Therapiestunde
London, 2017
Die Unterhaltung mit Misses Waves hatte etwas in mir ausgelöst. Und dieses etwas hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit Emily zu reden. Aber alleine herauszufinden welche Klinik und welches Zimmer sie zurzeit bewohnte erschien mir wie eine unlösbare Aufgabe. Da half es auch nichts, dass Rick mir seine Hilfe versprochen hatte. Ich wusste nicht, ob mir das recht war oder nicht, denn je länger ich darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien mir eine Zukunft, in der ich mehr von Rick wollte als eine normale Freundschaft. Aber Rick schien sich diesbezüglich ziemlich sicher zu sein, sonst würde er mir nicht immer und überall seine Hilfe anbieten. Eigentlich konnte ich mich in den letzten zwei Wochen an keinen Moment erinnern, in dem er nicht nur eine SMS entfernt gewesen wäre. Zu sagen, dass es mich nervte wäre zu viel gewesen, aber ich brauchte definitiv meine Auszeiten. Nicht nur für mich allein, sondern auch um meine Gedanken um Alex, den Idioten zu ordnen, den ich einfach nicht vergessen konnte. Obwohl ich mir nichts anderes zu Weihnachten wünschte als das!
Dann hatte ich Rick von der Idee mit einem Besuch bei Emily erzählt, in einer der vielen Stunden in der ich nur redete und er den besten Zuhörer der Welt spielte. Und er hielt die Idee für eine Möglichkeit, mit dem erst kürzlich vergangenen Abenteuer abzuschließen. Und um mein Trauma zu behandeln, dessen Lösung er sich voll und ganz verschrieben hatte. Aber ich brauchte keinen Therapeuten, Freund und potenziell noch mehr in einer Person, der immer die perfekte Lösung parat hatte und meine gelegentlichen Zusammenbrüche diskutierte, analysierte und zum Schluss dokumentierte. Alles was ich wollte, war so jemand wie Alex. Nein, ich wollte Alex, nur eben nicht die Version, als die er sich letztendlich entpuppt hatte. Aber das war unmöglich und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kamen mir meine Gedanken verrückt vor. Vielleicht strebte ich nach etwas Unmöglichem und verschloss mich der Realität. Vielleicht war Rick die einzige richtige Chance, die es im Moment zu treffen gab. Viele andere Mädchen wären hellauf begeistert, wenn jemand wie Rick Interesse an ihnen zeigte. Warum also nicht ich? Also ließ ich seine Hilfe zu, ließ zu dass er mich unterstützte, auch wenn sich mein Problem dadurch nur noch realer und schlimmer anfühlte. Aber ich musste auf seine Worte zählen. Dass das nur eine Frage der Zeit wäre. Also gab ich nach. Und jetzt stand ich hier, am Tresen einer Klinik für geistige Krankheiten, wie es so nett ausgedrückt war.
„Wir finden sie." Rick drückte meine Hand und holte gleichzeitig seinen Ausweis aus der Tasche. Nur, dass auf dem Ausweis nicht sein richtiger Name stand, sondern Michael Waves. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Woher hast du den? Du hast doch gesagt, du hast damit aufgehört!" Zu früheren Zeiten wäre Rick der richtige Ansprechpartner für alles, was einen Zusammenhang mit Gesetzesbruch hätte, gewesen. Schließlich hatte er mir den falschen Ausweis beschafft und ich war mir ziemlich sicher, dass er auch gedealt hatte. Aber er hatte mir versichert, dass diese Zeiten endgültig vorbei waren und er einen Neuanfang wollte. Anscheinend hatte ich mich da geirrt.
„Reg dich nicht auf, Lou, das ist nur ein einziger Ausweis. Und der ist unser goldener Schlüssel zu Emily." Trotzdem ging mir das diesmal eindeutig zu weit.
„Rick, ich habe dich nicht gebeten alle Hebel in Bewegung zu setzen, um zu Emily zu kommen. Ich hätte sicher auch einen anderen Weg hier rein gefunden. Ich habe auch ziemlich coole Fähigkeiten, erinnerst du dich?"
„Bei allem Respekt, Lou, wie sollen uns die denn helfen zu Emily zu kommen?" Empört wollte ich etwas erwidern, aber in diesem Moment kam die Rezeptionistin von ihrer Kaffeepause zurück und nahm ihren Platz hinter dem Tresen wieder ein.
„Wie kann ich Ihnen helfen?" Ich hatte fest vor, Ricks Ausweis da rauszulassen, aber er kam mir zuvor.
„Wir wollen jemanden besuchen. Emily Waves." Die Frau tippte auf ihrer Tastatur herum und schien fündig zu werden.
„Tut mir Leid, Besuch nur für die engste Familie. Kann ich Ihr etwas ausrichten?"
„Oh, ich bin Familie." Er hielt ihr seinen Ausweis entgegen und sie scannte sowohl den Namen als auch sein Bild mit den Augen ab.
„Der Bruder, nehme ich mal an. Und wer sind Sie?"
„Ich... bin..."
„Meine Freundin", kam er mir wieder zuvor. Ich würde danach ein ernstes Wörtchen mit Rick zu reden haben.
„Zimmer 205, zweiter Stock. Besuchszeit ist von zehn bis drei, also haben sie genau...", Sie warf einen Blick auf die Uhr, „eine Stunde." Sie reichte uns zwei hellgrüne Armbänder mit dem Aufdruck Besucher. „Bitte tragen sie die offen sichtbar am rechten Handgelenk." Damit war ihr Interesse an uns anscheinend abgehakt und sie widmete sich wieder ihren Patientenakten oder was auch immer auf ihrem Computer gespeichert war. Rick zog mich aus meiner Starre und zu den Aufzügen. Während er mir eines der Bänder reichte und sich gleichzeitig das andere um sein Handgelenk streifte, holte ich tief Luft um den Wortschwall, der mir auf der Zunge lag, in einem Atemzug auszusprechen.
„Was fällt dir eigentlich ein? Nicht nur gegen meinen Willen kriminelle Sachen abzuziehen sondern mich auch noch als deine Freundin auszugeben? Interessiert es dich eigentlich, was ich davon halte?" Rick schien den Grund meiner Wut nicht ganz zu verstehen.
„Aber ich versuche doch nur dir zu helfen, Lou. Glaubst du, das ist einfach? Ich mache mir Mühe und du solltest das wenigstens zu würdigen wissen." Mir verschlug es fast die Sprache und ich suchte verzweifelt nach Worten um meinen Gefühlszustand auszudrücken, fand aber keine. Deshalb erwiderte ich nichts, als wir zusammen in den Aufzug stiegen und auch nichts, als sich die Türen in der zweiten Etage wieder öffneten. Ich suchte automatisch nach Zimmer 205. Eigentlich sah es hier aus wie in einem ganz normalen Krankenhaus, vielleicht mit etwas weniger Trubel und dem fehlenden strengen Krankenhausgeruch. Aber das strahlende weiß der Wände und die geordnete Struktur kam mir überaus bekannt vor. Zimmer 205 war schnell gefunden und das kleine Schild mit dem Namen Waves an der Tür machte die Tatsache, das Emily in diesem Zimmer sein sollte, auch nicht realer. Ich wechselte einen Blick mit Rick, bevor ich die Hand erhob und leise an die Tür klopfte. Anscheinend zu leise, denn von drinnen kam kein einziger Laut.
„Glaubst du...", fing ich gerade an, aber Rick machte kurzen Prozess und drückte die Klinke der Tür nach unten. Mein erster Blick fiel auf Emily, die auf ihrem Bett saß, die Augen geschlossen, und mit Kopfhörern auf den Ohren. Das erledigte die Frage, warum sie mich nicht gehört hatte.
„Emily?", fragte ich etwas lauter. Ich wollte sie nicht erschrecken aber sie war so versunken in ihrer eigenen Welt dass ich keine andere Möglichkeit sah, sie auf mich aufmerksam zu machen. Sanft berührte ich sie am Arm und konnte gerade noch ausweichen, als sie vom einen Moment auf den anderen die Augen aufschlug und mit den Armen wild um sich fuchtelte. Doch als sie mich erkannte, wurde ihr Blick ruhiger und sie setzte die Kopfhörer ab.
„Lou! Was machst du denn hier? Ich dachte, meine Eltern hätten komplette Isolation beantragt!" Ich konnte nicht erkennen ob sie das ironisch meinte oder nicht.
„Ich habe bei euch zu Hause geklingelt und deine Mutter hat mir... ähm... erzählt was passiert ist. Und das du hier bist."
„Rick! Hi!" Sie hob die Hand und begrüßte ihn mit einem Lächeln.
„Emily, was geht?" Das die Frage rhetorisch war musste ich nicht dazu sagen. Ich setzte mich neben sie auf das Bett und betrachtete sie aufmerksam. Äußerlich konnte ich keine Veränderung feststellen, Emily schien nicht unbekümmerter als sie es auch auf Sallys Farm gewesen war. Und sie durchschaute mein Spiel.
„Du bist hier, weil du dich um mich sorgst, stimmt's?" Sie seufzte und warf dann einen Blick zu Rick, der immer noch wie angewurzelt auf derselben Stelle stand.
„Er weiß Bescheid", informierte ich sie.
„Kannst du uns trotzdem kurz alleine lassen?", fragte sie Rick freundlich aber bestimmt.
„Klar. Ich warte dann draußen. Lou?" Ich nickte. Sobald Rick den Raum verlassen hatte stand Emily auf und holte eine Packung Gummibärchen aus ihrem Nachtkästchen hervor.
„Willst du auch eins?" Ich verneinte und sie steckte sich selbst eine Handvoll in den Mund.
„Mir geht es gut." Sie kaute und schluckte. „Eigentlich sogar besser als gut. Und was auch immer dir meine Mutter erzählt hat, sie dramatisiert."
„Sie hat gesagt das du Drogen genommen hast und total ausgeknockt warst." Emily schüttelte en Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Quatsch, ich habe einfach zu viel getrunken. Sie hat Angst, weißt du? Das ich rückfällig werde, das sie sich um mich kümmern muss. Deswegen hat sie mich hierher geschickt. Um die Verantwortung für was auch immer passiert ist, abzugeben. So wie sie es schon immer getan hat."
Und ich konnte fühlen, dass Emily die Wahrheit sagte.
„Du bist also clean?" „Cleaner als clean, Lou, ich verspreche es. Ich kann es zwar immer noch nicht fassen... was passiert ist kommt mir so surreal vor. Aber ich komme damit zurecht. Und das verstehen sie einfach nicht." Es schien, als wäre Emily fast das komplette Gegenteil von mir. Ich würde alles geben um zu vergessen. Und sie würde alles geben um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die mir zu viel wurde.
„Ich bin so froh dass du das sagst", verriet ich ihr. „Ich hatte Angst dass du es nicht vergessen kannst."
„Doch, ich bekomme jeden Tag was zu essen und muss nicht in die Schule. Was braucht man schon mehr?" Sie ließ sich wieder neben mich fallen und legte den Kopf schief. „Aber dir geht es nicht gut", sprach sie die Wahrheit aus.
„Ich..." Ich zuckte mit den Schultern. Aber Emily verstand mich auch ohne Worte.
„Du kannst nicht aufhören darüber nachzudenken, oder?" Sie hielt mir ein Gummibärchen hin und ich steckte es mir wortlos in den Mund.
„Ich komme immer zu diesem einen Moment zurück... Das Leben erscheint mir so sinnlos."
„Ich glaube, du brauchst Abwechslung, Lou. Solange du nichts zu tun hast wirst du dich immer wieder daran erinnern. Hast du nichts, auf das du dich konzentrieren kannst? Und jetzt komm mir nicht mit so was wie Schule."
„Ich wollte meine Familie finden."
„Siehst du? Da hast du es doch! Und jetzt heb deinen Arsch hoch und such nach ihr. Der da draußen ist bestimmt ganz begeistert, dir dabei zu helfen." Ich verdrehte die Augen, musste aber widerwillig lachen.
„Danke, Emily. Und weißt du was? Egal was deine Eltern sagen, du wirst nicht wieder rückfällig werden! Du bist diejenige von uns beiden die hier sitzt und fröhlich Gummibärchen nascht und ich hoffe, dass du genauso denkst." Emily schenkte mir ein Lächeln.
„Danke, Lou. Jetzt geh schon, die Besuchszeit ist eh bald vorbei und du hast schließlich noch viel vor." Sie zwinkerte mir zu. „Außerdem kannst du den armen Rick da draußen doch nicht so lange warten lassen."
___________
Was soll das, Rick? Kein Wunder, dass sich Lou für Alex entschieden hat!
Emily scheint besser mit der Situation klarzukommen, als Lou gedacht hätte... Oder ist das auch nur eine Fassade?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro