Auftritt im Nebel
Sibirien, 30.Januar 2018
„Estella?"
„Ähm, nein. Ich bin Lou. Also eigentlich Louise." Ich nestelte nervös an einem losen Faden meiner Jacke herum. Selian schien fasziniert. Ja, das war das richtige Wort, fasziniert von mir, und er kam langsam näher.
„Du bist wirklich... meine Tochter?"
„Ja." Und auch wenn es wahrscheinlich extrem schwer war, fast unmöglich, einen Mann, einen wahren Magier zu Tränen zu rühren, dann hatten wir es doch geschafft.
„Das ist..." heftig,
„...ein Wunder." Ich musste mir Mühe geben, den Tränen die nun auch mir in die Augen stiegen, nicht freien Lauf zu lassen. Das war einfach zu viel, dieser Moment war besser, tausend mal besser als ich ihn mir je erträumt hatte.
„Ich hatte auch keine Ahnung von euch, beziehungsweise von dir, bis ich... na ja, vor einem Jahr auf dieses Buch gestoßen bin. Lange Geschichte." Ich versuchte ein Lächeln.
„Dann bist du auch eine Magiern?"
„Hm, ja, scheint so."
„Nicht nur das, Lou ist total begabt! Sie kann den Unsichtbarkeitszauber und ehrlich gesagt bezweifele ich es nicht dass sie in nächster Zeit auch das Teleportieren meistert", mischte sich Philine ein die von unserer emotionalen Begegnung gerührt schien und sich ebenfalls eine kleine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Ich sah zu Alex. Er beobachtete uns mit Neugierde, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Hatte er vielleicht auch noch nie.
„Das ist mehr als ich mir je wünschen könnte. Eine Tochter, und dann auch noch eine Magierin. Kann ich... kann ich dich in den Arm nehmen?"
„Ja." Das war mein größter Wunsch, seit ich klein war. Und ich konnte nicht fassen, dass er sich jetzt erfüllte. Mein Vater drückte mich und ich heulte so richtig los.
„Wow. Ich bin echt überwältigt", meinte er zeitgleich. „Das mit vorhin tut mir Leid. Ich hätte ja niemals wissen können..."
„Schon okay. Jetzt ist ja alles gut, alle heulen und ruinieren ihr Make-Up, aber okay, alles gut", meinte Philine, direkt wie immer.
„Ich kann nicht fassen dass Estella mir nichts gesagt hat. Sie hat ein Kind, ein wundervolles Kind, und hat mir nichts gesagt." „Vielleicht hatte sie Angst", verteidigte ich sie. „Vielleicht war sie überfordert."
„Aber das ist noch lange kein Grund, mir das zu verschweigen. Mein Gott, ich wäre sogar mit ihr zurückgekommen! Ein Kind hätte die ganze Situation verändert!" Selians Stimme wurde lauter und in sein sonst so perfektes Englisch mischte sich ein kleiner französischer Akzent. Süß. „Warum bist du nicht eher gekommen?"
„Wie gesagt, ich wusste nichts von euch. Estella... meine Mutter hat mich damals in einem Waisenhaus in London abgegeben. Mit einem Zettel mit meinem Namen. Ich dachte immer, meine Eltern wollte mich nicht...na ja, egal. Ich bin umso glücklicher, dich jetzt zu sehen."
„Louise... wenn ich das damals gewusst hätte... ich hätte dich nie an jemanden abgeben können. Ich kann es immer noch nicht glauben, auf einmal eine Tochter zu haben. Besonders, wenn sie schon so groß ist." Er lachte. „Dann müsstest du schon fast erwachsen sein, oder?Ich bereue es jetzt schon, keinen einzigen Moment aus deiner Kindheit zu kennen, dass du bei fremden Leuten aufgewachsen bist..." Er schlug sich die Hände vors Gesicht.
„Meine Adoptiveltern sind echt in Ordnung. Eine glücklichere Kindheit hätte ich nicht haben können." Er seufzte.
„Trotzdem. So etwas ist unverzeihlich. Wie konnte Estella dir das nur antun? Wie konnte sie dich einfach so weggeben?" Tja, das war die Frage, die ich mir seit nun fast schon achtzehn Jahren stellte. „Wo ist sie überhaupt? Ist sie nicht hier?"
„Ähm, ja, genau da liegt das Problem. Estella ist vor fünf Jahren abgehauen und keiner weiß, wo sie steckt." „Nicht schon wieder. Das hat sie früher immer gemacht, wenn sie was angestellt hatte." Schweigen. Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf, das es schwierig war, die unwichtigen auszublenden, und mich auf das wichtige zu konzentrieren. Schließlich übernahm Alex das für mich.
„Selian, wir haben eigentlich nicht viel Zeit. Die beiden hier sollten nämlich eigentlich nicht hier sein, Lou ist... nicht gerade beliebt bei den wahren Magiern." Nette Untertreibung.
„Warum kommst du nicht mit nach Paris? Ist deine Tochter nicht ein perfekter Grund, endlich ein neues Leben zu beginnen?" Selians Miene verfinsterte sich.
„Ich würde nur zu gerne. Aber das ist gefährlich, ich hätte keine ruhige Minute mehr, wäre immer auf der Flucht. Im Prinzip würdest du mich nicht öfter sehen als so auch. Aber ich würde es versuchen. Natürlich nur, wenn meine Tochter einwilligt", fragte er an mich gewandt.
„Ja!" Ich strahlte. „Ich wäre überglücklich!" Ich wusste, dass alles hier perfekt lief. Fast zu perfekt. Und wie ich aus fast achtzehnjähriger Erfahrung wusste, Perfektion war etwas das ich wenn höchstens von weitem betrachten konnte.
Wir fuhren alle herum, als die Türen zum Saal plötzlich aufschwangen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als niemand davor stand, die Tür wie von Geisterhand geöffnet worden zu sein schien. Das war gar nicht gut.
„Alex? Was zur Hölle ist das?" Er war von der Bank aufgesprungen und stand nun neben mir, legte schützend einen Arm um mich.
„Ich habe keinen blassen Schimmer", murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Aber das sieht ganz und gar nicht gut aus.
„Oh nein." Das war Seilen. „Wir müssen hier weg!" Philine betrachtete die Tür derweil nur stirnrunzelnd.
Ich war nicht überrascht, als ich plötzlich Nebel durch die Saaltüren hereinschweben sah, der vom Flur aus hereinwaberte. Das war Magie.
„Okay, jetzt habe ich offiziell Angst", bestätigte Philine auch mein Gefühl. Da würde wohl keine Hippieverkleidung mehr herhalten, denn wer immer da draußen war hatte uns gefunden und ließ auch keinen Zweifel daran uns das mitzuteilen.
Das Licht im Saal flackerte und es dauerte nicht lange bis die Glühbirnen eine nach der anderen mit einem Zischen explodierten. Das ungute Gefühl in meiner Magengrube stieg von Sekunde zu Sekunde an. Dieser Auftritt hier war mir ganz eindeutig einen Ticken zu dramatisch. Und ich kannte nur eine Person, die das hier voll und ganz genießen würde.
Die anderen neben mir zuckten zurück, als ich auf einmal Licht aus meinen Händen strömen ließ. Es breitete sich im ganzen Raum aus, bis auch der letzten Winkel mit einem leichten goldenen Dämmerlicht erfüllt war.
Das alles konnte jedoch nicht von der Gestalt ablenken, die sich in diesem Moment einen Weg durch den Nebel bahnte. Erst ein Schatten, dann die Umrisse einer Person, die immer klarer und schärfer wurden je näher sie kam.
Ich schob meine Hand in Alex und hoffte, wenn möglich, dass wir heil aus dieser Sache herauskamen. Denn jetzt würde es ernst werden, da war ich mir sicher. Wer immer da kam, wahrscheinlich eine der Wachen, würde mich erkennen.
Umso erschrockener war ich, als ich die Person erkannte, die da aus dem Nebel trat.
„Nein!", krächzte ich. „Nicht du, das kann nicht sein!"
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