Alte Bekannte
London, Dezember 2017
"Moment mal... du bist adoptiert? Und du hast deine Eltern gesucht? In Russland?!"
Rick sah mehr als erstaunt aus.
"Ja. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich zu meinem Onkel fahre, aber da habe ich dich angelogen." Ich schluckte und hoffte, dass ich mir hier gerade nicht meinen einzigen Verbündeten verlor.
"Wow. Das ist..."
"Unehrlich, gefährlich und dumm, ich weiß. Aber verstehst du nicht, ich muss herausfinden wer meine leiblichen Eltern sind! Stell dir mal vor du wärst adoptiert, würdest du da nicht auch wissen wollen wer deine Eltern sind?" Rick nickte verständnisvoll.
"Ja, schon irgendwie. Aber ob ich dafür nach Russland fahren würde? Ehrlich gesagt keine Ahnung. Und wieso haben die dich dann in Australien aufgegabelt? Du wurdest international gesucht, Louise! Ich hab schon gedacht, dass ich dich nie wiedersehe!" Er sah mir direkt in die Augen und ich konnte dahinter den Schmerz ausmachen, den er empfand. Hatte er sich wirklich so um mich gesorgt?
"Es tut mir Leid." Mehr konnte ich dazu nicht sagen. "Das ist so eine lange Geschichte..." Und ich wusste nicht ob ich dazu bereit war, sie jetzt schon zu erzählen. Rick nickte nur und sah trotzdem etwas enttäuscht aus. Er trat einen Schritt zurück.
"Ich muss jetzt wieder rein..." Er ließ den Satz offen, doch ich schüttelte nur mit dem Kopf.
"Wenn ich mich schon über meine Lage beklage, sollte ich auch etwas daran ändern."
"Okay."
"Willst du morgen zu mir kommen? Dann hätte ich mehr Zeit."
"Bis morgen." Er hob die Hand und verschwand wieder hinter der Eingangstür, zurück in die Klasse. Ich machte mir keine Gedanken über mein Fernbleiben vom Unterricht. Da würde sich schon irgendwie eine Lösung finden.
~~~
Keine Stunde später stand ich vor dem Ort, an dem meiner Meinung nach alles angefangen hatte. Die Bibliothek des mysteriösen Freundes von Mrs.Sally. Ich stand unschlüssig auf der anderen Straßenseite und versuchte, durch die Glasscheiben der Buchhandlung etwas im Inneren zu erkennen. Das die Buchhandlung offen war, erkannte man allein daran, dass das Schild an der Tür auf >Offen< gedreht war, im Inneren war keine Bewegung zu sehen.
Aber ich war ja nun schon mal hier, nicht wahr?
Es wäre dumm, jetzt wieder zu gehen. Mein Gott, ich musste aufhören immer alles anzuzweifeln!
Aufrecht ging ich auf die andere Seite der Straße und drückte die Klinke. Ich sah mich um, konnte aber niemanden erkennen. Fast erwartete ich schon, den alten Mann wieder hinter einer als Bücherregal getarnten Geheimtür herauszukommen, doch nichts geschah.
"Hallo?"
Wieder nichts.
"Das ist mir echt zu blöd", murmelte ich wie zu mir selbst. Immer noch nichts.
Schließlich drehte ich mich zu dem Regal, aus dem der Alte beim letzten Mal hervorgekommen war. Ich legte meine Hand an eines der Regale und tastete das Brett unten ab. Nichts. Selbst bei den Anderen nicht. Ich zog alle Bücher heraus, eins nach dem Anderen, doch wieder geschah nichts. War der eigentlich dumm? Mit ein bisschen Hilfe hätte ich in der Zeit, in der ich hier war, schon den ganzen Laden ausräumen können.
Okay, noch ein letzter Versuch. Ich hatte sowas schon mal in einem Film gesehen, die Geheimtür war da durch einen Knopf an der Seite ausgelöst worden... Ich untersuchte jede Kleinigkeit der Regalseitenwände, bis ich erschöpft aufgab. Dann halt nicht! Ich lehnte mich gegen das Regal und erwartete schon fast, dass ich so dumm gewesen war und es einfach nach hinten aufschwingen würde, als...
Oh nein. War ich dumm! Letztes Mal war das Regal nach innen aufgegangen. Hieß, auf dem an der Scheibe klebenden Schild würde >Ziehen< statt >Drücken< stehen. Na ja, das war ja mal wieder ein typische Fehler meinerseits. Ich zog leicht an der einen Seite des Regals und prompt schwang es leicht auf. Ich verfluchte mich und zog die Tür ganz auf.
Dahinter kam ein enger Gang in Sicht, der nach hinten abknickte. Ich fragte mich, warum der alte Mann wohl so etwas bauen hatte lassen. Oder war der Gang schon da gewesen? Nicht ausgeschlossen angesichts der Jahre, die diese Häuser schon auf dem Buckel hatten.
Ich sah mich noch einmal im Laden um und zwängte mich dann in den Gang. Neugierig lugte ich um die Ecke, die nach fünf Meter abzweigte und war mehr als überrascht, als ich den alten Mann in einem angrenzenden Raum an einem Schreibtisch sitzen sah, vor sich ein Buch, dass er im Kerzenschien las und anscheinend völlig darin versunken. Der Raum hatte keine Fenster aber links in der Ecke führte eine Treppe hoch zu einer Tür.
"Hi."
Wie vom Blitz getroffen fuhr er hoch und griff sich an die Brust. Oh verdammt, genau das hatte ich doch nicht gewollt!
"Sorry, sorry, ich wollte sie wirklich nicht erschrecken aber ich war im Laden und habe sie gesucht...", erklärte ich mich. Der alte Mann stand plötzlich mit erschreckender Geschwindigkeit auf und hielt sich an der Stuhllehne fest.
"Was willst du?" An seinem verengten Blick erkannte ich, dass er wusste, wer ich war. Oh ja, er hatte mich wiedererkannt.
Und er sah nicht so aus, als ob ich mir Sorgen um ihn machen müsste.
"Ich will wissen, was sie damit zu tun haben! Hat Viola sie beauftragt? Welche verdammte Rolle spielen sie in diesem ganzen Magiegewirr?!"
Er senkte den Blick und setzte sich langsam wieder auf den Stuhl.
"Du hast deine Antworten also gefunden." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
"Auf was? Das es Magie gibt? Oder eher dass sie Schuld an diesem ganzen Schlamassel sind? Ich weiß, dass sie mit Viola zusammenarbeiten, sie müssen sich nicht verstellen", funkelte ich ihn wütend an. Er runzelte die Stirn.
"Viola? Meinst du Viola Samuels?"
"Ganz genau die."
Er drehte sich zu mir um und in seinem Gesicht stand neben Erstaunen auch Unglauben.
"Viola und ich haben uns schon jahrelang nicht mehr gesehen..." Ich konnte nichts sagen, sondern sah ihn nur verständnislos an.
"Sie haben mir dieses Buch gegeben! Und es hat mich direkt zu Viola geführt, also keine falsche Unschuld! Und wer zur Hölle sind sie eigentlich?!" Er sah mich lange an, fast schon träumerisch, bis er zu einer Antwort ansetzte.
"Ich war Lehrer. Meine Schülerin war fast so wie du, sie wollte auch immer alles wissen. Ich vermute, du hast sie bereits kennengelernt. Viola."
"W-Wie bitte?!" Das konnte doch nicht wahr sein, oder? "Sie waren Violas Lehrer?"
"Und nicht nur der, auch von ihrer Schwester, Kora."
"Sie waren ihr Lehrer..." Ich konnte es nicht fassen und starrte den alten Mann nur ungläubig an. "Aber das erklärt immer noch nicht, wieso sie mir dieses Buch gegeben haben!"
"Ich schätze, du kannst es Melancholie nennen. Ich wollte noch einmal etwas Gutes tun, in meinem Laden passiert nicht mehr so viel wie früher. Und ich wusste in der Sekunde, in der du Magie erwähnt hast, dass du eine von uns bist. So ist es doch, oder?" Ich nickte geistesabwesend mit dem Kopf.
"Ha! Ich wusste es doch!" Er klatschte aufgeregt in die Hände. Doch dann wurde sein Blick trübe.
"Du hast also Viola getroffen?"
"Nicht nur das... Aber ja. Sie..." Ich konnte es einfach nicht sagen.
"Weißt du, sie war eine meiner besten Schülerinnen. So wissbegierig. Und talentiert!"
"Sie haben sie unterrichtet...?"
"Oh ja. Magie hat ein sehr umfangreiches Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten und nicht bei jedem von uns ist es gleich ausgeprägt."
"Viola ist... Sie war... Sie ist die Anführerin der wahren Magier!"
Zu meiner Überraschung zuckte er kaum mit der Wimper.
"So etwas hatte ich mir schon gedacht. Nachdem sie den Kontakt abgebrochen hat war sie lange Zeit wie verschwunden. Aber ich wusste genau, wo sie ist."
"Ach ja? Und wo war das?"
Er stand in einer einzigen Bewegung auf.
"Komm mit, ich zeige dir einen kleinen Einblick in die Vergangenheit." Skeptisch beobachtete ich, wie er die Treppe hinaufstakste und die Tür aufzog. Letztes Mal war er mir noch nicht so gebrechlich vorgekommen. Oder war das bloß Einbildung gewesen?
Andererseits hatte ich echt nichts mehr zu verlieren. Ich folgte ihm und er führte mich über einen Flur zurück in die Buchhandlung. Kein Kunde war in Sicht und der alte Mann holte ein Fotoalbum hinter dem Tresen hervor und schlug es auf.
Auf dem ersten Foto erblickte ich zwei Mädchen in meinem Alter, die beschäftigt Bücher in ihren hielten und hier saßen, genau hier, in der Buchhandlung.
"Kora war das Ebenbild ihrer Schwester." Ich sah auf das Mädchen mit den langen braunen Haaren, auf das er zeigte. Ihre Züge kamen mir sehr bekannt vor. Alex war ihr so ähnlich.
"Sie haben ihnen also beigebracht, mit Magie umzugehen?", fragte ich, nun doch neugierig, nach. "Moment mal..." Mir war ein Gedanke gekommen, der eigentlich offensichtlich schien.
"Sie kannten ihn! Olivier Samuels, der Autor des Buches! Er war der Vater der beiden!" Er lächelte.
"Ich bin der Freund, von dem Olivier schreibt." Jetzt wurde einiges klarer.
"Das ist..." Mir fehlten die Worte.
"Aber jetzt erkläre mir mal, wie du in diese ganze Geschichte hineinpasst. Ich hatte nicht damit gerechnet, dich hier noch einmal auftauchen zu sehen.
"Ich bin... war auf der Suche nach meinen Eltern. Ich bin adoptiert und habe seit meinem elften Geburtstag diese Fähigkeit." Er nickte versunken.
"Je nachdem wie stark die Gene sind, tauchen sie früher oder später auf."
"Ja. Auf jeden Fall wollte ich wissen, was das ist, das ich da kann. Und dann haben sie mir dieses Buch gegeben. Und dann..." ...habe ich Alex getroffen, fügte ich in Gedanken hinzu.
"Immer langsam, Kind. Welche Fähigkeiten hast du denn?"
"Telekinese? Gibt es denn noch mehr?"
Er schüttelte den Kopf und ich atmete auf. Ich hatte mich schon auf mehr schockierende Fakten eingestellt, die meine Welt auf den Kopf stellen würden.
"Nein, allerdings bezeichnen wir das ganze eigentlich ungern als Telekinese, da es so viel mehr ist. Mit unserer Magie scheint alles möglich, Fliegen, Teleportation und sogar das Beherrschen der Elemente."
"Teleportation?", fragte ich überrascht.
"Denk lieber nicht darüber nach, dazu musst du viele Jahre lang trainieren und die meisten, die es bisher versucht haben, sind dabei gestorben, weil sie die Teilchen, in die sie sich aufgelöst haben, nicht mehr zusammenfügen konnten." Ich schüttelte mich und versuchte, nicht an so etwas zu denken.
"Viola ist tot." Der Satz kam einfach so heraus und ich wünschte mir im gleichen Moment, ihn nicht gesagt zu haben. Der alte Mann sah auf und ich konnte die Trauer sehen, die in seinem Blick lag.
"Viola ist tot?"
Ich nickte bestätigend.
"Das ist... überraschend." Er wandte sich ab. Dann drehte er sich doch noch einmal um und versuchte, die Tränen zu verbergen.
"Wie heißt du?"
"Louise."
"Louise, willst du vielleicht morgen noch einmal kommen? Dann können wir alles genauer besprechen, ich glaube im Moment..." Wieder nickte ich und konnte mich nicht überwinden, ein aufmunterndes Wort zu sagen. Schließlich war ich Schuld.
Wenig später stand ich auf der Straße und erkannte mit Überraschung, dass es schon fast Abend war. Oh verdammt, Sandra und Chris mussten sich unglaubliche Sorgen machen!
~~~
Sorgen machen war untertrieben. Mich erwartete eine halbstündige Predigt und ich konnte nur den Kopf einziehen und nicken. Schließlich hatten sie Recht, ich hätte mich melden müssen und nicht von der Schule abhauen dürfen.
"Ich habe was beschlossen", sagte ich schließlich, als die beiden fertig waren. "Ich muss noch mal los. Weg, meine ich."
"Wie bitte?", fragte Sandra mit großen Augen nach.
"Genau. Ich kann das nicht, ihr habt ja keine Ahnung was ich alles erlebt habe... Und ich kann das nicht einfach so wegstecken, versteht ihr? Ich muss weitermachen, gerade jetzt, wo ich so dicht an der Spur meiner Eltern dran bin." Das war gelogen, aber es schien mir ein mehr als wichtiges Argument, um die beiden zu überzeugen.
"Lou, ich brauche dir nicht sagen was ich davon halte, denn das weißt du nur zugut. Du wirst wiederholen müssen, wenn du jetzt nicht mit der Schule weitermachst."
"Na und, Sandra? Was zählt Schule denn noch, wenn es um Leben oder Tod geht?" Sie sah mich erschrocken an und ich beschloss, einen Gang herunterzufahren.
"Chris, bitte." Ich sah ihn mit dem besten Hundeblick an, den ich draufhatte.
"Lou, du kannst nicht erwarten, dass wir dich von der Schule befreien, das weißt du, oder? Die Polizei will, dass du in der Stadt bleibst und ich halte das bis auf Weiteres für die beste Lösung." Ich konnte nicht fassen, dass auch er mir in den Rücken fiel, doch ich versuchte, mich zu beherrschen.
"Okay. Ich bleibe noch eine Woche, dann reden wir noch einmal, ist das in Ordnung?" Sie sahen sich an, sagten jedoch nichts. Keiner von uns wollte einen unnötigen Streit provozieren.
"Wollen wir was basteln?" Richtig, es war Vorweihnachtszeit und da hatten wir normalerweise immer tausende selbstgebastelte Sterne für Sandras Kindergartengruppe und es hatte mir immer riesigen Spaß gemacht, alles mit den Sternen zu dekorieren. Jetzt empfand ich allein den Gedanken daran als unnötig, doch ich überwand mich zu einem Lächeln.
"Na klar." Die beiden strahlten.
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