Kapitel 33
»Willst du wirklich schon gehen?«, schnurrte Marius an Daniels Hals. Die Dunkelheit verbarg ihr kleines Liebesnest unter der Holzpyramide, in dem es sich die beiden Jungen gemütlich gemacht hatten, sobald es für sie sicher war, nicht ertappt zu werden.
»Ich will nicht. Aber ich muss. Es ist nach Elf. Mein Vater ist ohnehin total gestresst und wartet nur darauf, sich an mir abzureagieren ...«
Marius zog Daniels Jacke, die er als Kissen benutzt hatte, unter seinem Kopf hervor und reichte sie ihm, während dieser sich das zerknitterte Shirt anzog. Nach ihrem romantischen Abenteuer im Baumhaus blieb ihnen wieder nur ihr Versteck auf dem Hundeplatz, und damit das vage Risiko, von jemandem gesehen zu werden. In den ersten Tagen hatte das beide so gehemmt, dass sie sich fast nicht trauten, einander zu berühren, obwohl das Verlangen übermächtig gewesen war.
Marius seufzte, richtete sich auf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Soll ich dich nach Hause bringen?«
Daniel schürzte die Lippen und nickte mit einem Grinsen. »Na klar. Ich lass' dich doch nicht allein hier. Hinterher machst du noch irgendwas unanständiges.«
Der Dunkelblonde lachte. »Nach eben? Hmmm ... ja, vielleicht. Wenn ich nachher zuhause im Bett liege und dir eine MMS von dem schicke, was ich tue.«
»Oh Gott«, lachte Daniel und kletterte aus dem Holzgebilde. Der Mond stand am Himmel und so konnte man die Umgebung gut erkennen. Marius folgte ihm und stopfte die dünne Decke in den Rucksack, bevor er die Campinglampe ausschaltete.
»Nicht gut?«
»Ich hätte es ehrlich gesagt lieber live als auf einem Foto.«
»Ich würde es auch lieber deine Hand tun lassen, aber man kann nicht alles haben.« Der dunkelblonde Jugendliche legte seinem Freund von hinten einen Arm um die Brust und biss ihm sanft in den Nacken. Daniel lehnte sich an ihn und seufzte.
»Na los, komm. Sonst wird es noch schwerer, sich zu trennen«, murmelte Marius, schulterte seinen Rucksack und steuerte auf sein Fahrrad zu, das lieblos ins Gras geworfen worden war.
Der dunkelhaarige Jugendliche, dem man Ordnung Zeit seines Lebens akribisch eingebläut hatte, hatte seines an den Zaun gelehnt. Mit einem leichten Rasseln zog er den Lenker aus einer der Maschen und stieg auf.
Nur zu gern wäre Daniel den langen Weg in den Ort zurück gelaufen, um noch etwas Zeit herauszuschlagen, doch die Unruhe, die die schlechte Laune seines Vaters in den letzten Tagen auch in ihm herbeigeführt hatte, ließ ihn hektisch werden.
»Die Alten machen einem die ganze Existenz zur Hölle. Als hätten sie einen nur gemacht, um einen dann hinterher quälen zu können«, knurrte Marius leise und schwang sich ebenfalls in den Sattel.
»Tut mir leid«, murmelte der Dunkelhaarige, doch der Andere lachte nur.
»Ist doch nicht deine Schuld, dass du selbst in den Ferien nicht tun kannst, was du willst. Ich schätze, wir müssen uns schon glücklich schätzen, dass du überhaupt bis Mitternacht draußen bleiben darfst ... Was du nicht dürftest, wenn deine Eltern wüssten, dass wir diese Zeit nutzen, um miteinander zu schlafen«, der Dunkelblonde lächelte leicht.
»Wir müssten nicht mal so weit denken. Dass ich mit dir zusammen bin, egal aus welchem Grund, reicht schon, um es zu verbieten.«
»Umso mehr kosten wir es aus«, Marius beugte sich zu Daniel hinüber und küsste ihn.
»Ja«, flüsterte der Dunkelhaarige.
Schweigend setzten sie sich in Bewegung, den Feldweg am Wassergraben entlang, und trennten sich schließlich im Ortskern auf Höhe der Kircheninsel, von wo aus Daniel nach links abbog und Marius geradeaus weiterfuhr. Es war zwar inzwischen stockdunkel und die Straßenlampen gaben nur schemenhaftes Licht, doch die neugierigen Augen der alten Wachteln hinter ihren Fenstern, die rund um die Uhr zu spionieren schienen, durfte man nicht unterschätzen.
Der dunkelhaarige Jugendliche seufzte, als er am Tor zum elterlichen Hof ankam, seinen Schlüssel aus der Tasche zog und das Grundstück betrat. Traurig betrachtete er einen Augenblick den leeren Hundeauslauf, an dessen Tür noch Sergios Leine hing. Es schmerzte noch immer, dass seine Eltern ihn einfach weggegeben hatten.
Mit einem bitteren Geschmack im Mund schob der Junge sein Rad in den Stall, putzte sich auf der Terrasse die Schuhe ab und öffnete die Hintertür.
»Wo kommst du jetzt her?«, knurrte ihm die Stimme Friedrich Heinemanns entgegen. Der Mann saß in der Wohnecke auf dem Sofa, er hielt ein Glas Whiskey in der Hand und hatte den Fernseher stumm gestellt.
Daniel zuckte zusammen, denn er hatte das Licht nicht gesehen und angenommen, seine Eltern würden längst im Bett liegen. Siedend heiß rauschten die Gedanken durch seinen Kopf.
»Vom Jugendclub«, presste er dann heraus. Dort hielten sich er und seine Freunde die meiste Zeit auf, wenn sie nicht mit Christophers Auto Spritztouren machten. Daniel hatte den ganzen Nachmittag mit Anja, Kathrin, Monique und dem Tierarztsohn dort verbracht, bevor er unter einem Vorwand abgehauen war, um sich mit Marius zu treffen.
»So? Das ist aber komisch. Monique war vor zwei Stunden hier, weil du dein Taschentuch hast liegen lassen. Sie war so nett und wollte es dir vorbeibringen. Sie dachte, du wärst hier. Aber das warst du nicht. Und dann ... du glaubst nicht, wer mich heute angerufen hat ...«
Daniel nagte an seiner Unterlippe herum. Ein fürchterliches Gefühl wühlte in ihm. Er saß in der Falle, das wusste er. Die Stimme seines Vaters hatte den abgeklärten, aalglatten Ton, den sie hatte, wenn er Reden vor dem Gemeinderat hielt, kurz bevor er sie in Grund und Boden brüllte. Der Jugendliche schluckte schwer.
»Ich ... ich weiß nicht?« Er spürte, wie ein einzelner Schweißtropfen sich zwischen seinen Schulterblättern nach unten arbeitete.
»Freddie berichtete mir, wie erfolgreich das Camp letztes Wochenende war und dass alle einen tollen Trainingsvorteil erreicht hatten. Stell' dir vor, wie ich mich gefreut habe, dass du wieder etwas besser geworden bist. Und wie überrascht ich war, von Freddie zu hören, dass du doch zuhause geblieben bist.«
Daniel spürte, wie sich Eiseskälte in seinem Körper ausbreitete. Er war die vergangenen Tage nach der Nacht mit Marius so glücklich und berauscht gewesen, dass er gar nicht mehr daran gedacht hatte, dass er auffliegen könnte. Warum hatte er nicht daran gedacht, dass Fred, sein Tenniscoach, ein alter Freund von Friedrich war?
»Da frage ich mich natürlich, Junge ... wo warst du das ganze Wochenende?« Friedrich klang gefasst, beinahe entspannt, doch Daniel wusste ganz genau, dass er das nicht war. Der Mann trug eine langjährig geschulte Maske zur Schau, die er als Lokalpolitiker gelernt hatte, geschickt einzusetzen. Innerlich brodelte er und würde über kurz oder lang explodieren.
»Ich ...«
»Komm' schon, spuck's aus.«
»Das ... ist meine Sache«, murmelte der Junge leise. Er wollte seine wunderbare Erfahrung nicht mit seinem Vater teilen, der es nicht verstehen würde.
»So, das ist deine Sache?! Solange du unter meinem Dach lebst und ich deinen Kram bezahle, tust du, was ich dir sage. Sag' mir, wo du dich herumgetrieben hast, du verlogener Nichtsnutz, oder ich hole es anders aus dir heraus!«
»Nein ...«
Friedrich stellte das Whiskeyglas mit Nachdruck auf den Tresen, der den Wohn- vom Küchenbereich trennte und packte seinen Sohn hart am Arm.
»Gib' mir dein Telefon!«
»Nein.« Der Junge machte einen Schritt nach hinten, doch er wagte nicht, sich tatkräftig gegen seinen Vater zu wehren. Friedrich ging zwar auf die Fünfzig zu, doch er war stärker als Daniel und würde nicht zögern, diese Kraft gegen ihn einzusetzen. Und tatsächlich packte er seinen Sohn wieder am Arm, dieses Mal so fest, dass Daniel einen leisen Schmerzenslaut von sich gab, und zog ihm das Handy aus der Tasche.
»Du glaubst wohl, ich lasse mir von dir auf der Nase herum tanzen, was? Ich habe dich nicht zu einem nichtsnutzigen Niemand erzogen, der seinen Eltern dreist ins Gesicht lügt!«, fauchte Friedrich böse und klappte das Mobiltelefon auf. Da er jeden Tag selbst mit diesen Geräten zu tun hatte, brauchte er nicht lange suchen, um in die Anruflisten und SMS zu gelangen. Es war nicht schwer für ihn, die intimen Nachrichten zu lesen, die Daniel mit Marius ausgetauscht hatte.
Der Jugendliche spürte, wie der Druck in seinem Gaumen immer mehr anstieg. Dass sein Vater die privaten Dinge las, machte ihn krank und fühlte sich fast so an, als würde er nackt unter einem Scheinwerfer stehen, vor einer Meute, die nur zu bereit war, mit Steinen nach ihm zu werfen.
»Wer ist das?«, flüsterte Friedrich bedrohlich. Er zischte wie eine Schlange, weil der Absender der pikanten Textnachrichten nicht unter einem Namen, sondern unter einer Reihe von Ziffern eingespeichert worden war. Friedrich hatte keine Ahnung, dass diese für das Datum standen, an dem Daniel und Marius sich das erste Mal geküsst hatten.
»Eine ... Freundin ...«, versuchte der Jugendliche, die Situation zu entschärfen.
»So so, eine Freundin«, knurrte sein Vater. »Das ist das zweite Mal, dass du mir dreist ins Gesicht lügst. Eine Freundin, die dir solche Bilder schickt?!« Friedrich hielt Daniel das Telefon hin und der Junge seufzte lautlos. Das Foto war eine Abbildung von Marius' Bauchmuskeln. Er wusste, dass Daniel diese sexy fand, genauso wie die feine Haarlinie, die im Bund der deutlich zu erkennenden Männerunterhose verschwand.
»Also, Freundchen. Entweder du spuckst aus, was für widerwärtiges Zeug du hinter unserem Rücken treibst oder es setzt eine Tracht Prügel, auf die du eine Woche nicht sitzen kannst. Sag' mir, dass du einer von diesen schmutzigen Aids-Homos bist und ich verpass' dir eine Lektion, was richtig und was falsch ist. WER ist das?! Wer schreibt dir so ein perverses Zeug?«
Daniel biss sich auf die Lippe und keuchte, als Friedrich ihm eine Ohrfeige gab. Tränen schossen dem Jungen in die Augen. Sein Vater hatte ihn noch nie zuvor geschlagen.
»Mach' deinen Mund auf, verdammt. Wer. Ist. Das?« Jedes der Worte begleitete eine weitere Schelle, schwächer als die erste, aber doch spürbar. Der Jugendliche schluchzte und zog die Nase hoch. Als Friedrich erneut die Hand hob, zuckte Daniel zusammen und senkte den Kopf.
»Marius«, flüsterte er fast lautlos und wischte sich über das Gesicht. Die Tränen liefen ihm in die Mundwinkel und die Kälte, die zuerst in seinem Rücken war, hatte nun sein Herz erreicht. Er fühlte sich, als hätte er ihre Liebe verraten und zu etwas gemacht, das schlecht war.
»Marius Förster? Dieser verkommene Abschaum schreibt, dass er gern an deinem ... Ding ... knabbern will? Du hast ihn das doch nicht machen lassen, oder? Rede!«
»Ich ... ich bin verliebt in ihn ...«, hauchte Daniel und hob den Kopf, nur um in das wutverzerrte Gesicht Friedrichs zu schauen, der ihn erneut ohrfeigte, dieses Mal so hart, dass der Jugendliche spürte, wie seine Lippe aufplatzte. Er schmeckte Blut auf der Zunge, das sich mit den Tränen auf seinen Wangen vermischte.
»Das ist Schwachsinn! Männer können keine Männer lieben! Schwule sind Tiere! Dreckig und abnormal. So habe ich dich nicht erzogen und ich werde das nicht zulassen. Erst recht werde ich nicht erlauben, dass der perverse Sohn dieses Schweins Heinrich Förster meinen Sohn zu seiner persönlichen Hure macht.«
»Aber ...«
»Sei' still! Gott, du widerst mich an. Ich kann dich kaum anschauen, ohne mir vorzustellen, wie du dich von diesem Drecksbengel in den Arsch hast ficken lassen!« Friedrich spuckte Daniel vor die Füße, der schmerzhaft den Atem ausstieß und die Augen schloss.
Sein Vater reduzierte die Zärtlichkeit und all die schönen, intensiven Stunden mit Marius auf reine, triebhafte Lust und würde nicht verstehen, wie viel mehr diese Momente für Daniel waren, selbst wenn der Junge versuchen würde, es ihm zu erklären. Friedrich wollte es nicht verstehen, er wollte nicht hören, dass es um Liebe ging und nicht um Sex.
»Marius ist mein Freund«, beharrte der dunkelhaarige Jugendliche mit einem Anflug von Mut. Er wollte nicht, dass Friedrich etwas in den Schmutz zog.
»Das kannst du dir abschminken! Unter meinem Dach werde ich das nicht dulden. Aber das reicht, um diese verkommene Familie endlich aus Lengwede wegzubekommen, egal wie sehr alle den alten Erich mochten. Keiner will so eine Schwuchtel hier haben.« Der Mann wandte seinen eben noch angewiderten Blick von Daniel ab und wirkte fast fröhlich.
»Was ich will, ist dir völlig egal, oder, Papa?«, murmelte der Jugendliche und wischte sich mit dem Handrücken das Blut der ledierten Lippe vom Kinn.
»Was weißt du denn schon, was du willst? Du bist ein dummes Kind. Mein Sohn noch dazu! Und der gibt sich weder mit Abschaum noch mit Homos ab, geschweige denn benimmt er sich wie eines dieser Schweine, die kleine Jungs begaffen. Ich lasse nicht zu, dass du meine Reputation gefährdest!«
»Marius ist nicht pädophil. Er will mich und keine Kinder.«
»Wenn du noch ein Wort sagst ... diesen Namen noch einmal in den Mund nimmst ... oder überhaupt irgendetwas. Scher' dich in dein Zimmer und bade in Bleiche. Vielleicht geht dadurch der schwule Dreck von dir ab. Gott, widerlich ... man sollte es dir ausprügeln.«
»Was hab' ich getan, um zu verdienen, wie ihr mich behandelt ...«, murmelte Daniel, doch Friedrich grunzte nur, während er in seinem eigenen Telefon nach irgendwelchen Nummern suchte. Offenbar plante er bereits etwas für den nächsten Morgen und hatte kein Interesse mehr daran, seinen Sohn zu schikanieren. Als der Junge nach seinem Handy greifen wollte, schlug der Mann die Hand allerdings weg.
»Du glaubst doch nicht, dass ich dir das Gerät voller widerlicher Schmuddelbilder lasse, damit du dir darauf einen runterholen kannst, oder? Du hast das letzte Mal ein Wort mit diesem Bengel gesprochen, ob via Handy noch persönlich.«
»Was? Das ist mein Handy!«
»Dass ich gekauft habe und bezahle. Vergiss' es. Du bist eine Schande für meinen Namen und kannst froh sein, dass ich dich nicht mit Schimpf und Schande aus dem Dorf jage. Ich kann so kurz vor den Bürgermeisterwahlen keinen Skandal gebrauchen. Deswegen hältst du deine Füße still oder ich stecke dich in eine Militärakademie, bis du einundzwanzig ist. Ist das klar?!«
»Das ist alles, worum es dir geht ... dein blödes Amt.«
Daniel zuckte zusammen, als Friedrich die Faust auf den Tresen donnerte. »Red' nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst. Du hast bisher ein gutes Leben gehabt deswegen. Wag' es nicht, mir so zu kommen.«
»Ein gutes Leben ... dich interessiert nicht mal, dass die Hälfte der Jugendlichen hier in Lengwede mich all die Jahre gemobbt und für eine Witzfigur gehalten hat. Und das nur deinetwegen! Weil du so ein selbstverliebter Patriarch bist, der sich gern reden hört.«
»Schieb' es nicht mir in die Schuhe, dass du zu schwach bist, um dich selbst zu behaupten. Ich habe dir jedes Mittel dafür mitgegeben. Du hast sozialen Stand, Bildung, Wohlstand und die richtigen Kontakte. Wenn du lieber mit denen rumhängst, die es in ihrem Leben nie zu etwas bringen werden, ist das deine Schuld und nicht meine. Aber gut, wenn du sagst, dass du das allein nicht hinbekommst, dann nehme ich das wieder in die Hände. Und wir beginnen mit Marius«, Friedrich spuckte den Namen aus, als wäre er ein ekliges altes Stück Essen, das ihm zwischen den Zähnen stecken geblieben war. »Entweder du tust, was ich dir sage, oder ihm werden drastischere Konsequenzen drohen als die Bekanntmachung, dass er ein Schwuler ist. Was für sich genommen schon schlimm genug sein dürfte ...«
Als Daniel schließlich allein in seinem Zimmer war, glaubte er, den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Sein Vater hatte ihn in der Hand und es gab rein gar nichts, was er dagegen tun konnte ...
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