Kapitel 39
Heinrich und Angelika waren die ersten, die in der mit Blumen geschmückten Trauerhalle Platz genommen hatten. Es war kühl in dem kleinen Gebäude und der Duft der Lilien war fast übermächtig, doch Marius kümmerte es nicht.
Ralf nahm stillschweigend in einer der hinteren Stuhlreihen Platz. Er hielt es für besser, die Försters nicht anzusprechen, solange der Sarg nicht hinausgetragen wurde, da Heinrich ihn noch nie wirklich leiden konnte. Der Großvater des Bäckers war ebenso wie Friedrich Heinemann eine der Personen, die der alte Landwirt verabscheute und das bis auf deren Kinder und Enkelkinder aufrecht gehalten hatte. Ralf hatte in dieser Situation keine Lust darauf, von Heinrich rüde angefaucht zu werden. Das würde Marius nur aufregen und der stand ohnehin schon unter immensem Druck, nicht die Fassung zu verlieren.
Der Bäcker kannte seinen besten Freund gut und wusste, dass er nur deswegen keine Emotionen zeigte, weil er seinem Vater keine Angriffsfläche bieten wollte. Manche Dinge änderten sich eben auch nach Jahren nicht.
Der dunkelblonde Mann ging durch den Gang bis an den Sarg vor. Ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, der draußen hinter dem Gebäude auf der Kofferraumrampe seines Wagens saß und gerade eine Kleinigkeit gegessen hatte, als die Familie eintraf, hatte die alte Dame mit letzten Handgriffen zurecht gemacht, ihr noch einmal leicht das Haar gekämmt und einen Hauch Rouge aufgelegt, damit man ihr bei offenem Sarg die letzte Ehre erweisen konnte.
Marius lächelte. Seine Oma sah hübsch aus, ganz so, als würde sie schlafen. Ihre gefalteten Hände waren kalt, als er über die Haut strich und sich ein Schluchzen verbiss, das wie ein ersticktes Wimmern aus seinem Mund kam.
Das leise Schnauben, das Heinrich ausstieg, ließ Wut in dem jungen Mann hochkochen und er schluckte schwer.
»Sorry, Oma«, flüsterte er und strich noch einmal über ihre Hand. Er bemerkte, dass sie den Ehering seines Großvaters an einer feinen goldenen Kette um den Hals trug, zusammen mit ihrer Perlenkette, die sie von Erich einmal zum Hochzeitstag bekommen hatte.
Marius drehte sich um und funkelte seinen Vater an, der ihm ins Gesicht blickte wie eine aufsässige Bulldogge. Ganz als würde er seinen Sohn herausfordern wollen, irgendetwas Rüdes zu sagen und damit alle Trauergäste, die nach und nach in die Halle gekommen waren, zu brüskieren.
Doch der junge Mann riss sich zusammen. »Eisklotz!«, war alles, was er zwischen den Zähnen hindurchpresste, als er an seinen Eltern vorbei ging und sich zu Ralf setzte.
Warum sollte Marius in der ersten Reihe bei seiner Familie sitzen, wenn doch jeder wusste, dass er nicht mehr zu ihnen gehörte? Diese Heuchelei hätte seiner Oma nicht gefallen und sie hätte es verurteilt, auch wenn sie all die Jahre insgeheim gehofft hatte, die Wogen würden sich glätten und die Försters könnten wieder eine Familie werden. Nicht perfekt, aber doch zusammen.
»Geht's?«, flüsterte Ralf und der dunkelblonde Mann zog ein Stofftuch aus der Jackentasche, um sich die Nase abzuwischen.
»Ja, geht schon ... Sie sollten nicht länger warten«, murmelte er betrübt. »Die Blumen können den Geruch nicht mehr lange überdecken. Dafür ist es zu warm.«
Ralf nickte. Auch er hatte den schweren süßlichen Duft bemerkt, der nicht von den Blüten kam und der zwar noch gut zu ertragen, doch der alten Dame irgendwie unwürdig war.
Der Pfarrer, der auch die Totenrede halten sollte, betrat die Trauerhalle als Letzter und ging langsam zur Kanzel vor, bevor er ein dünnes Bündel Blätter aus seiner Robe zog, sich räusperte und die Anwesenden erneut begrüßte.
Musik wurde eingespielt, ein kurzes Medley von Hannelores Lieblingssongs und Marius, der vor wenigen Minuten noch behauptet hatte, es würde ihm gut gehen, biss sich auf die Lippen.
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»Aber zum Leichenschmaus gehen wir nicht, Friedrich!«, murrte Manuela und zupfte an ihrem Hut herum. Die Familie war einige Minuten im Auto sitzen geblieben, nachdem sie am Friedhof angekommen waren. Ihr Pietätsverständnis hatte ihnen nicht gestattet, vor der trauernden Familie in der Leichenhalle zu sitzen und zu warten.
»Nein. Die Beisetzung, dann ist unsere Schuldigkeit getan. Alle andere geht nur die Familie an.«
»Familie«, lachte Manuela schadenfroh auf. »Noch kälter und denen würden die Finger abbrechen. Das kommt davon, wenn man seine Kinder nicht anständig erzieht. Sie geraten so von der Bahn, dass man gezwungen ist, sich von ihnen loszusagen.«
Friedrich nickte und Monique schmunzelte. Sie mochte es, wenn über Marius' Andersartigkeit gelästert wurde, obwohl es ihr persönlich nichts ausmachte, dass er schwul war. Er sollte nur die Griffeln von ihrem Verlobten lassen.
Nur Daniel verzog leicht den Mund und wandte den Blick ab. Er hatte freie Sicht auf die Weiden rund um Lengwede und den schmalen, sandigen Feldweg, über den er gern spaziert war, als er Sergio noch gehabt hatte. Noch heute ging er diese Pfade entlang, mit Allegro, und genoss die Ruhe, die ihm das brachte. Die ersten Wochen nach Marius' Weggang hatte der junge Mann bei jedem Spaziergang damit gerechnet, den Dunkelblonden zu treffen, wenn dieser laufen ging, als würde das die Antwort auf alles sein.
Und für Marius war es das auch immer gewesen. Gegen alles anrennen, was einem wehtat, hinunterzog oder belastete. Daniel hatte sich oft gewünscht, dass das bei ihm auch funktioniert hätte, doch das tat es nicht. Er hatte sich seinen Platz in der engen kleinen Welt suchen müssen, die sein Zuhause war und das Beste aus dem herausholen müssen, was er hatte. Und lange Jahre war ihm das gelungen und er war beinahe glücklich gewesen.
Doch die Stimme tief in ihm drin, die vor und nach Marius nie wieder erklungen war, hatte sich nun erneut zu Wort gemeldet und alles, was Daniel dachte, erreicht zu haben, erschien ihm plötzlich so fürchterlich unwichtig.
Doch das durfte nicht sein. Er hatte einen Weg eingeschlagen, von dem er nicht mehr abweichen konnte und Marius, den er verraten und im Stich gelassen hatte, würde ihm niemals verzeihen, dass er ein solcher Feigling gewesen war. Selbst wenn Daniel dem Anderen erzählte, warum er so gehandelt hatte. Das hatte alles zerstört.
Schweigend folgte er seiner Familie schließlich in die Trauerhalle und setzte sich mit ihr in die letzte Reihe. Sein Vater glaubte, das würde Bescheidenheit ausdrücken, doch Daniel hielt es für verkapptes VIP-Verhalten.
Sein Blick suchte Marius und es überraschte Daniel nicht, ihn bei Ralf in der Mitte zu sehen anstatt bei seinen Eltern vorn in der ersten Reihe. Das Verhältnis der Försters war noch nie herzlich gewesen, aber nachdem, was damals passiert war, war es ein offenes Geheimnis in Lengwede, dass Heinrich seinen Sohn bis aufs Blut hasste und ihn dafür, dass er schwul war, am liebsten eigenhändig erschießen würde. Im Allgemeinen tat der alte Landwirt so, als hätte er nie ein Kind gehabt und als würde Marius gar nicht existieren.
Da die anderen Bauern jedoch oft nicht so gnädig waren, dieses Spiel mitzuspielen, zogen sie Heinrich gern damit auf und das schürte den Hass des Mannes nur noch weiter.
Auch Friedrich betrachtete die Tatsache, einen homosexuellen Sohn zu haben, als eine Art Familienschande und hatte Daniel lange Jahre streng beobachtet, wann immer dieser mit anderen Männern in Kontakt gekommen war. Immerhin waren der Bürgermeister und seine Ehefrau die einzigen außer den beiden Jugendlichen und Marius' Großmutter, die die Wahrheit über die Beziehung der Jungen kannten. Dass es viel mehr gewesen war als ein Akt jugendlichen Leichtsinns, der durch zu viel Neugier und Alkohol außer Kontrolle geraten war, so wie der Rest der Dorfbewohner es dachte.
Doch Daniel hatte sich nie wieder zu einem Mann hingezogen gefühlt. Für ihn hatte es, was das anging, immer nur Marius gegeben. Auch wirkliches Interesse Frauen gegenüber war nie vorhanden gewesen. Sein alter Herr wusste das natürlich nicht, doch hatte mit Wohlwollen angenommen, dass die ‚schändliche schwule Neigung' seines Sohnes ein Ende gefunden hatte, als Daniel sich entschieden hatte, Monique zu seiner Freundin zu machen und sie schließlich zu bitten, ihn zu heiraten.
Leicht nur wandte der junge Mann den Blick und betrachtete die blonde Frau neben sich. Monique war mit den Jahren nur noch hübscher geworden, sie war elegant, gebildet, hatte einen guten Job und konnte jeden um den Fingern wickeln. Eigentlich sollte jeder Mann glücklich sein, so jemanden zu haben. Und ein Teil von Daniel war es auch, denn er mochte sie gern.
Doch es war und blieb eine Lüge, wenn er sagen würde, dass er mit dem Herzen dabei war. Sie war der Kompromiss, den er eingegangen war, um den Menschen zu beschützen, den er wirklich an seiner Seite hatte haben wollen. Und den er verloren hatte, gerade deswegen.
Daniel blickte wieder zu Marius, als der Pastor mit der Trauerrede begann. Das Musikmedley war zu Ende gegangen und die vielen alten Leute, die die Verstorbene gekannt hatten, schnieften bereits in ihre Taschentücher. Der dunkelblonde Mann biss auf seiner Lippe herum und da die Stühle nicht exakt gerade ausgerichtet waren, sondern leicht zum Gang hin, konnte Daniel die blauen Augen Marius' erkennen, die heller geworden waren, intensiver und glitzerten. Wie schon in der Kirche saß er erst aufrecht und blickte auf seine Hände, doch sackte dann mit jeder Minute mehr in sich zusammen.
Als der Pastor seine Rede beendete, die voller kleiner Anekdoten über Hannelore Förster gewesen war, lag Marius' Oberkörper zusammengefaltet auf seinen Beinen und er hatte die Hände auf das Gesicht gepresst, während Ralf ihm über den Rücken strich.
Es berührte Daniel und er hätte gern den Platz mit dem anderen jungen Mann getauscht, um Marius Trost zu spenden. Doch natürlich ging das nicht.
»Wenn ich Sie nun alle bitten dürfte, sich zu verabschieden, bevor wir unsere Freundin der Erde übergeben«, sprach der Pastor und stieg von der Kanzel. Stühle scharrten über den steinernen Boden und das Rascheln der Kleidung schwoll zu einem Summen an.
Daniel reihte sich artig auf, doch sein Blick lag noch immer auf Marius, der sich nicht rührte. Ralf hatte sich zu ihm heruntergebeugt und redete leise auf ihn ein, bevor der Dunkelblonde sich leicht aufrichtete, ein Taschentuch aus dem Ärmel zog und sich über das Gesicht wischte.
Es wunderte Daniel nicht, keine Tränen in Marius' Gesicht zu sehen, sondern nur gerötete Augen. Er wusste immerhin, dass dieser nicht weinen würde. All diese Gesten des Zusammenbrechens waren echt, doch weinen würde er, wenn er allein war. Sein Vater hatte bei der Erziehung, dass ein Mann nicht weint, ganze Arbeit geleistet, so sehr, dass sich Marius dessen wahrscheinlich gar nicht bewusst war.
Seufzend verließ Daniel nach seiner Familie das kleine Gebäude und sie warteten, dass der Ablauf fortgesetzt werden würde. Vermutlich das erste und gleichzeitig letzte Mal in ihrem Leben taten Vater und Sohn etwas einträchtig, als Marius und Heinrich zusammen mit zwei Friedhofsgärtnern den Sarg hinaus trugen und an der Grabstelle abstellten.
Mit verkniffenem Gesicht wandte sich der junge Mann anschließend ab und reihte sich neben seiner Mutter auf, die ihm sachte über den Arm strich. Zum ersten Mal seit Beginn des Tages hatte sie überhaupt Notiz von ihm genommen.
Die Gärtner senkten den Sarg in die Grube ab, während der Pastor einen Segen über sie sprach. Mit zittrigen Fingern nahm Marius eine der Rosen und eine Handvoll Erde, um sie auf den Sarg zu werfen. Der Druck und der Schmerz in seiner Kehle waren für ihn kaum noch zu ertragen und er wollte nichts weiter, als so schnell wie möglich von all diesen Menschen wegkommen. Er brauchte einen Moment der Ruhe, ganz für sich, ohne diese neugierigen Augen, die ihn beobachteten und jede seiner Reaktionen genau registrierten.
Als die ersten Dorfbewohner ihn passierten und ihm die Hand reichen wollten, um ihr Beileid zu bekunden, hob er schließlich die Hände und schüttelte den Kopf.
»Ich ... ich kann nicht. Es tut mir leid«, presste er leise heraus, wandte sich ab und eilte über den Friedhof davon.
Dass ihm alle hinterher sahen, bemerkte er nicht mehr, als er sich hinter einem der uralten Grabsteine auf eine Bank setzte und das Gesicht in den Händen vergrub. Er konnte die Erde und den feinen Hauch der Rose noch an ihnen riechen.
An dieser Stelle war er verborgen hinter immergrünen Büschen, die so alt wie die Gräber waren und es war still. Er konnte das leise Reden der Trauergäste nicht mehr hören, auch nicht das Knirschen des Kieses auf den Wegen. Nur noch den Wind, der deutlich aufgefrischt hatte und den Duft von Tannennadeln mit sich trug.
Ein erschrockenes Geräusch ging durch die Menschen, als die ersten großen Tropfen zu fallen anfingen und sich schnell zu einem ordentlichen Regen verdichteten.
Marius war es egal. Er hatte den Schirm in der Leichenhalle an den Stuhl gehängt, doch es kümmerte ihn nicht, dass das Wasser seinen Anzug bis auf die Haut durchnässte. Denn das kam ihm gerade recht, denn endlich konnte er loslassen.
Leise aufheulend schluchzte er und drückte wieder die Hände auf die Augen. Er hatte, seit er vom Bestattungsinstitut die Nachricht vom Tod seiner Oma bekommen hatte, noch kein einziges Mal richtig geweint. Es war einfach zu viel zu tun gewesen. Obwohl seine Eltern das Obligatorische wie den Sarg und den Redner ausgewählt hatten, hatte Marius sich darum gekümmert, dass seine Großmutter das bekam, was sie sich gewünscht hatte, von der Musik bis zu den Blumen. Er war persönlich beim Bestatter in der nächstgelegenen Stadt gewesen, auch wenn das bedeutet hatte, dafür außerplanmäßig frei zu nehmen. Sein Boss hatte Verständnis gezeigt.
Und jetzt war sie fort und begraben und Marius, der in wenigen Tagen seinen dreißigsten Geburtstag haben würde, kam sich wieder vor wie ein kleines Kind, hilflos und allein gelassen in der Welt. Er hatte das letzte Bisschen Familie verloren, das Wert auf ihn gelegt hatte und dieser Gedanke traf ihn härter als er es erwartet hatte. Er war allein.
Während der Regen weiter auf ihn hinunter prasselte, löste sich der erste Knoten in Marius' Brust und er schniefte, bevor er sich die Nase putzte.
Irritiert spürte er, dass das Tropfen auf ihm verschwunden, aber der Regen unverändert stark war und sah sich um.
Ein Regenschirm wurde über ihn gehalten und Marius zuckte so sehr zusammen, dass es wehtat, als er erkannte, dass es nicht Ralf war, den er erwartet hatte, sondern Daniel, der in der freien Hand seinen eigenen Schirm hielt.
»Willst du dir hier den Tod holen?«, fragte der Dunkelhaarige leise und vermied es, Marius allzu lange anzusehen, der aufstand und den Regenschirm entgegennahm. Mit gemischten Gefühlen betrachtete der Dunkelblonde den Anderen und kaute auf seiner Lippe herum, wie er es schon früher gern getan hatte.
»Was willst du?«, presste Marius hervor, bevor er überhaupt zu Ende gedacht hatte. Glaubte Daniel, wenn er nach zwölf Jahren auf der Beerdigung seiner Oma ankam, dass er, Marius, dann alles vergessen würde? Dass er alles vergessen hätte, was geschehen war?
Der Dunkelhaarige verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, ganz leicht nur und seufzte leise. »Ich dachte mir, du brauchst einen Schirm. Ich weiß, dass du dich zum Weinen versteckst.«
»Ich glaube, du weißt gar nichts. Danke für den Schirm. Geh' zu deiner Verlobten zurück, ich komme zurecht ...« Mit zusammengepressten Lippen wandte sich Marius ab und verließ sein Versteck. Ralf wartete am Friedhofstor auf ihn und hatte mitbekommen, dass Daniel Marius den Regenschirm gebracht hatte.
»Alles klar?«, fragte der junge Mann seinen Freund, der nur verkniffen nickte.
»Ja ... hätte nicht gedacht, wie hart es werden würde, seine Stimme wieder zu hören. Hast du Alkohol zuhause? Ich gehe nicht auf den Leichenschmaus. Ich will niemandem mehr sehen, sondern mit dir zusammen so lange trinken, bis es nicht mehr weh tut.«
Ralf legte Marius die Hand auf die Schulter und lachte leise. »Na das sollten wir hinkriegen.«
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