden waren gerade dabei den Raum zu verlassen. „Tut mir leid wegen deinem Sitzplatz, aber Jana wollte einfach nicht gehen. Außerdem dachte ich, dass du heute nicht kommst."
„Schon okay, aber warum?" Verwirrt sah ich Luna an. Hatte sie etwa den gleichen Traum gehabt wie ich?
„Naja, du warst doch gestern nicht da. Ich dachte, vielleicht bist du noch länger krank."
Ihr Blick verriet jedoch etwas ganz anderes. Sie wirkte gerade viel zu erleichtert. Etwa so, als hätte sie verzweifelt nach einer Erklärung gesucht, und sie nun endlich gefunden. Ich beließ es dabei. Wenn sie mir etwas verraten wollte, hätte sie es freiwillig getan.
Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Irgendwie hatte ich doch das Bedürfnis, sie auf meine merkwürdigen Träume anzusprechen, doch mir viel nichts Passendes ein. Ich konnte ja nicht einfach starten mit: „Kannst du mir Nachrichten durch meine Träume schicken?" oder „Warum triffst du dich mit einem alten Mann hinter dem Busch im Park?"
„Hast du Lust, am Freitag zu mir zu kommen?" Luna hatte sich ruckartig wieder zu mir gedreht, nachdem sie minutenlang einfach vor sich hin gestarrt hatte.
Da musste ich nicht lange überlegen. Natürlich hatte ich Lust zu Luna zu gehen! Aber bis Freitag warten? Und was würden meine Eltern dazu sagen?
„Ja, warum nicht. Aber meine Eltern werden bestimmt etwas dagegen haben."
So wie die gerade drauf waren, würden sie mich nirgend wohin gehen lassen. Aber sicher würde ich einen Weg finden, aus dem Haus auszubrechen.
Viel schlimmer war es, noch zwei Tage warten zu müssen. Zwei Tage ohne die Antworten, die ich dringend brauchte. Zwei Tage, in denen ich mit meinen Problemen alleine war.
Luna kam zu der gleichen Erkenntnis wie ich. „Du kannst dich doch einfach rausschleichen."
Mein Gehirn meldete sich bei mir. Marie! Du brauchst schnell einen Grund, warum du heute schon kommen möchtest! Lass dir was einfallen!
„Möglich wäre es. Mein Zimmer liegt im ersten Stock und das Dach der Garage liegt darunter. Früher bin ich oft durch das Fenster geklettert und habe auf der Garage gespielt. Ich könnte einfach dort hinausklettern, und dann durch den Garten flüchten."
„Super, ich kann dich dort abholen, wenn du mir deine Adresse gibst."
Marie! Jetzt!
„Oh! Mir fällt gerade ein, dass wir am Wochenende meine Großeltern besuchen fahren. Ich kann nicht zufällig schon heute zu dir kommen?", log ich mit großer Überzeugung. Gut ... vielleicht klang es auch etwas nach schlechtem Schauspiel. Aber egal, ob ich gerade eine Meisterleitung gezeigt hatte oder nicht, es funktionierte.
Luna überlegte kurz und nickte dann.
„Ja, wieso nicht. Meine Eltern sind sowieso nicht da."
Juhu! Ich hatte es geschafft. Ich würde bei ihr schlafen. Aber Moment, hatte sie gerade gesagt, ihre Eltern wären nicht da?
„Deine Eltern? Ich dachte, sie wären ... tot?" Das hatte sie mir doch am Montag gesagt. Oder etwa nicht?
„Oh, ja. Ich nenne die Leute, die mich adoptiert haben schon meine Eltern. Sie sind so nett zu mir, und wünschen sich schon seit Ewigkeiten eine Tochter. Ich glaube, wie kommen so alle besser mit der neuen Situation zurecht". Trotz der eigentlich ganz positiven Nachricht zogen sich Lunas Mundwinkel nach unten. Sie dachte wohl gerade an ihre echten Eltern.
Wir waren während unseres Gespräches über den Schulhof gegangen, und standen nun vor den Sporthallen.
Während wir redeten, drehten wir uns um, und gingen wieder zurück zum Hauptgebäude, in dem unser Klassenraum lag. Sicher war die Pause gleich zu Ende. Und dabei hatte ich noch nichts von meinem leckeren Brot gegessen!
Plötzlich wurde Luna von einem Jungen angerempelt, und sie fiel zu Boden.
„Luna! Alles okay?" Oh Gott! Das sah schlimm aus!
„Ja, alles gut." Sie stemmte sich vom Boden hoch. Dann wischte sie ihre Hände an ihrer Hose ab.
Sie blutete.
Unser Schulhof war nicht wirklich gut geteert. Überall standen kleine Steine aus dem Boden heraus.
Deshalb steckten kleine Brocken in ihrem blutenden Bein.
„Du blutest", stellte ich wenig intelligent fest.
„Schon okay." Mit einem Handwinken zeigte sie mir, dass es ihr gut ging. Sie lächelte auch schon wieder.
Ihre Wunde sah jedoch schlimm aus und verriet mir etwas anderes. Die kleinen Steine hatten ihr tief ins Fleisch geschnitten und überall klebte Dreck.
„Willst du nicht zum Schulsanitäter gehen? Du siehst schlimm aus." Doch sie wischte nur den Dreck aus der Wunde.
„Du siehst auch schlimm aus", sagte sie dann lachend.
Ich gab es auf. Luna schien ganz schön stur zu sein. Eigentlich konnte ich ihr auch nichts vorwerfen. Immerhin war sie die Person mit dem blutenden Knie. Sie wusste am besten, wie schlimm ihre Verletzung war.
Laut ertönte die Klingel unserer Schule, und wir machten uns auf den Weg zurück zur Klasse. Hoffentlich konnte Luna laufen, denn wenn ich schon wieder zu spät kam, würde ich etwas zu hören bekommen.
Zu meinem Erstaunen, musste ich nicht auf Luna warten. Sie wirkte ziemlich unverletzt.
„Pünktlich, Marie", hörte ich, als ich die Klasse betrat. Mein Lehrer wirkte mehr als erstaunt. Traurig, wie er sich an diesem einen Zuspätkommen festklammerte. Anscheinend interessierte er sich nur für die negativen Dinge in Menschen. Dass ich letztes Jahr nie zu spät gekommen war, erwähnte er nicht. Am liebsten würde ich ihm an den Kopf werfen, dass ich jahrelang die erste Schülerin in der Klasse gewesen bin.
Doch natürlich tat ich es nicht. Ich bekam auch gar nicht die Möglichkeit, denn mein Lehrer fragte: „Wo warst du denn gestern?"
Mist! Daran hatte ich nicht mehr gedacht. Schnell erzählte ich ihm eine Lügengeschichte und merkte zu spät, dass ich meinen Eltern etwas anderes erzählt hatte. Hoffentlich sprachen sie nie mit meinem Lehrer darüber.
„Mir wurde auf dem Hinweg schlecht, und ich habe mich kurz vor dem Park übergeben. Dann bin ich lieber wieder zurück nach Hause gegangen."
Hoffentlich kaufte er mir das ab.
„Na gut. Dann hätte ich aber noch gerne eine schriftliche Entschuldigung von deinen Eltern."
Während er das sagte, notierte er etwas im Klassenbuch.
„Klar." Ich wollte gerade zurück zu meinem Platz gehen, da fiel mir die Sache mit Jana wieder ein.
„Entschuldigen sie. In Geschichte hatte sich Jana einfach auf meinen Platz gesetzt, ich wollte aber eigentlich gerne dort sitzen."
Jetzt sah er nicht mehr so entspannt aus. Genervt schmiss er den Stift auf den Tisch und blickte mir tief in die Augen.
„Hör mir ganz genau zu, Marie Soon. Am ersten Schultag kommst du zu spät, am zweiten gar nicht und jetzt erwartest du, dass ich deinem Wunsch nachgehe? Wenn du willst, setzt dich wieder auf den Platz, aber erwarte nicht, dass ich dir helfe, falls Jana Threl sich darüber beschwert. Außerdem muss ich dich daran erinnern, dass du am ersten Schultag zu mir kamst, und um einen neunen Platz gebeten hast. Jetzt bist du mit dem neuen Platz nicht zufrieden. Dir kann man es wirklich nie recht machen."
Dann nahm er den Stift und machte weiter Notizen im Klassenbuch.
Fragend sah ich Luna an, die nur mit den Schultern zuckte. Also nahmen wir Janas Schultasche und legten sie auf ihren alten Stuhl. Meinen Ranzen nahm ich schnell zu mir.
Bei jeder anderen Person hätte ich diesen Platztausch wohl kindisch gefunden, aber nicht bei mir. Ich hatte einen guten Grund, und dafür musste ich alles in Kauf nehmen.
Sogar die Beleidigungen, die ich wenig später von Jana an den Kopf geworfen bekam.
„Sag mal spinnst du? Das ist mein Platz! Luna wollte neben MIR sitzen!"
Ich ging gar nicht näher darauf ein. Mir war es egal, ob mich Jana jetzt hasste oder nicht.
Luna hatte wohl auch keine Lust zu diskutieren, denn auch sie ging nicht auf Janas Bemerkungen ein.
Als die Stunde begann und sich Jana endlich von mir entfernt hatte, sah ich mir noch einmal Lunas Bein an. Ich hatte Angst, dass sich die Wunde entzündete, denn Luna konnte jetzt nicht krank werden. Ich wollte doch bei ihr übernachten!
Was ich nun an Linas Knie sah, ließ meine Augen groß werden. Ich versicherte mich, dass es das richtige Bein war und blinzelte ein paar Mal. Doch was ich sah, war keine Illusion.
Die Wunde war verheilt.
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Hey! Vielen Dank für die 100 Aufrufe und auch für die ganzen Kommentare und Votes!
Ich bin sicher, ihr habt auch nach diesem Kapitel viele Fragen. Bis zu den Antworten dauert es jetzt nicht mehr lange, Marie scheint sich sicher zu sein, dass Luna sie ihr bei der Übernachtung geben wird.
Was glaubt ihr? Kann Luna helfen oder kommt noch etwas dazwischen?
Liebe Grüße!
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