Kapitel 44
»Du hast schon früher ewig gebraucht, um dich anzuziehen. Warum ist mir das damals nicht aufgefallen?« Ralf saß in dem Sessel vor Marius' Bett und dieser wühlte in seinem Rucksack herum.
»Das ist Quatsch. Ich hab immer das Erstbeste angezogen. Ich hatte nur wenig Zeug und das war cool. Da musste ich nicht lange überlegen. Ich glaub, ich hab nur einmal länger gebraucht ...«, der junge Mann hob den Kopf und knurrte. »Ja ... damals wollte ich gut aussehen. Wegen Daniel ...«, Marius brummte. »Und das war die Nacht, in der ich ihm zu allem Übel auch noch gesagt habe, dass ich auf ihn stehe. Ich Idiot ...« Zufrieden glättete der dunkelblonde Mann das schlichte schwarze T-Shirt. Zusammen mit seiner Jeans und dem leichten Sakko würde er vernünftig aussehen. Ihm war wichtig, dass die Bewohner Lengwedes ihn als einen Erwachsenen erkannten und nicht den frechen und entarteten Sohn des ewig unleidigen Heinrichs in ihm sahen. Marius war ein Mann aus der Stadt und das wollte er auch ausstrahlen.
»Das war echt ein abwechslungsreicher Sommer damals ...«, Ralf nickte leicht vor sich hin. Danach war es nie wieder so wie zuvor.
»Wie auch immer. Kann ich so gehen?«
»Ich hab mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass du jetzt eine Brille trägst«, kicherte Ralf und sein Gegenüber putzte die besagte Sehhilfe mit einem bunten Microfasertuch.
»Computerarbeit bringt das mit sich. Ich kann auch ohne, aber gerade Arbeit und Autofahren ...«, Marius zuckte die Schultern und setzte die Brille wieder auf.
»Außerdem biste ja fast dreißig, nicht wahr? Alter Mann, der du bist.«
»Du bist älter als ich!«
»Und trage keine Brille!«
Der Dunkelblonde murrte leise und lachte dann. »Stimmt. Also lass' uns langsam loswandern. Gott, wie man hier überall zu Fuß hingeht. Zuhause brauch ich für alles die U-Bahn.«
Die beiden jungen Männer verließen die Pension und wanderten gemütlich die Straßen entlang. Ursprünglich hatte Marius vorgehabt, seine Mutter zu fragen, ob sie ihn begleiten wollte, doch er war schon am Telefon gescheitert, weil Heinrich den Anruf entgegengenommen hatte. Der hatte seinem Sohn unmissverständlich - und unter der Verwendung unglaublich blumiger Adjektive - deutlich gemacht, dass weder Angelika noch er selbst mit Marius gesehen werden wollten, solange er die Luft in Lengwede noch verpestete.
Der junge Mann hatte sein Handy zwanzig Zentimeter vom Ohr entfernt halten können und jedes Wort verstanden, bevor sein Vater mit einer letzten unflätigen Beleidigung aufgelegt hatte.
Natürlich glaubte Marius seinem Alten kein Wort, dass seine Mutter ihn nicht sehen wollte. Im Gegensatz zu Heinrich war Angelika an einer Versöhnung gelegen und sie konnte, auch wenn sie es nicht guthieß, darüber hinweg sehen, dass ihr Sohn nicht normal war. Sie wollte ihn nur wiederhaben. Doch solange der Alte lebte, würde er das verhindern. Das wusste Marius. Wenn seine Mutter nicht für sich selbst eintrat und sich zur Abwechslung einmal nahm, was sie sich wünschte, dann würden sie weiterhin getrennte Wege gehen. Bis zur nächsten Beisetzung.
»Also deine Eltern kommen nicht?« Ralf hatte die Hände in den Taschen seiner Jeansbermuda und kaute auf einem Zahnstocher herum, den er aus der Pension hatte mitgehen lassen.
»Natürlich kommen sie. Mein Alter lässt sich den Bierwagen nicht entgegen. Und meine Mutter schleppt er mit, denn einer muss ihn nach Hause schaffen, wenn er heute Abend stinkevoll ist. Und so lange wird sie irgendwo auf einer Bank sitzen und warten.«
»Na, da können wir ja Gesellschaft leisten. Allein essen macht dick.« Der Bäcker kicherte. »Meine Eltern müssen ja arbeiten. Obwohl sie rumkommen wollten, wenn sie es heute Abend zeitiger schaffen. Vom Essen wird dann nicht mehr so viel da sein.«
Marius seufzte. »Wer weiß, ob ich überhaupt bis zum Abend dableibe. Eigentlich ist mir gar nicht nach feiern und all diesem Trubel. Ich hab erst meine Oma unter die Erde gebracht. Ich geh' nur mit, weil ich eben schon mal hier bin und um der alten Zeiten willen ...«
»Also meinetwegen«, Ralf lachte sein wieherndes Lachen und der Dunkelblonde schmunzelte.
»Ja.«
»Dass du Heinemännchen ein bisschen begaffern willst, spielt dabei keine Rolle.«
Marius zuckte leicht. Er hatte seinem Freund nichts von dem Treffen in der Nacht zuvor erzählt. Der würde ihn für verrückt halten, wenn er wüsste, dass sein bester Kumpel Daniel am liebsten zurückhaben wollen würde.
Ralf würde ihm das auch straight ins Gesicht sagen. Ohne ihn zu verurteilen oder ihm die Sache ausreden zu wollen. Ralf hatte, ganz ähnlich wie Hannelore, schon lange gemerkt, dass Marius bei Typen nur Nieten zog und nichts lange halten konnte. Weil sein Kopf dafür gar nicht frei war.
Obwohl der Bäckermeister nicht nachvollziehen konnte, was seinen besten Freund so an Daniel band, wollte er, dass Marius endlich seinen Frieden fand. Und vielleicht stimmte es sogar, dass der Dunkelblonde das gefunden hatte, wovon so viele ihr Leben lang träumten: Diese eine große Liebe.
Wenn dem so war, fand Ralf, sollte Marius die Arschbacken zusammenkneifen und Daniel seiner Prinzessin wegnehmen. Denn das der wirkte wie ein Zombie, konnte jeder sehen, der genau hinsah. Wirklich glücklich sah Daniel eigentlich nur dann aus, wenn er mit seinem Hund unterwegs war.
Marius räusperte sich verlegen: »Ein bisschen Gucken ist ja nicht illegal.«
»Egal, was damals war?«
»Das wird nie egal sein. Aber ich bin nur noch bis Dienstag hier, also who cares. Ich hol' mir ein bisschen Appetit für die bitteren Stunden der Nacht«, seufzte Marius theatralisch und lachte dann.
»Hat er denn mal versucht, sich zu entschuldigen?«
»Hmm ... wann denn. Unter den Argusaugen des alten Fritz? Der ist noch unheimlicher und aufgeblasener geworden als damals. Was soll der Bart? Und der hat ganz schön zugelegt. Sieht ungesund aus.«
Ralf zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ne Weile schon. Früher war er schlanker, hast Recht. Aber im Alter bekommen solche Männer halt ne Wampe. Schau deinen Alten an.«
»Der war schon immer so.«
»Dann haben wir noch zwanzig Jahre, bevor das bei uns auch los geht.«
»Vergiss es! Nicht mit mir!« Marius schnaubte.
Die beiden gelangten unbehelligt zum Festplatz beim Jugendclub. Der Dunkelblonde schmunzelte leicht, weil alles noch so aussah wie früher. Selbst die uralten Schaukeln standen noch, sahen aber instandgesetzt aus. Eine Handvoll kleinerer Kinder zankte sich, wer als nächster drauf durfte.
»Mann, ist das ein Deja Vu.«
Den Pavillon, der zu Marius' Teenagerzeit genutzt worden war, hatte man durch einen etwas größeren ersetzt, in dem es wahrscheinlich weniger heiß wurde, doch alles andere sah genauso aus wie früher. Rosenthals Bierwagen leuchtete blutrot in der Vorabendsonne und bereits jetzt warteten Leute darauf, an ihren Teil des Freibiers heranzukommen. Der Duft des Buffets lag über dem Platz und die üblichen Verdächtigen, ob Lengweder Prominenz oder Bodensatz, hatte sich bereits eingefunden und suchte nach einem Plätzchen zum Sitzen, möglichst nicht in der prallen Sonne.
Es war bereits 17 Uhr, aber noch immer ziemlich warm.
»Also ... wir sind ja jetzt erwachsen ... also ...«
»... sitzen wir auf dem Boden der Terrasse. Wie immer.«
»Gut«, Ralf lachte, »ich dachte schon, dein Stadtleben hätte dich verweichlicht.«
Der Bäckermeister ging voran, um für sie beide was Kühles zu trinken zu besorgen, während Marius etwas unschlüssig stehen blieb und sich weiter umsah.
Damals hatte die Gemeinde nur ein einfaches Kettenkarussell springen lassen, heute gab es außerdem eine bunte Hüpfburg für die Kinder. Doch diese nutzen das Spielzeug eher zaghaft, denn es stand in der Sonne und man konnte den Gummigeruch deutlich riechen. Das ganze Gebilde musste knallheiß sein. Sobald der Abend angebrochen war und es kühler wurde, würde es sicher der Renner sein.
Der junge Mann lächelte. Er hatte Hüpfburgen als Kind auch geliebt und fragte sich heute, wie er und seine Freunde es damals geschafft hatten, in solchen Dingern zu spielen und zu toben trotz der Sommerhitze drumherum, ohne sich totzuschwitzen. Kinder hatten es so gut. Er wusste ganz genau, hätte es damals, als sie Teenager gewesen waren, schon Burgen beim Heimatfest gegeben, sie wären ebenso wie die Kleinen da drin gewesen.
Es berührte ihn merkwürdig, die verstohlenen Blicke der Leute zu sehen, die ihn noch von früher kannten. Er wusste von jedem Einzelnen, wie derjenige hieß und damals, als er noch nicht der Aussätzige in Lengwede gewesen war, hatten ihn die meisten freundlich gegrüßt. Sie hatten besser von Marius gedacht als von dessen jähzornigen Vater und seiner merkwürdigen und introvertierten Mutter, die kaum mal jemand zu Gesicht bekommen hatte.
Doch das gehörte zur Vergangenheit, wie alles andere, was sein Leben hier anging. Die Dorfbewohner musterten ihn wie einen seltenen Vogel, schürzten die Lippen, manche schüttelten sogar abfällig mit dem Kopf und neigten sich zu ihrem Gegenüber, um zu tuscheln.
Marius war nicht mehr der drollige blonde Junge mit den Grübchen, den Sommersprossen auf der Nase und den neckischen blauen Augen. Er war der Schwule, der Abnormale, der Triebtäter, der seine unnatürliche Neigung an dem unschuldigen Sohn des Bürgermeisters ausgelassen haben soll. Dem Jungen, den jedermann bereitwillig zum Opfer eines Missbrauchs gemacht hatte, weil sich keiner hatte vorstellen können, dass der so behütete und perfekt geratene Daniel Heinemann ebenfalls ein Schwuler sein könnte.
Marius schob die Hände in die Taschen und passierte eine Gruppe Kids, die um die Zwölf sein mochten und sich gaben, als gehörte ihnen nicht nur das Dorf, sondern die Welt. Wie bekannt dem jungen Mann dieses Verhalten erschien und wie verdammt alt er sich vorkam.
»Schwuchtel!«, tönte ihm einer der Jungen entgegen, der sich nicht so anhörte, als hätte er bereits Stimmbruch. Die Freunde des Burschen lachten, als Marius sich zu ihnen herumdrehte.
»Wie bitte?«
»Hast mich schon verstanden, Tunte.« Der Bengel, der sich wie ein präpubertärer Möchtegern-Rapper angezogen hatte und dessen Jeans fast in den Kniekehlen hing, lachte wieder.
»Wohl im Kindergarten eine zu viel mit der Schippe über den Kopf bekommen, hm? Hast dabei deine Manieren verloren. Traurig für dich.«
»Wir wollen hier keine Schwuchteln, Alter! Also verpiss' dich.«
Marius schloss für einen Moment die Augen. »Wir sprechen uns in zehn Jahren, Knilch. Wie du deine Hose trägst, bedeutet bei Schwulen, dass man bereit für Sex ist, dass du es weißt. Wir werden sehen, wer von uns beiden dann die ‚Tunte' ist. Mich beleidigst du damit nicht. Du tust mir leid.«
Die Kids sahen einander an und die anderen begannen schlagartig, ihren Freund mit der tiefsitzenden Baggy mit dem aufzuziehen, was Marius gesagt hatte.
»Meine Mutter sagt, du bist ein Vergewaltiger und gehörst in den Knast, wo man das gleiche dann mit dir macht und zwar jeden Tag!«, knurrte der Junge dem jungen Mann entgegen, der nun doch etwas genervt war. Dass Leute ihn Schwuchtel nannten, war er gewöhnt und das war ihm egal. Doch er konnte und wollte diese Unwahrheit nicht auf sich sitzen lassen.
»Ich hab' niemals ...«
»HEY!« Marius wurde unterbrochen, als Ralf dazu kam und die präpubertären Kids vertrieb, die nur hämisch lachten und davon stoben.
»Was lässt du dich auf eine Diskussion mit diesen Bratzen ein, Mann? Die haben alle von ihren Eltern ne Ohrfeige zu wenig bekommen und sind vollkommen verzogen.«
»Aber sie sprechen das aus, was sich hier keiner traut, mir ins Gesicht zu sagen ... schau doch, wie sie alle glotzen. Aber sie würden scheinheilig grinsen, wenn ich jetzt ‚Hallo' sagen würde.«
»Ach, lass' sie doch. Die sterben alle dumm.« Ralf reichte Marius einen Becher mit Bier und zusammen setzten sie sich auf eine der kleinen Treppenaufgänge, die auf die Terrasse des Jugendclubs führten.
»Zu wem gehören die Kinder? Muss nach meiner Zeit gewesen sein.«
»Kannst du dich nicht erinnern? Der eine ist Pfeiffers Enkel, der andere ist der jüngste Sohn von Hoppes, der war gerade geboren 2004, bevor du gegangen bist. Das Mädel gehört zu Brandners und der, der dich so angegangen ist, ist ein Heinemann.«
»Wie?«
Ralf nickte. »Daniels Cousin irgendwas ... der Neffe vom alten Fritz ist der Verursacher dieses Arschkrampfes. Zum Glück wohnt der nicht hier, sondern in Lenbach. Aber da Ferien sind, treiben die sich ständig hier herum. Das Blag denkt Wunder, wer er ist. Stell' dir mal vor, so wäre Daniel damals gewesen. Die Chance hätte ja bestanden ... oh Mann, den hätten wir so was von vermöbelt.«
»Es war schon ein Wunder, dass er nicht so geworden ist wie Christopher, der war ja nicht weniger scheiße.«
»Ach, Monsieur Nachwuchstierarzt wurde wohl im Knast zurechtgestutzt. Musste ja irgendwann so kommen.«
Marius nickte leicht und nippte an seinem Becher. Schweigend beobachtete er die Leute, die nach und nach eintrudelten, sich die Kuchenstände ansahen, Freunde und Nachbarn begrüßten, lachten und schwatzten. Wann immer einer von denen bemerkte, dass Marius anwesend war, stutzten sie kurz und es hörte nicht auf, dass die Leute heimlich zu ihm herüber spähten, als hätte er drei Köpfe. Es musste wirklich eine unglaubliche Sensation sein, einen homosexuellen Mann in freier Wildbahn zu sehen. Ob sie merkten, dass er nicht anders aussah als sie? Womöglich hatten sie ihn nur deswegen noch nicht wegen seiner angeblichen Verbrechen angegriffen, weil er weder formell angezeigt noch irgendetwas bestätigt worden war. Offiziell handelte es sich bei dem ‚Vorfall' zwischen Marius und Daniel um eine einmalige Entgleisung zweier Jugendlicher unter dem Einfluss von zu viel Alkohol. Dass der Dunkelblonde den Anderen genötigt hatte, mitzumachen, hatten sich die Leute dazu gedichtet, denn Daniel fucking Heinemann! Der macht ja so was nicht. Dem liederlichen Marius Förster allerdings, der zwar nett, aber moralisch vernachlässigt aufgezogen worden war, traute man dagegen alles zu.
Der junge Mann biss die Zähne aufeinander, als ein schicker Wagen an der Straße hielt und nacheinander die Personen ausspuckte, an die der junge Mann gerade noch gedacht hatte.
Friedrichs Hemd spannte sichtbar mehr als noch vor zwölf Jahren, was ihn zwar nicht weniger schneidig aussehen ließ, aber irgendwie bequemer. Es war ungewohnt für Marius, diesen Mann so zu sehen. Auf der Beisetzung hatte der Dunkelblonde nicht wirklich auf die Familie oder die anderen Trauergäste geachtet.
Er nahm einen großen Schluck aus seinem Becher, als er Daniel bemerkte, der so verdammt gut aussah in dem hellblauen Hemd und den gut sitzenden weißen Segelhosen. Solche hatte er früher schon getragen und Marius hatte es damals schon sexy gefunden. Er trug so eine an dem Tag, als sie das erste Mal die Nacht zusammen verbracht hatten. Ob Daniel das noch wusste?
Monique, die ein ähnlich gefärbtes Kleidchen trug, machte ein Gesicht, als hätte sie ein Häufchen Mist unter der Nase.
Marius konnte nicht anders, er lachte leise. »Sieht nach Ärger im Paradies aus, meinst du nicht?«, murmelte er zu Ralf.
»Das tut es oft. Monique kann wohl ein ziemlicher Drachen sein. Aber passt zu den anderen Heinemann-Frauen. Dass die sich mit Manuela versteht ...«
»Frag' mich, wer einen Drachen heiratet.«
»Ein Ritter, der es nicht schafft, ihn zu erlegen.« Ralf leerte den Becher und nahm Marius seinen aus der Hand. »Noch eins?«
Der Dunkelblonde nickte. Ihm war warm und er spürte die Feuchtigkeit in seinem Nacken. Er hatte zwar gewusst, worauf er sich einlassen würde, wenn er auf das Heimatfest ginge, nämlich Daniel und seine Prinzessin in trauter Zweisamkeit, doch es war bereits jetzt schwieriger als angenommen.
Das hielt er nur aus, wenn er den Rest des Abends trank. Immerhin war er mit Ralf hier und mit dem konnte Marius genauso Spaß haben.
Wer brauchte schon Daniel Heinemann, der nicht einmal einen Blick für seinen Verflossenen übrig hatte ...
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