Kapitel 1
Lengwede, Sommer 2016
Die Gefühle, die in Marius Förster hochwallten, waren gemischt, als sein Wagen sich die schmale Straße nach Lengwede entlang schlängelte.
Erinnerungen an goldene Sommer zuckten durch seinen Kopf, während seine blauen Augen über die Felder und Wiesen glitten, die den Ort seiner Kindheit umgaben und schützend einbetteten. Ebenso wie die Gedanken an tiefverschneite Winter, in denen sie, die Kinder des Ortes, den Wassergraben unsicher gemacht hatten, der Lengwede an einigen Stellen durchzog. Die Begeisterung war immer groß gewesen, wenn die Straßen vereist waren, deswegen die Schule ausfiel und man sich, dick eingepackt, zum Spielen dort getroffen hatte.
Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen, irgendwie kam jeder mit dem anderen zurecht und man kümmerte sich nicht um den Klüngel, den die Erwachsenen miteinander auszutragen hatten. Das waren schließlich deren Angelegenheiten gewesen.
Die Erinnerungen, die ein Lächeln auf das Gesicht des jungen Mannes gezeichnet hatten, veränderten sich allerdings, je näher er dem Ort kam, den er vor Jahren verlassen hatte. Seine Hände umfassten das Lenkrad fester, als er das Eingangsschild passierte und die Reitschule Walter hinter sich ließ. Wenige Meter vor sich konnte er bereits die Gaststätte ausmachen, in der sich nach einem langen Tag die Landwirte des Dorfes noch immer auf ein Bierchen trafen.
Er wusste, dass auch sein Vater zu diesen Männern gehörte, sich betrank und abends sternhagelvoll nach Hause kam. So war es früher schon gewesen. Und es würde so bleiben, bis ihn entweder der Schlag traf oder seine Leber versagte.
Marius gönnte es seinem alten Herrn, eines Tages so zu sterben. Es mochte zu leicht sein, ihm die Schuld an allem zu geben, was in seiner Jugend in Lengwede schief gegangen war, doch er betrachtete den Fall seines Vaters als dessen gerechte Strafe dafür, zu seiner Familie ein Scheusal gewesen zu sein.
Mit unangenehm feuchten Händen lenkte Marius den Wagen an der Kirche vorbei und bog in die Seitenstraße ein, die in einer Sackgasse mündete, an deren Ende sich der Hof seiner Eltern befand.
Das Auto anhaltend blickte er mit mulmigem Gefühl im Magen zu dem alten Fachwerkbauernhaus hoch. Es bildete eine Seite der Einfriedung, die einen großen Innenhof umgab. Der eigentliche Haupteingang befand sich drinnen. Um ins Gebäude zu gelangen, würde er klingeln müssen, damit ihn jemand auf das Grundstück ließ.
Er schluckte schwer beim Blick auf sein Elternhaus. Es sah heruntergekommen aus, die Gardinen in den Fenstern zur Straße wirkten fadenscheinig und staubig und die Scheiben waren schmutzig, was der helle, sommerliche Sonnenschein noch deutlicher machte.
Was war in den letzten Jahren hier geschehen, dass seine Mutter, die immer so auf Ordnung bedacht gewesen war, alles so herunterkommen ließ? Schaffte sie den Haushalt nicht mehr allein? Dass sein Vater ihr dabei keine Hilfe war, wusste der junge Mann schließlich. Dieser war noch nie zu mehr gut gewesen als zu toben, zu pöbeln und zu prügeln. Zwischendrin verdiente er gerade genug Geld, damit sie nicht verhungerten, und verlangte für jeden Pfennig Rechenschaft, den seine Frau ausgab.
Ein Gefühl, schwer wie ein Stein, belastete das Gemüt des Besuchers so sehr, dass er am liebsten den Zündschlüssel umgedreht hätte und wieder gefahren wäre. Er war hier nicht mehr zuhause. Das hatte man ihm damals deutlich gemacht. Nicht nur sein Vater und zwangsweise auch seine Mutter, sondern auch die Dorfbewohner selbst. Sie hatten ihm sehr eindringlich klar gemacht, dass es hier für jemanden wie ihn keinen Platz gab.
Sie alle hatten plötzlich nicht mehr den Marius Förster gesehen, den sie von klein auf gekannt hatten, der mit ihren Kindern gespielt hatte, der mit ihnen in die Schule gegangen war, mit dem sie befreundet gewesen waren.
Plötzlich war er jemand, etwas anderes für sie gewesen, etwas, das man zu verachten, zu hassen, zu bestrafen hatte. Und das sie in ihrer Nähe nicht dulden wollten, würden und konnten. Ihre Ablehnung war ihm wie eine Welle entgegen geschlagen und die Menschen, die ihn eigentlich hätten beschützen müssen, hatten sich dem Mob angeschlossen.
Keiner der Dörfler hatte ihm beigestanden - auch nicht Daniel. Der hatte sich ebenso gegen ihn gestellt wie alle anderen. Hatte verleugnet, was sie beide miteinander teilten und ihn verraten. Dieser Feigling!
Einzig und allein Marius' Großmutter Hannelore hatte in der ganzen Zeit zu ihm gestanden, ihren Enkel verteidigt und sich von den Menschen losgesagt, die diesen verurteilt hatten.
Der hatte schließlich seine Koffer gepackt, war gegangen und nie zurückgekehrt. Bis heute.
Schwer atmend lehnte er sich in dem Sitz zurück. Er hatte sich immer geschworen, er würde nur nach Hause zurückkehren, wenn seine Oma ihn darum bitten würde. Doch das hatte sie nie. Sie wusste, dass es ihn schmerzen würde. Stattdessen war sie zu ihm gekommen, jedes Jahr mindestens einmal, zwölf Jahre lang.
Und nun war er hier. Es war seine Pflicht. Sie hatte ihn all die Jahre besucht, nun würde er zu ihr kommen, ein letztes Mal. Um Abschied zu nehmen und Danke zu sagen für all die Kraft, die sie ihm gegeben hatte.
Mit schmerzender Kehle schluckte er den Kloß im Hals herunter und blickte auf den Beifahrersitz.
Dort lag der Brief des Bestattungsunternehmens, das von der alten Dame den Auftrag bekommen hatte, ihren Enkel im Falle ihres Ablebens zu informieren und zur Beerdigung einzuladen. Sie wollte wohl auf Nummer Sicher gehen. Und damit hatte sie Recht gehabt.
Die Beisetzung sollte bereits am nächsten Tag stattfinden und seine Eltern hatten bislang keinen Finger krumm gemacht, ihn von sich aus darüber zu informieren. Offenbar hielten sie es nicht für nötig, ihrem Sohn den Abschied von seiner Großmutter zu ermöglichen. Oder sahen es als eine weitere Form der Strafe, weil er es gewagt hatte, anders zu sein und sie damit in ihren Augen der Lächerlichkeit preisgegeben hatte.
Marius straffte die Schultern und wischte sich über die Nase. Er würde keine feuchten Augen haben oder eine belegte Stimme, wenn er an der Tür seines Elternhauses klingelte.
Er wollte unter keinen Umständen, dass seine Erzeuger dachten, er wäre ihretwegen in irgendeiner Weise gerührt. Sie würden ihn vermutlich genauso wenig wiedersehen wollen wie er sie - auch wenn er in den letzten Jahren oft an seine Mutter gedacht hatte, die schon, als Marius noch ein Kind war, sehr unter ihrem Ehemann zu leiden gehabt hatte.
Seine Großmutter hatte auf ihren Besuchen immer darüber geklagt, wie es hatte möglich sein können, dass ihr eigener Sohn so ein unausstehlicher Choleriker werden konnte, wo doch ihr Gatte zahm wie ein Lamm gewesen war.
Andererseits war Marius' Mutter nie für etwas eingetreten. Weder für sich selbst noch für ihren eigenen Sohn, als Heinrich, dessen Vater, irgendwann begann, auch ihn zu schlagen, wenn er besoffen, frustriert oder einfach in schlechter Stimmung war.
Es mochte an Lengwede liegen, das winzig war, nur etwa hundertdreißig Einwohner zählte und ziemlich ab vom Schuss lag, doch wenn es hier in einer Familie häusliche Gewalt gab, wusste insgeheim der ganze Ort davon.
Auf dem Land war es jedoch fast üblich, dass sich niemand in private Angelegenheiten einmischte. Das tat man einfach nicht. In Dörfern, wo jeder jeden kannte, wusste man auch um die dunklen Geheimnisse und die Dinge, die hinter verschlossenen Türen geschahen, doch man kümmerte sich nicht darum. Gleichzeitig stand man einer Mauer des Schweigens gegenüber, wenn doch einmal etwas geschah und die Offiziellen, wie die Polizei, versuchten, etwas herauszubekommen. Wer etwas sagte, konnte in der Gemeinschaft durchaus dafür geächtet werden.
Marius war mit der Gewissheit aufgewachsen, dass es zum ‚guten Ton' gehörte, ungehorsame Söhne mit einem Stock oder notfalls der bloßen Hand zu züchtigen. Das nannte sich dann Erziehung, Respekt beibringen, auf dass man seinem Vater nicht widersprach.
Jeder wusste es, wenn man sich ein paar gefangen hatte und alle sahen weg, wenn deswegen ein Veilchen im Gesicht blühte. Und das tat es bei Marius oft. Selbst die Lehrer in der Schule im Nachbarort sagten nichts. Weil das unter Bauern so war und wer eine gescheuert bekommen hatte, hatte das auch sicher verdient.
Der Einzige, den das damals zu bestürzen schien, war Daniel gewesen ...
Der junge Mann im Auto schüttelte den Kopf und griff nach dem Brief.
Das war Geschichte. Marius hoffte, dass er ihn, solange er in Lengwede war, nicht wiedersehen musste. Denn er wusste von seiner Großmutter, dass Daniel noch immer hier lebte. Hier versauerte, traf es wohl besser.
Marius stieg aus und blickte sich um. Der Geruch nach frisch gedüngten Feldern lag in der Luft, ein strenger Mief nach Kuhmist, den die meisten Stadtmenschen mit Ekel abtun und als Gestank bezeichnen würden. Marius hingegen atmete, wie aus Reflex, tief ein und lächelte.
Dieser Geruch brachte Erinnerungen in ihm hoch an eine Kindheit, die abgesehen von seinem cholerischen Vater, wundervoll gewesen war.
Wild und frei, mit dem Gefühl, unsterblich zu sein. Erinnerungen an Tage, die unendlich gewesen waren, an deren überraschendem Ende man erschöpft, hungrig und bis zu den Haarspitzen dreckig nach Hause gekommen war.
Damals war ihm Lengwede allerdings viel größer erschienen. Heute wirkte alles eng, bedrückend und irgendwie alt.
Es war ein sonderbares Gefühl, hier zu sein. Obwohl alles kleiner zu sein schien als früher, hatte sich augenscheinlich nichts wirklich verändert. Nur das positive Gefühl, zuhause zu sein, stellte sich nicht ein. Er fühlte sich fehl am Platz. Er würde seiner Großmutter die letzte Ehre erweisen, da sie die Einzige gewesen war, die ihn immer und bedingungslos geliebt hatte, und dann würde er wieder verschwinden. Dieses Mal wirklich für immer.
Seine Eltern legten ebenso wenig Wert auf seine Anwesenheit wie er auf ihre Gesellschaft und er wollte auch nichts von ihnen. Sie hatten ihm nichts zu geben außer Verachtung und Minderwertigkeitsgefühle.
Marius straffte die Schultern. Damals, als er sein Zuhause verließ, hatte er alles zurückgelassen, was ihm eine Heimkehr ermöglicht hätte. Kleidung, ein paar persönliche Dinge, sein Erspartes und sein altes Auto waren alles, was übrig geblieben war von achtzehn Jahren, die er nie aus Lengwede herausgekommen war. Seine Hausschlüssel hatte er demonstrativ auf dem Küchentisch liegen lassen.
Heute musst er klingeln und hoffen, dass sein Vater nicht zuhause war, denn der würde ihm entweder die Tür vor der Nase zuschlagen oder - um an alte Zeiten anzuknüpfen - ihm zuerst eine scheuern.
Inzwischen war Marius jedoch erwachsen geworden und fürchtete den blinden Zorn nicht mehr. Den Jungen, der zusammengezuckt war, wenn sein alter Herr ins Zimmer kam, den gab es nicht mehr. Was ihm Sorgen bereitete, war lediglich ein stiller Nachhall schlechter Erinnerungen, die in ihm lebendig wurden, jetzt, da er wieder zurück war.
Der junge Mann verschloss den Wagen und verzichtete darauf, den Rucksack, der Wechselkleidung und sein Waschzeug enthielt, gleich mitzunehmen. Er wollte bei seinen Eltern nicht den Eindruck erwecken, lange bleiben zu wollen. Genaugenommen wollte er nicht einmal bei ihnen übernachten, um den morgigen Tag der Beerdigung abzuwarten. Er hatte sich, als er von dem Bestattungstermin erfahren hatte, sofort ein Zimmer in der Pension des alten Rusch genommen, der seinen Ferienhof mitsamt Pferdestall und Koppeln am Ortsrand hatte. Der alte Mann und seine Familie hatten einen ähnlich schweren Stand in der Ortschaft gehabt wie Marius, denn sie waren zugezogen, vermögend und hatten gutes Ackerland aufgekauft, um dort ihre Tiere weiden und laufen zu lassen. Das hatte vielen Bauern nicht gepasst.
Damals galten die Ruschs als ‚Neureiche' und waren Außenseiter in Lengwede, was sich bis zum heutigen Tag sicher nicht geändert hatte. Marius musste zu seiner Schande gestehen, dass auch er als Junge in diese Kerbe geschlagen und den Enkel des alten Rusch, Alexander, geschnitten hatte wie alle anderen. Inzwischen tat ihm das leid, denn heute wusste er nur zu gut, wie sich das angefühlt haben musste, wenn einen alle mieden, weil man war, wer man war.
Mit dem Brief des Bestatters in der Hand atmete Marius noch ein letztes Mal tief durch, bevor er an die Hoftür trat und den Knopf kräftig durchdrückte. Durch ein gekipptes Fenster konnte er den penetranten, harschen Ton der Klingel hören und fühlte sich, als würde er in Eiswasser gebadet werden. Diesen unangenehmen Klang hatte er über die Jahre vergessen und war froh darum gewesen. Es erinnerte ihn augenblicklich an jeden einzelnen Moment seiner Kindheit und Jugend, in dem sein Vater ihn angebrüllt hatte.
Nervosität kroch die Kehle des jungen Mannes hoch und er musste sich ein weiteres Mal daran erinnern, weswegen er gekommen war, da er sonst auf den Hacken kehrt gemacht und abgehauen wäre. Er konnte ein Türenknarren hören, aber zu seiner Beruhigung kein Fluchen, was bedeuten konnte, dass sein alter Herr nicht anwesend war. Da das Tor zum Hof geschlossen war, konnte Marius nämlich nicht erkennen, ob der klapprige Pickup oder der Traktor da waren.
Schweiß brach ihm aus, obwohl der helle Sommertag eher mild war, als die leisen Schritte auf dem dreckigen Pflaster näher kamen. Der Riegel schob sich zurück und die Tür wurde mit einiger Willenskraft aufgezogen. Der dunkelgraue, etwas zerzauste Haarschopf einer älteren Dame kam zum Vorschein, deren Wangen gerötet waren, als hätte sie gerade anstrengende Arbeit verrichtet.
Marius erschrak innerlich, als er seine Mutter vor sich sah, die ihn argwöhnisch betrachtete, offensichtlich außerstande, ihren Sohn zu erkennen. Sie war alt geworden und sah müde aus.
»Wir kaufen nichts und lassen keine Vertreter rein«, schnarrte sie unfreundlich und wollte schon die Tür wieder zumachen, als der junge Mann seine Stimme wiederfand.
»Hallo, Mama.«
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