Kapitel 41
Als Marius' Handy am Morgen klingelte und ihn aus dem Schlaf riss, fühlte sich dieser so zerschlagen, als hätte er erst vor einer Minute überhaupt die Augen zugemacht. Stöhnend rieb er sich den Kopf und richtete sich auf. Wo war das blöde Telefon?
Das Klingeln war dumpf und ihm dämmerte, dass er es in der Nacht in der Jackentasche gelassen hatte. Umständlich kämpfte er sich aus der Umklammerung der dünnen Decke und fiel fast aus dem Bett, als er zum Sessel ging und das plärrende Gerät aus der Tasche zog.
Er kannte die Nummer nicht.
»Hallo, Förster?«, murmelte er.
»Guten Morgen, Herr Förster. Hier ist Frau Marquardt von Heise Notare. Entschuldigen Sie die frühe Störung.« Marius sah auf den Wecker, der auf dem Nachtkasten stand und brummte leise. Es war acht Uhr.
»Schon gut«, sagte der junge Mann leise und rieb sich die Stirn. Der Kater war nicht halb so groß, wie er gedacht hatte, doch immer noch spürbar genug. Marius setzte sich auf die Bettkante und bedeckte seine Blöße mit der Decke. »Was gibt's?«
»Es geht um den Termin zur Testamentsverlesung. Ihren Herrn Vater habe ich auch gerade informiert. Dr. Heise ist etwas dazwischen gekommen, was ihn zwingt, kurzzeitig einige Tage zu verreisen. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass sich Ihr Vater bereit erklärt hat, die Verlesung auf nächsten Dienstag um 11 Uhr in unserer Kanzlei zu verlegen. Ist das für Sie machbar?«
Der dunkelblonde Mann hatte sein Kinn auf die Hand gestützt, während er zugehört hatte. Er hatte von seinem Boss bis nächsten Mittwoch freibekommen und konnte, wenn es sein musste, auch noch mehr Urlaub bekommen.
»Tut mir leid, dass Sie mit meinem Vater reden mussten. Er war bestimmt nicht erfreut darüber«, Marius gluckste leise, als die junge Frau am anderen Ende der Leitung seufzte. »Für mich ist das kein Problem, ich bin zeitlich flexibel.«
»Gut. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Auf Wiederhören.«
»Wiederhör'n.«
Verschlafen änderte der junge Mann den Termin in seinem Handy ab und ließ sich wieder auf die Matratze fallen. Es war Freitag und er musste die Zeit bis Dienstag herumbekommen, möglichst ohne, dass Heinrich einen Aufstand probte. Doch Marius kümmerte es eigentlich nicht, was sein Alter sagte. Lengwede gehörte nicht ihm und Ralf würde sich bestimmt freuen, wenn er noch ein paar Tage blieb.
Ein Funken Selbsthass flammte in Marius auf, als ein leises Stimmchen ihm sagte, dass es gut war, noch etwas zu bleiben. So würde er Daniel noch einmal sehen können.
Brummend verkroch der junge Mann sich wieder in den Laken und presste das Gesicht ins Kissen.
Das würde ihm überhaupt nichts bringen, nur alte Wunden wieder aufreißen, die eh bereits wieder zu nässen begonnen hatten, seit sie gestern die paar Worte miteinander gewechselt hatten. Marius hatte Jahre gebraucht, um darüber hinwegzukommen und erst mit fünfundzwanzig die erste Beziehung zu einem anderen Mann gehabt, die bereits nach wenigen Monaten wieder zerbrach. Der Dunkelblonde hatte so viel Angst gehabt, wieder alles zu verlieren, dass er sich nicht richtig auf seinen Partner hatte einlassen können. Und das hatte diesen schlussendlich in die Flucht geschlagen. Insgeheim wusste der junge Mann natürlich, woran es gelegen hatte. Dieser andere Mann war nicht Daniel gewesen und so würde es bei jedem anderen auch sein.
Marius seufzte. So aufgewühlt würde er nicht mehr einschlafen können. Er warf die Decken von sich und schlüpfte in frische Kleidung. Es war gut, dass er immer etwas paranoid war und deswegen mehr als ein sauberes Shirt dabei hatte. Er hasste es, an Sommertagen zu schwitzen und sich nicht umziehen zu können, wenn ihm der Sinn danach stand.
In Jeans und T-Shirt stand er kurz darauf an der Rezeption, um seine Zimmerreservierung zu verlängern. Mit einer neuen Buchungsbestätigung in der Hand kehrte er in das Zimmer zurück und schaltete den Fernseher ein. Es war Vormittag und Ralf musste noch mindestens bis 12 Uhr in der Backstube stehen.
Marius wusste nicht recht etwas mit sich anzufangen, jetzt da er plötzlich so viel Zeit hatte. Wäre er zuhause, würde das ganz anders sein, da hatte er sein ganzes Zeug, doch da er ursprünglich nur vorgehabt hatte, die Bestattung und die Verlesung des Testaments in Lengwede zu überdauern und danach wieder zu fahren, hatte er nun rein gar nichts, um sich zu beschäftigen.
Gelangweilt zappte er sich durch ein paar alte Talkshow-Wiederholungen und blieb schließlich an einem dieser Vormittags-Trash TV-Familienkrimis hängen, wo er bereits nach wenigen Minuten anfing, sich über das mangelnde Schauspieltalent der Mitwirkenden lustig zu machen.
Um Neun nahm er ein ausgiebiges Frühstück zu sich, das ihm wirklich schmeckte. Da er durch die Trauer des vorangegangenen Tages kaum etwas gegessen hatte, hatte er nun einen Bärenhunger und verputzte eine große Portion Rührei mit Schinken, ein paar Pfannkuchen und eine Schüssel mit Müsli, ohne einen Funken Anstrengung zu zeigen.
Seine Oma hätte, wie früher schon, gefragt, wo er das nur alles hinaß, denn er war noch immer schlank und athletisch, auch wenn er heute nicht mehr über Weiden joggte, sondern sich im Park oder im Fitnessstudio auspowerte.
Satt lehnte er sich an den Stuhl und lächelte. Dass es Spaß machte, um den Ort herumzuspazieren, war eines der Dinge, die er an Lengwede am meisten geliebt hatte. Denn was sollte man als Kind in einem Nest wie diesem schon sonst machen als sich seine eigenen Abenteuer auszudenken?
Es stimmte den jungen Mann etwas traurig, dass es heute viel weniger Kinder im Ort gab als zu seiner Zeit. Damals hörte man überall irgendwo Kinderlachen oder Streiten, das Geräusch von Inline Skates auf dem Asphalt oder das Rauschen der Fahrräder, wenn man um die Wette gefahren war.
Seine Generation war, im Gegensatz zu der seiner Eltern, entweder nicht im Dorf geblieben, weil es kaum Jobperspektiven gab, oder hatte noch niemanden gefunden, mit dem sie sich fortpflanzen wollte. Marius grinste schief.
Damals, als seine Eltern jung waren, war es üblich gewesen, sehr früh zu heiraten. Kein Wunder, dass die alle mit Anfang Zwanzig bereits Kinder gehabt hatten. Die heutige Zeit erlaubte das kaum noch. Es gab so vieles anderes zu tun, bevor man überhaupt darüber nachdenken konnte, eine Familie zu gründen.
Der junge Mann räumte seine Teller zusammen und stellte sie in die Geschirrabnahme, bevor er den Speiseraum in Richtung seines Zimmers verließ. Er hatte keine Lust, sich den ganzen Tag den Hintern plattzusitzen. Durch den Regen, der gestern mehrere Stunden heruntergekommen war, war es ein wenig abgekühlt und Marius würde das nutzen, um spazieren zu gehen und seine Oma zu besuchen. Am Grab gab es zwar bis auf die Kränze noch nichts zu sehen, weil der Stein erst gesetzt werden würde, wenn sich die Grube etwas gesenkt hatte, doch er wusste ja, dass sie dort war und das genügte ihm.
Für einen kurzen Moment fühlte er Scham darüber, dass er vor den anderen Trauergästen einfach weggelaufen war und denen somit die Gelegenheit genommen hatte, ihm das Beileid auszurichten, doch das verflüchtigte sich schnell wieder. Wie er seine Trauer auslebte, war schließlich seine Sache und er musste niemandem darüber Rechenschaft abgeben.
In Turnschuhen und mit einer Zigarette im Mundwinkel verließ er den Hof und bog dieses Mal nicht in den Ort ein, sondern ging am Graben entlang. Es überraschte ihn, feststellen zu müssen, dass man den Weg asphaltiert hatte. Auf den dringenden Wunsch der reichen Bauern hin, vermutlich, die hier an dem Wasserweg ihre Felder hatten und sich ihre kostbaren Landmaschinen nicht schmutzig machen wollten. Und bezahlt mit Kommunalgeldern, die alle zu berappen hatten.
Da hatte sich der alte Fritz bestimmt wieder eine Wahl mit erstritten.
Marius konnte immer noch nicht so ganz verstehen, wie dieser manipulative und selbstzentrierte Mensch es geschafft hatte, inzwischen seit mehr als zwanzig Jahren dieses Amt zu bekleiden. Wussten die Leute es nicht besser, dass sie ihn immer wieder wählten? Oder wollte kein anderer den Job haben?
Mit einem Grinsen spazierte der junge Mann über den Asphalt, der noch sehr neu zu sein schien. Der lag sicher erst ein paar Jahre, da die Traktoren ihn noch nicht beschädigt hatten. Marius stellte sich vor, wie sein Vater und dessen Saufkumpanen in Rosenthals Gaststätte über ihrem Bier hockten und auf den Bürgermeister schimpften, fest davon überzeugt, den Posten besser ausfüllen zu können als Friedrich Heinemann. Aber sie glaubten ja auch, mehr von Fußball zu verstehen als ein Bundestrainer, obwohl sie selbst seit vierzig Jahren nicht mehr gespielt hatten und inzwischen nur noch den Fernseher anbrüllten.
Während der junge Mann sich die Sonne auf den Kopf scheinen ließ, ließ er den Blick wandern. Es hatte sich nichts verändert und doch so viel, dass es ihm auffiel. Es war nicht nur der Feldweg, der damals Staub aufwirbeln ließ, wenn man mit dem Rad eine Vollbremsung gemacht hatte. Sämtliche Bäume, die damals die Straße gesäumt hatten, waren verschwunden und gaben den uneingeschränkten Blick auf die Wiesen frei. Man konnte inzwischen bis zum Friedhof schauen, weil nichts mehr die Sicht unterbrach. Viele der alten Gehölze waren schon kaputt und vom Blitz getroffen, als er noch ein Junge gewesen war, doch dass sie jetzt weg waren und nur noch ihre Stümpfe anzeigten, dass sie mal da waren, stimmte Marius melancholisch.
Natürlich waren zwölf Jahre vergangen und in so einer langen Zeit konnte man nicht erwarten, dass alles so blieb, wie es war, doch am liebsten hätte er alles so festgehalten, wie er es immer gekannt hatte. Lengwede hatte ihm keinen angenehmen Abschied bereitet, doch sein Leben hier war schön gewesen, die meiste Zeit.
»So ist das, wenn man erwachsen wird. Man kann nichts festhalten«, murmelte er zu sich selbst und blieb an der Stelle stehen, wo der Graben eine Biegung über die Weide machte. Zumindest das kleine Wasserreservoir auf der Kuhwiese war noch da, was ihn lächeln ließ.
Wie ein Magnet wurde sein Blick nach links gezogen, auf den eingezäunten Grund zwischen ein paar Birken. Marius seufzte leise.
Den Hundeplatz hatte man demontiert und all die alten Geräte, die damals dort gestanden hatten, waren verschwunden. Eine weitere verlorene Erinnerung.
Mit zusammengepressten Lippen bog er auf den Weidenweg ein.
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»Heimatfest?«, Marius setzte die Bierflasche ab und wandte den Kopf zu Ralf. Der junge Mann hatte noch seine Arbeitskleidung an und entledigte sich dieser gerade im Flur.
Marius hatte seinen besten Freund getroffen, während er seinen Spaziergang gemacht hatte. Der Dunkelblonde hatte gar nicht gemerkt, wie viel Zeit er vertrödelt hatte, doch ein Blick auf die Uhr hatte ihm schließlich gesagt, dass es Mittag war. Und so war er gemeinsam mit dem Bäcker zu diesen nach Hause gewandert, um den Nachmittag zu verbringen.
»Ja. Ist diesen Samstag. Du warst doch draußen, hast du die Plakate nicht gesehen?«
Marius machte ein unbestimmtes Geräusch mit seinen Lippen und schüttelte den Kopf. »Nicht drauf geachtet, wahrscheinlich. Eigentlich wollte ich ja gerade beim Notar sitzen, meinem Vater beim Fluchen zuhören und am Nachmittag wieder auf dem Weg nach Köln sein ...«
»Na, wie auch immer. Ich hab morgen jedenfalls frei und geh' hin. Schon wegen dem Ferkel, du weißt ja«, Ralf lachte sein typisches Lachen und ließ sich in Trainingshosen und einem mehlfreien T-Shirt in seinen Sessel fallen. »Und wenn du eh hier festsitzt, kommst du einfach mit. Sollen die Leute halt reden, wenn sie sonst nichts zu tun haben. Du bist mein Gast«, der junge Mann prostete Marius mit seiner Bierflasche zu und trank, während der Dunkelblonde ein wenig unschlüssig auf seine Hände blickte.
»Ich weiß nicht ... damals hat es Spaß gemacht, über die Dorfprominenz zu lachen, aber inzwischen sind wir alle erwachsen und ...«
»Keinen Bock auf Heinemännchen, hm?«
»Nein. Und auch nicht auf Franziska. Sie arbeitet doch für Rosenthal, oder? Das war ein Grund, warum ich gestern nicht zum Leichenschmaus gegangen bin. Ich kann und will sie nicht wiedersehen ... und eigentlich auch alle anderen nicht.«
Ralf brummte leise. »Weißt du, Franzi hat ganz schön abgebaut im Gegensatz zu früher. Da hatte sie eine scharfe Zunge und war auch sonst ziemlich geil. Aber jetzt ... ich weiß nicht, ich kenn' keinen Typen hier im Dorf, mal abgesehen von Daniel vielleicht, der nicht auf ihr drauf war. Ich mein', ist ihr Ding, geht ja keinen was an, aber ... die ist nur noch verzweifelt und sucht wen zum Heiraten. Fast schon traurig.«
Marius grinste schelmisch. »So so, bist du also doch noch zum Schuss gekommen?«
»Ich? Nein. Nachdem sie diese Scheiße mit dir abgezogen hat, war's das für mich. Dasselbe galt für Karsten und Dennis. Ich und Jessica blieben dann meist für uns.«
»Hat Jess ihr eigentlich deswegen die Freundschaft gekündigt? Kann ich mir nicht so recht vorstellen ...«
»Nein, Franzi nicht, den Jungs schon. Aber nach der Sache war ein Knacks drin zwischen den Mädels, der nie wieder weggegangen ist. Wir haben dir gegenüber alles falsch gemacht, was man falsch machen kann und haben unsere Freundschaft verraten. Ich genauso wie die anderen. Aber mir warst du eben wichtiger. Freund bleibt Freund, egal ob Homo oder Hetero. Es ist unwichtig, aber als Teenie papageit man erstmal alles so hervor, wie man es von den Eltern gelernt hat.«
»Wem sagst du das«, seufzte Marius.
»Also gehst du mit? Oder lieber nicht?«
Der Dunkelblonde lehnte sich auf dem Sofa zurück und schlug die Beine übereinander, bevor er seinem besten Freund seinen spitzbübischen Blick zuwarf.
»Und mir die Chance entgehen lassen, mich besonders gay zu geben, um damit die Prominenz zu brüskieren? Niemals. Natürlich bin ich dabei. Wahrscheinlich ist ein Schwuler im Dorf für Wochen das einzige Gesprächsthema, was diese Langweiler haben werden.«
»Darauf kannst du einen lassen. Die werden sich das Maul zerreißen.«
»Gut so«, knurrte Marius, »damit tun sie mir einen Gefallen, denn wenn ihr Leben so langweilig ist, dass sie mich zum Mittelpunkt ihrer Gespräche machen ... schade nur, dass ich mein Netzshirt nicht dabei habe ...«
»Und die Lederhosen«, grinste Ralf.
»Die gehörten nicht mir, sondern einem Freund!«, lachte Marius laut los. Bei einem seiner letzten Besuche in Köln hatte der Dunkelblonde seinen besten Freund mit in eine gut besuchte Schwulendisco genommen und dieser hatte, als sie sich für den Abend vorbereiteten, in Marius' Kleiderschrank eine provokante und sehr eng geschnittene Hose aus Lederimitat gefunden. Darüber machte er noch heute zu gern Witze, denn Marius war die Sache ziemlich peinlich gewesen.
»Ich hab's dir doch erklärt«, knurrte der Dunkelblonde und Ralf lachte.
»Ja ja ... die war für die Christopher Street-Day-Parade ... jaa ich weiß. Aber ich ... fuck, ich komm nicht drumherum, mir dich in diesem Outfit vorzustellen. Netzshirt und Lederhose. Fehlt nur noch das Gel in den Haaren und der Nippelring, Alter.« Der Bäcker grölte los und Marius konnte nicht anders, als mit einzustimmen.
»Und der einzelne Ohrring.«
»Der Anblick war bestimmt geil.«
Marius grinste schief und zwinkerte. »Ich hab Fotos.«
»Die mailst du mir, wenn du wieder zuhause bist.«
»Deal. Wenn du mir versprichst, dir darauf keinen runterzuholen!«
Ralf lachte noch lauter. »Das kann ich erst sagen, wenn ich sie sehe.«
»Lederfetischist«, murmelte der Dunkelblonde und sah seinem Kumpel dabei zu, wie der sich allmählich wieder beruhigte.
»Aber ja ... mit einem solchen Outfit könntest du hier Herzattacken auslösen.«
»Und die Alten könnten mich mit ihren Heugabeln aufspießen. Lieber nicht. Ich hab zu viele Krimis über Hassverbrechen gesehen. Ich möchte nicht als menschliche Vogelscheuche irgendwo auf einem Maisfeld in der Sonne verrotten.«
»Uhh, das ist ein Themenwechsel, Mann.«
Marius lachte. »Ich glaube, ich muss nicht mal wie ein Klischee-Schwuler herumrennen, mit Ohrschmuck, Makeup, gespreiztem kleinen Finger und gebrochenen Handgelenken. Oder findest du, dass man mir ansieht, dass ich auf Männer stehe? Ich finde nicht. Aber die Leute wissen es und das reicht ihnen. Allein der Gedanke macht sie wahnsinnig und sie können nicht anders, als sich vorzustellen, wie zwei Männer Sex haben. Es ist wie ein Zwang. Und entweder finden sie es widerlich oder insgeheim geil, wollen das nicht zugeben und tun deswegen so, als würden sie es widerlich finden. Keiner von diesen verbohrten Spießern hier denkt so weit und versteht, dass es genauso Liebe ist wie zwischen Männlein und Weiblein. Sie glauben nicht, dass man als Mann zärtlich zu einem anderen Mann sein kann. Für sie ist es immer nur rohe Fleischlichkeit. Und da ich sie nicht vom Gegenteil überzeugen kann, weil sie das gar nicht wollen, hänge ich immer als ‚der Perverse' in dieser Schleife fest. Also, was soll's. Wen sollte ich hier beeindrucken wollen?«
Ralf nickte. Auch er hatte früher so gedacht, hatte Homosexuelle auf die Art reduziert, wie sie ihrer Sexualität Ausdruck verliehen. Erst durch Marius hatte er das große Ganze verstanden. Als dieser sich wegen Daniel die Augen ausgeweint hatte, hatte der junge Mann begriffen, dass Liebe und Liebeskummer immer gleich waren.
»Na wie auch immer. Ist deren enger Horizont.«
»Richtig. Wir wollen ja ohnehin nur das Schwein«, Marius lachte. »Gibt Rosenthal immer noch Freibier aus?«
»Ja. Aber heute macht das Franzi. Der Alte kann nicht mehr so, der hockt immer nur da und unterhält sich mit den Säufern.«
»Also meinem Vater.«
Ralf grinste. »Ja. Seit der Lochner vor zwei Jahren den Löffel abgegeben hat, sind es nur noch Heinrich und Ernst, die da hocken, trinken und irgendwann zu pöbeln anfangen.«
»Tja, die Zeit bleibt nicht stehen. Ich dachte damals noch, wir wären alle unsterblich und nichts würde sich je ändern.«
»Du wolltest doch am meisten von uns, dass irgendwas anders wird, schon wegen Heinrich ...«
Marius nickte leicht. »Ja, aber ich dachte, das wäre das Einzige, was sich ändern würde, wenn ich erstmal erwachsen bin. Alles andere hatte ich vollkommen verdrängt. Dass wir alle weggehen, dass wir auseinanderbrechen würden. Ich wollte diese Aussagen von anderen, dass Freundschaften nach der Schule keinen Bestand haben, nie glauben. Und jetzt schau' mich an. Von meinen alten Freunden bist du geblieben. Und Jess, die ich nie sehe, weil sie in Südfrankreich ihr Leben genießt.«
»Vor fünfzig Jahren, als man nach der Schule im Dorf geblieben ist, weil es hier Arbeit gab, war das leichter. Dein Alter ist doch seit der Schule mit Egon und Ernst befreundet gewesen. Wir heute haben doch gar keine Wahl, als zu gehen. Ich hatte auch nur Glück. Wenn man das so nennen will, mit dreißig als Single in einem Hundertfünfzig-Seelen-Nest zu wohnen, in dem keine anständige Frau mehr frei ist.«
Beide jungen Männer lachten.
»Komm' nach Köln, ich finde schon einen Lover für dich.«
»Ich passe. Ich mag Brüste einfach lieber.«
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