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Eine halbe Stunde später erschien ich pünktlich zum Essen. Jesper hatte Nudeln mit Tomatensoße gekocht. Kein sonderlich einfallsreiches Gericht, dafür aber umso leckerer.
Wahrscheinlich hatte ich ihm in einer meiner Nachrichten mal erzählt, dass es mein Lieblingsessen war.
Während Jesper erklärte, was morgen auf mich zukommen würde, schlang ich gierig mein Essen hinunter.
Ich war heute morgen aus einem Impuls heraus aufgebrochen und hatte mich deshalb nicht darum gekümmert, Essen einzupacken.
„Ich weiß, dass du mir noch immer nicht vertraust", erklärte der junge Bändiger gerade. Er saß mir am Tisch gegenüber und hatte ebenfalls eine dampfende Portion Nudeln vor sich stehen. „Deshalb werde ich dir morgen erst einmal allein ein paar wichtige Plätze zeigen. Am Nachmittag müssen wir uns dann aber mit dem Widerstand treffen. Meine Verbündete wollen dich unbedingt kennenlernen."
Wie in seinen Nachrichten geschrieben, unterstützen Jesper und einige andere die Ansichten der Bändiger nicht. Statt Sonne und Mond einfach zu vernichten, um als alleinige Herrscher über die Welt regieren zu können, wollten diese lieber mit den Natesim zusammenarbeiten und Sanna und Mano aus Sonne und Mond befreien. Dafür wollten sie aber ihre Anerkennung zurück, sodass sie nicht mehr im Untergrund leben mussten. Die normalen Menschen sollten sie schätzen und akzeptieren, damit sie nicht in Hass und Angst leben mussten.
Während Jesper dies wiederholte, verlor ich mich in seinen braunen Augen. Es war Monate her, dass ich für längere Zeit in eine andere Augenfarbe als gelb oder schwarz geblickt hatte. Bis eben war mir gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich es vermisst hatte, ein erdiges Braun zu sehen. Es strahlte so viel mehr Wärme und Natürlichkeit aus als die Augen der Natesim.
Um mich von Jesper abzulenken, wickelte ich Spagetti um meine Gabel und musterte dabei intensiv die Nudeln. Ich war wirklich viel zu leicht um den Finger zu wickeln.
Die Sachen, die mir Jesper gerade erzählte, klangen zu gut, um wahr zu sein. Würden wir wirklich Unterstützung von den Bändigern bekommen, so wie er es mir gerade versprach, könnten wir einen mächtigen Schachzug vollführen.
Denn sobald die Natesim aus den Reichen auf die Erde kommen würden, um Sanna und Mano zu befreien, würden die restlichen Bändiger uns attackieren. Denn sie waren immer noch der festen Überzeugung, die Welt würde gerettet werden, indem sie die Natesim, Sonne und Mond einfach auslöschten.
Wenn sie Widerstand aus den eigenen Reihen bekamen, würde sie das für eine Zeit lahmlegen.
„Was ist los?", fragte Jesper plötzlich. Anscheinend hatte er mit seiner Erzählung geendet und statt ihm zuzuhören, war ich zu vertieft in seine Augen gewesen. Denn ohne, dass ich es gewollt hatte, war mein Blick wieder dorthin gewandert. Peinlich!
Vor allem, weil ich diejenige war, die vor meiner Ankunft hier angekündigt hatte, das zwischen uns nichts laufen würde. Wir spürten zwar beide die Anziehung zwischen uns, doch solange ich ihm nicht vollends trauen konnte, würde ich mich nicht auf ihn einlassen. Er hatte mein Herz schon einmal fast gebrochen. Wenn ich ihm jetzt verfallen würde, dann richtig.
„Ich bin zu müde, um mich noch zu konzentrieren", gestand ich, obwohl das nur die halbe Wahrheit war. „Ich glaube, ich gehe lieber ins Bett."
„Kein Problem. Schlaf gut." Jesper schenkte mir ein ehrliches Lächeln. „Ich klopfe morgen an die Kellertür, wenn du aufstehen sollst."
Nickend wünschte ich ihm eine gute Nacht und verließ das Zimmer. Sehen konnte ich ihn zwar nicht mehr, doch in meinem Kopf erschienen immer wieder die wunderschönen, braunen Augen, die mich heute so intensiv gemustert hatten.
Als ich kurze Zeit später im Bett lag, konnte ich nicht schlafen. Je länger die Minute zurücklag, in welcher ich das Nachtreich verlassen hatte, desto hartnäckiger wurden die Energien, die versuchten, in meinen Körper einzudringen.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Natürlich war es riskant, die Schutzwand jetzt nach unten zu fahren, doch viel länger würde ich dem Druck ohnehin nicht standhalten.
„Pia!", schrie Marie in der Sekunde, in welcher sich unsere Seelen verbunden hatten.
„Hi", grüßte ich schuldbewusst.
Immer mehr Natesim schalteten sich dazu und ich sah, wie sie alle in meinem Kopf auftauchten.
Ich wollte kein Risiko eingehen und hielt meine Augen deshalb geschlossen. Ich war zwar in einem dunklen Kellerraum, aber man konnte nie wissen. Vielleicht würde irgendein Geologie-Experte daraus trotzdem Schlüsse ziehen können, wo ich mich befand.
Außerdem konzentrierte ich mich mit aller Kraft darauf, dass niemand mit der Fähigkeit der Seelenkontrolle versuchte, meinen Geist zu übernehmen.
„Pia, komm sofort nach Hause!", sagte Saphira gerade verzweifelt. Frau Soon – meine Mutter – war den Tränen nahe. Ach, dass ich gegangen war, schien sie plötzlich zu interessieren. Dabei war ihr alles andere von mir ziemlich egal.
Ich schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Ich bin den Antworten zu nahe."
„Wir können dein Leben nicht riskieren." Luna schien wütend als sie mich mit stechendem Blick musterte. Ihre schwarzen Augen waren zu Schlitzen verengt. „Wir brauchen dich!"
„Ich weiß Leute und es tut mir auch sehr leid. Aber ich glaube, ohne die Hilfe der Feuerbändiger werden wir diesen Krieg nicht gewinnen. Gebt mir eine Woche und dann bin ich wieder bei euch."
„Eine Woche?" Moritz Soon – mein Vater - hatte die Hände zu Fäusten geballt. „Da kann sonst was mit dir passieren. Auf keinen Fall. Komm sofort zurück!"
Ich spürte, wie ebenfalls Wut in mir aufkochte. Glaubten meine Eltern wirklich, ich würde auf sie hören, obwohl sie mir nicht einmal die Wahrheit über meine Geburt sagen konnten? Wie jedes Mal, wenn wir stritten, konnte ich diese Karte spielen und sie waren ganz schnell leise.
Ich grinste. So gefielen sie mir gleich viel besser.
Da ich hoffte, dass die Fragen zu meiner Präsenz jetzt geklärt waren, beendete ich das Gespräch mit den Worten: „Ich bin wirklich zu müde, um ich mit euch zu streiten. Freut euch doch einfach, dass es mir gut geht. Ich werde mich morgen um die gleiche Zeit wieder melden, und euch Bericht erstatten. Bis dahin hört ihr hoffentlich auf damit, dauernd eure Seelen mit mir verbinden zu wollen. Denn das nervt!"
Ohne auf die Antwort der Natesim zu warten, hatte ich sie auch schon wieder aus meinem Kopf entfernt. Zu viel über das Gesagte nachzudenken, würde mir nicht guttun. Stattdessen sollte ich mich lieber darauf konzentrieren, was morgen anstand.
Jesper würde mir die Feuerstadt zeigen und hoffentlich ein paar Antworten liefern. Darauf freute ich mich sehr.
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Am Morgen öffnete ich die Augen, da mich ein leises Klopfen an der Tür geweckt hatte. Ich hatte leider keine Uhr dabei und mein Handy hatte ich ausgeschaltet, damit keiner versuchen konnte, mich auf diesem Weg zu erreichen, deshalb wusste ich nicht, wie viel Uhr es war. Doch es fühlte sich so an, als hätte ich gar nicht geschlafen. Nach dem Gespräch mit den Natesim hatte ich noch lange wachgelegen, und über alles gegrübelt, was mir so eingefallen war. Die ganzen Lügen und Geheimnisse, die sich jahrelang um mich herum aufgebaut hatten, begannen langsam zu bröckeln und ich musste die ganzen Informationen erst einmal verarbeiten.
Nach einem Frühstück, welches ich schlaftrunken und halbherzig verschlungen hatte – ich war noch nie ein Morgenmensch gewesen – händigte Jesper mir ein kleines Schälchen aus.
„Was ist das?", fragte ich verwirrt.
„Braune Kontaktlinsen. Damit die Chance, dass du erkannt wirst, verringert wird."
„Verstehe." Das war eine gute Idee. Die meisten Feuerbändiger wussten zwar trotzdem, wie ich aussah, aber mit einer Verkleidung und der veränderten Augenfarbe würde ich vielleicht nicht so auffallen.
Neben den Kontaktlinsen händigte mir Jesper noch eine rote Perücke und ein Outfit aus, was ich so niemals gewählt hätte. Ein enganliegender, orangener Jumpsuit. Jesper erklärte mir, dass er aus einem feuerfesten Material bestand, welches meine Organe vor einem möglichen Angriff schützen würde.
„Alles klar." Ich zog mich um, setzte die Perücke auf und die Kontaktlinsen ein. Das hatte mich einige Anläufe gekostet. Da ich keine Brille trug, fühlte es sich merkwürdig an, plötzlich Fremdkörper in seinen Augen zu spüren.
„Das geht weg", versprach mir Jesper und erläuterte, dass er ebenfalls Kontaktlinsen trug. Seine waren aber natürlich mit Sehstärke.
Jetzt wollte ich ihn unbedingt mal mit Brille sehen!
„Die zeige ich dir, wenn wir zurück sind. Aber jetzt komm erst mal mit."
Ich folgte Jesper aus dem Haus. Wir liefen einen spiralförmigen Weg nach unten, bevor wir am Höhlenboden ankamen und dort die Straße entlangliefen.
Das Kopfsteinpflaster war uneben und alt und ich fühlte mich unwohl. Die Bänder, an denen wir vorbeikamen, grüßten Jesper freundlich und bekundeten ihr Mitleid in Bezug auf seinem Vater. Mich musterten sie mit gespannten Blicken, doch keiner fragte nach, wer ich war. Zu unserem Glück, denn eine gute Lüge hatten wir nicht parat.
Ich könnte mich nur als seine Freundin ausgeben, die er bei einem Ausflug an die Oberfläche kennengelernt hatte.
Jesper hatte mir bereits davon erzählt, dass sie mit der Geheimhaltung ihrer Identitäten anders umgingen als die Natesim.
Es wurden mehr Menschen eingeweiht, dafür wurde, wenn diese das Geheimnis um die Feuerbändiger und die Natesim verrieten, kurzer Prozess mit ihnen gemacht.
Ein kleiner Schauer lief mir über die Arme, als ich daran dachte.
Ich hoffte, dass es Jesper klar war, dass ich dieses Versprachen brach. Ich weihte die Natesim in alles ein, was wir hier zusammen unternahmen. Doch das war ja auch der Sinn hinter meinem Ausflug.
Sicher würde er mich dafür nicht töten lassen. Oder?
Immer wieder waren meine Gedanken in den letzten Stunden jetzt schon zu seinem Verrat gewandert. Wenn mein Gehirn so überzeugt davon war, dass er mich am Ende im Stich lassen würde, warum ging ich dann mit ihm mit? Sollte ich nicht auf mein Gefühl vertrauen?
„Wir sind gleich da", versicherte Jesper mir, als wir schon einige Minuten gelaufen waren. Er lotste mich zu einer Tür, die unscheinbar in den Sandstein eingelassen war.
Wir quetschten uns durch den engen Eingang und liefen einen Gang nach unten, der nur mit kleinen immer brennenden Fackeln beleuchtet war.
Kurze Zeit später verwandelte sich der Gang in eine große Wendeltreppe und als ich mich über die Brüstung beugte, konnte ich den Boden nicht sehen.
Wie weit mussten wir denn noch nach unten wandern?
„Ich kann die Treppe zwar gern mit dir nach unten gehen, aber ich weiß nicht, ob ich hier wieder hochkomme", sagte ich zu Jesper und wusste noch nicht, ob es ein Scherz war.
Wirklich sportlich war ich nicht, auch wenn ich in den letzten Wochen, in denen Marie und ich auch im Kampf trainiert wurden, einiges an Muskeln aufgebaut hatte.
„Auf dem Rückweg können wir den Aufzug benutzen", erklärte mir Jesper.
Ich sah ihn verständnislos an. „Wenn es einen Aufzug gibt, warum laufen wir dann runter?"
„Weil er nur in eine Richtung funktioniert. Ich werde uns mit meinem Feuer nach oben boosten."
„Verstehe." Missmutig blickte ich auf die Treppen unter mir. Ich hatte wohl keine andere Wahl, als über die steinigen Stufen nach unten zu laufen. Wie lange das wohl dauern würde?
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Mit Sicherheit waren wir ganze vier Stunden lang Treppen nach unten gelaufen. Ich trug zwar keine Uhr bei mir und Jesper hatte mir mehrfach versichert, dass der Weg nicht länger als eine halbe Stunde Gehzeit gedauert hatte, doch das konnte ich nicht akzeptieren. Es hatte sich länger angefühlt. Viiieeeellll länger.
Ich brauchte ein paar Minuten zum Verschnaufen. Während ich es mir auf der letzten Treppenstufe gemütlich gemacht hatte, stand Jesper mit verschränkten Armen vor mir. Ihm schien der lange Weg nichts ausgemacht zu haben.
Sein Training war wohl sehr viel ausgewogener als meins.
„Machst du das öfters?", fragte ich keuchend.
„Momentan nicht. Bevor ich nach Warschau gezogen bin, war ich aber jeden Tag hier."
„Warum? Was ist hier Tolles, für das sich der Weg lohnen würde."
Jespers belustigtes Lächeln verschwand. Anscheinend war das, was sich hier unten befand, eher besorgniserregend. „Wirst du gleich sehen", antwortete er knapp.
Ein paar Minuten gab er mir noch zum Verschnaufen, doch dann gingen wir weiter. Auch nach der Wendeltreppe zog sich der Weg weiter ins Erdreich hinab, wenn auch nicht mehr so steil.
Außerdem tauchte bald eine alte Eisentür vor uns auf. Jesper kramte einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und schloss auf.
Langsam wurde ich nervös. Was würde mich hier unten erwarten? War das alles nur ein Trick? Würde mich Jesper gleich in den geöffneten Raum stoßen und die Tür abschließen? Dann säße ich in einem ähnlichen Gefängnis wie sein Vater bei uns im Nachtreich.
Bei diesen Gedanken beschleunigte sich mein Herzschlag. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, hinter dem Feuerbändiger in eine unterirdische Festung zu steigen? Sicher würde er ...
„Kommst du Pia?" Jesper war bereits durch die Tür getreten und hielt mir seine Hand hin.
Ich seufzte. Gut, vielleicht wollte er mich auch nicht hinter diesem Stück Eisen einsperren.
Dankend nahm ich seine Hand und da ich mich nun mehr auf das Hier und Jetzt konzentrierte, nahm ich die Temperaturänderung wahr.
Es wurde heißer. Viel heißer.
Was war hier unten?
Lava?
Wir kamen an einigen Harken vorbei, an welchen man seine Jacken aufhängen konnnte. Sie waren in Augenhöhe an der kahlen Höhlenwand befestig. Sofort entledigte ich mich meines dicken Regencapes. Auch Jesper schälte sich aus seinem Mantel.
„Was passiert hier?", flüsterte ich leise. Die nächsten Höhlengänge, durch die wir gingen, waren breiter und heller als der Abschnitt mit der Wendeltreppe.
Ich spürte etwas Organisches vibrieren. Als würden sich die Wände und der Boden zum Klang einem schlagenden Herzen bewegen. War es ein riesiges Tier? Doch das würde die Hitze nicht erklären. Vielleicht doch ein lavaähnlicher Fluss? Aber was wollten wir bei ihm?
„Du musst ganz vorsichtig sein", erklärte mir Jesper. „Pass auf, dass dir nichts auf den Kopf fällt."
„Wieso sollte ..."
„Erkläre ich dir gleich."
Mit klopfenden Herzen folgte ich meinem Verbündeten um die letzte Biegung. Die Hitze stieg weiter an und am liebsten hätte ich mich auch aus dem Rest meiner Klamotten geschält. Schweißperlen liefen mein Gesicht herab und immer wieder fuhr ich mir über die Stirn.
Das Vibrieren fuhr durch meine Knochen und kitzelte die Energie aus mir heraus. In kleinen Sternen tanzten meine Kräfte um mich herum.
Außerdem wurde es hell – so hell, dass ich die Sache, die Jesper mir zeigen wollte, am Anfang gar nicht sah.
Doch als meine Augen es endlich in den Blick nahmen, stockte mir der Atem.
Was war DAS?
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