Namenlos
Das dünne Papier der Zeitung knisterte in meinen Händen als ich zielstrebig nach der richtigen Seite blätterte. Die großen Schlagzeilen interessierten mich nicht im Geringsten. Meine dürren Finger fummelten eine Seite nach der anderen auseinander.
Eine mir bereits bekannte Ungeduld machte sich in mir bemerkbar. Jedesmal, wenn ich so die Zeitungen durchblätterte, wurden meine Finger klamm und zitterten. Nervös rutschte ich auf dem unbequemen Plastikstuhl herum.
Er hatte die Form und Farbe eines typisches Stuhls, den man in Wartezimmern von Zahnarztpraxen fand. Auch das Ambiente um mich herum erinnerte sehr an einen Zahnarzt: Ein schlichtes Wartezimmer, nur bestückt mit einigen dieser Stühle und einer Vitrine, in der man selbstgeschriebene Fachliteratur des Zahnarztes bewundern konnte.
Doch diese Fachliteratur beschäftigte sich nicht mit Zähnen oder dem Kiefer, auf dem Cover von fast allen Büchern konnte man eine Wirbelsäule erkennen. Auch erinnerte die Luft nicht an Zahnpasta, sondern eher an starkes Putzmittel zusammen mit Desinfektionsmittel. Meine Nase kribbelte immer noch jedesmal gereizt unter dem strengen Krankenhausgeruch. Wie ein Fluch verfolgte mich dieser penetrante Gestank. Selbst im Schlaf oder zu Hause ließ er mich nicht los, erst recht nicht hier, in meinem sogenannten zweiten Zuhause. Selbst diese Fachliteratur hatte ich bereits schon gelesen in den vielen Stunden, die ich hier gewesen war, wartend auf den Verfasser dieser Werke oder an einem Tropf hängend. So ein Buch war viel spannender als eines der Romantik oder sonst etwas.
Endlich hatten meine Finger auch noch die letzte Seite der Zeitung umgeschlagen und gaben den Blick auf die Horoskope frei. Wie immer durchzuckte mich Freude zusammen mit Trauer. Freude, endlich lesen zu können, wie ich handeln sollte und Trauer, über die Ungewissheit, welcher der Horoskope für mich bestimmt war.
Das war der zweite Fluch, der seit vielen Jahren, eigentlich schon seit immer, auf mir lastete. Seitdem meine Mutter, oder wer auch immer, mich vor der Tür eines Kinderheimes abgelegt hatte, war mein Name, mein Geburtstag, meine Herkunft, meine Familie und alles andere, was normale Menschen hatten, verloren. Mein Name wurde seit jeher durch Nina ersetzt. Meinen Geburtstag feierte man an dem Tag, an dem ich gefunden wurde, völlig unterkühlt, nur in eine Decke gewickelt. Meine Haut war bereits leicht blau angelaufen dank des heftigen Schneesturm. Meine Herkunft war weitestgehend unbekannt. Meine etwas dunklere Haut ließ eher auf südliche Länder hindeuten, aber da niemand wusste, wer meine Familie war und von wem ich möglicherweise diese Hautfarbe geerbt haben könnte, war auch dies ungewiss.
Seufzend sah ich vor mich auf die Liste der Sternzeichen zusammen mit den Horoskopen. Ich entschied jedesmal spontan, welchen Horoskop ich heute lesen würde. Meine Wahl fiel auf den Zwilling. Der Gedanke, es gäbe vielleicht noch eine Person auf dieser Welt, die mein Spiegelbild sein könnte, gab mir Kraft. Erwartungsvoll begann ich zu lesen:
Heute, vor allem in der zweiten Tageshälfte, kann Sie eine Stimmung oder Situation tief aufwühlen. Es gelingt Ihnen kaum, sachlich und unbeteiligt zu bleiben. Sie müssen sich persönlich einlassen und sich Ihren eigenen Gefühlen und eventuell auch Ihren Ängsten stellen. Sehen Sie es positiv, so gewinnen Sie neue Einsichten.
Mein Blick fiel auf die Uhr, die über dem Türrahmen hinaus auf den Gang hing: Es war bereits kurz vor zwei. Jetzt schon wurde mir schlecht durch diese eine Angst, die mich schon mein ganzes Dasein begleitete.
„Nina, kommst du?", rief mich die Krankenschwester auf, für meinen Geschmack schon längst viel zu vertraut. Dennoch stand ich auf und schleppte mich aus dem Wartezimmer, hinaus auf den Gang, wo auch schon Frida, eine schlanke, kleine Frau in Krankenschwesternoutfit, auf mich wartete und mir ein nettes Lächeln schenkte. Ich schluckte und trat in das mir ebenfalls zu bekannte Zimmer. Die Angst lähmte meine sonst auftretende Nervosität, packte mich in Watte.
Die Untersuchung hatte ich schon gestern hinter mich gebracht, heute hatte mein Arzt, Doktor Winter, meine Ergebnisse bereit. Winter, der auch die Fachliteratur in der Vitrine verfasst hatte, sah mir tief in die Augen, bevor er begann mir das Ergebnis zu verkünden:
„So, Nina", setzte der Chefarzt schon viel zu zögerlich an. Unruhig nestelten seine Finger an seinem Stethoskop. „Die letzte Chemo war leider nicht sehr erfolgreich", druckste er herum.
„Also gar nicht", berichtigte ich ihn mit müder Stimme.
„Nein, also ja, gar nicht", gab er zu. Es war nicht das erste Mal, dass ich hier saß, zitternd vor Angst und doch Doktor Winter ruhig in die Augen blickend. „Wir brauchen wirklich bald eine Knochenmarkstranplantation, sonst können wir deine Leukämie nicht im Griff behalten."
Die Übelkeit, ausgelöst von der Angst, nahm noch einmal an Intensität zu, dann entlud sie sich in einem Schälchen, welches mir Frida noch im letzten Augenblick hinhielt.
Nach Luft schnappend löste ich mich von ihr, die meinen zitterigen, dünnen Körper gestützt hatte. Wieder wusste ich nicht, ob meine Angst mein Frühstück verdrängt hatte, oder ob es die Chemo gewesen war.
„Es tut mir leid, Nina." Winter nahm meine Hand und tätschelte sie kurz. Ich nickte nur benommen. Er benahm sich fast so, als stünde ich kurz vor dem Tod. Dabei kämpfte ich jetzt schon seit vielen Jahren gegen diesen scheiß Krebs und er hatte mir nicht zum ersten Mal gesagt, ich bräuchte einen Knochenmarkspender.
„Es ist leider sehr unwahrscheinlich, dass wir erneut einen Spender für dich finden, da deine letzte Spende nicht wirklich etwas gebracht hat. Du stehst zwar auf der Liste, aber nicht wieder ganz oben", erklärte Frida, was ich alles längst wusste, es nur nicht wahr haben wollte. Und das war mein dritter Fluch; krank zu sein, schon ein Leben lang. Nicht ein einziges Mal war ich im Aqualand gewesen, wo ich schon immer mal hin wollte. Winter hatte es mir verboten, befürchtete meine Kräfte könnten nicht zum Schwimmen reichen. Aber Chemo konnte er mir ständig verabreichen! Tolle Logik!
„Ist gut", murmelte ich und wollte aufstehen, doch Winter hielt mich mit einer Hand auf meiner Schulter davon ab.
„Ist es nicht, Nina. Du kannst nicht davonrennen, nichts diesmal. Lass uns dir helfen!", sprach er eindringlich auf mich ein. Ich schüttelte nur heftig den Kopf, schlug seine Hand weg und sprang auf. Ein Wunder, dass meine Beine mich hielten und sogar aus dem Zimmer trugen. Ich rannte los, Hauptsache hinaus aus dem Krankenhaus.
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-1019 Wörter-
Der letzte Oneshot für den Wettbewerb zu den Wörtern Tod, Krankenhaus, Drama/Romantik und Trauer!
Das Horoskop ist von gala.de für den 13.10.21.
Danke, dass ich mitmachen durfte <3
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