Krankenlager
France, today
Ich spürte eine warme Hand, die mir über die Stirn strich und die die Dunkelheit, die mich bis vor kurzem noch umgeben hatte etwas aufhellte. Langsam fing ich an, Geräusche wahrzunehmen, meine Nase kitzelte und ich holte tief Luft, bevor ich der Person, die sich liebevoll um mich sorgte, einen gewaltigen Schrecken einflößte. Ich musste niesen und schlug im gleichen Moment die Augen auf. Estella, die bis gerade eben an meinem Bett gesessen hatte, sprang mit einem Satz hoch und riss die Augen auf.
„Lou, du bist wach!" Ich stöhnte, weil sich mein Kopf anfühlte als sei ein Lastwagen darüber gefahren und dann hätte mich jemand mit einem Baseballschläger ausgeknockt. Ich hätte mich nicht so schnell aufsetzen dürfen. Schnell ließ ich mich wieder nach hinten in das weiche Kissen, das mir jemand unter den Kopf geschoben hatte, sinken.
„Da war dieses Mädchen... Élise. Viola hatte sie geschickt." Estella vergrub den Kopf in den Händen. Ich realisierte, dass ich mich in ihrem alten Schlafzimmer im ersten Stock des Reihenhauses befand.
„Es tut mir so Leid, Lou. Ich hätte dich niemals alleine rausschicken sollen!" Ich befühlte meinen Kopf und berührte einen dicken Verband, der einmal um meinen ganzen Kopf gewickelt war. Ich wusste ganz genau, was passiert war, aber davon wie ich von der Straße wieder hierher gekommen war, hatte ich keine Ahnung. „Ich hole deine Eltern." Estella verschwand in der Tür. Sie hatte deine Eltern gesagt. Das tat weh. Wenig später war sie wieder zurück, diesmal mit Sandra und Chris im Schlepptau, die mich voller Sorge ansahen und mir über mein Haar strichen.
„Lou, was zur Hölle ist nur passiert?"
„Das wüsste ich auch gerne. Da war so eine Verrückte, die mir eine Nadel in den Arm gerammt hat und mich dann nach Sibirien verschleppen wollte." Ein Handy klingelte und Estella zog schuldbewusst ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche.
„Hiii", hörte ich eine quietschende Stimme aus dem Lautsprecher des Handys rufen und Estella hielt mir das Handy hin, so das ich Philine sehen konnte, die anscheinend einen Videoanruf getätigt hatte. Jetzt waren wirklich alle hier versammelt.
„Was ist passiert? Ich habe gehört sie musste dich aus dem Krankenhaus abholen!" Aha, das war ja schon mal ein Anhaltspunkt. Ich fasste die Geschichte noch einmal in Kurzfassung für Philine zusammen und wandte mich dann meinen Eltern zu, und damit meinte ich alle drei.
„Das letzte woran ich mich erinnern kann, ist das ich weggerannt bin." Die Sache mit Élise und ihrem wohl nicht ganz so gemütlichen Aufschlag an der Mauer ließ ich aus. Das würde die drei nur unnötig aufregen.
„Anscheinend bist du mitten auf der Straße zusammengebrochen, die Ärzte haben hohe Anteile von Schlafmittel in deinem Blutkreislauf gefunden."
„Miststück", warf ich bei dem Gedanken an die unscheinbare Studentin ein.
„Passanten haben einen Krankenwagen gerufen und du wurdest ins Krankenhaus eingeliefert", klärten sie mich auf.
„Und wie haben die euch dann verständigt?", fragte ich verständnislos.
„Gar nicht. Wir haben dich aufgespürt, nachdem du nach zwei Stunden nicht aufgetaucht bist. Als wir dich gefunden haben waren wir unglaublich erleichtert. Obwohl es ziemlich schwierig war, zu beweisen, dass du nicht..." Estella holte meinen Ausweis hervor und runzelte die Stirn. „...Elicia Rust bist."
„Wo wir beim Thema wären, was zur Hölle IST das?" Sandras Stimme hatte einen gefährlichen scharfen Ton angenommen und ich setzte eine entschuldigende Miene auf.
„Mein Ausweis?"
„Louise Cartier, das ist ein falscher Ausweis!"
„Tja..."
„Sie hat mir versprochen nichts damit anzustellen, Sandra." Ruckartig wandten wir uns alle zu Chris um, der das Wort erhoben hatte."
„Du wusstest davon?", kreischte Sandra hysterisch. Oje, die Situation würde jeden Moment eskalieren. Chris wusste zwar tatsächlich von meinem Ausweis, aber auch erst seit kurzem. Ich hatte ihm an Weihnachten versprochen den Ausweis nur dafür zu benutzen, bei Gelegenheit mein Hotelzimmer zu verlängern. Oder mir Sachen zu kaufen, für die man ansonsten einen Ausweis bräuchte. Was auch immer. Jedenfalls hatte er damals keine Fragen gestellt und schien schon etwas erleichtert zu sein, dass er mich immerhin nicht komplett schutzlos in einem Land, dessen Sprache ich nicht einmal verstand, zurücklos. Wir hatten uns jedoch beide darauf geeinigt, dass die Sache erst einmal unter uns bleiben sollte. So war es auch besser gewesen, wie sich jetzt zeigte.
„Chris! Ist das dein Ernst? Du hast ihr einen falschen Ausweis besorgt? Für was überhaupt? Das ist unverantwortungsvoll und bescheuert und ich kann nicht glauben, dass du das getan hast! Ist das deine Vorstellung von einem guten Elternteil? Im Ernst?" „Okay, okay, Sandra, komm mal wieder runter!", rief ich dazwischen, was ziemlich anstrengend war, da mein Kopf bei jeder kleinsten Bewegung wehtat. Und Schreien machte es da nicht besser.
„Chris hat damit überhaupt nichts zu tun! Das ist der Ausweis mit dem ich die Bordkarte nach Australien gekauft habe, erinnerst du dich? Das stand sogar im Polizeibericht. Na ja, da stand auch das ich ihn verloren habe, aber das stimmt nicht. Und Chris weiß erst seit kurzem davon!" „Seit wann?" Sie redete nicht mit mir, sondern sah Chris an.
„Äh... Weihnachten?"
„WAS?"
„Bitte, können wir das nicht wann anders disku-"
„In der Küche. Und zwar jetzt sofort." Sandra kniff die Augen zusammen und rauschte aus dem Zimmer. Ich überlegte mir ob ich aufstehen und die Situation unten noch einmal verdeutlichen sollte, aber ich scheiterte allein schon beim Aufstehen.
„Bleib liegen, das bringt jetzt gar nichts. Das ist eine Sache zwischen den beiden."
„Aber es ist nicht Chris'Schuld!", erklärte ich Estella und schnappt mir den Ausweis aus ihrer Hand. „Das hier war meine Fahrkarte zu Viola, wortwörtlich." Ich seufzte.
„Ich glaube es geht hier nicht direkt um dich, Lou. Es geht und Chris'Verhalten und Sandras Erwartungen. Mein Gott, als ob ich mich damit nicht genug auskennen würde. Ich habe mit dir damals genau das gleiche durchgemacht."
„Aber die beiden werden mich ja nicht zur Adoption freigeben, nur weil Chris ein Mal unverantwortungsvoll gehandelt hat", scherzte ich und merkte gleich, dass das falsch rüberkam. „Tut mir Leid, so war das nicht gemeint."
„Schon gut, du hast ja im Prinzip recht. Aber Sandra macht sich keine Sorgen um dich und den Ausweis, es geht darum, das Chris nicht gerade ihre Ansprüche eines Vaters erfüllt."
„Häh? Aber das macht doch überhaupt keinen Sinn..."
„Na, irgendwie schon."
„Moment mal... was?" Estella versuchte ein Lächeln.
„Ich glaube, das sollten dir lieber deine Eltern persönlich erklären."
„Das glaube ich jetzt nicht. Sandra!", schrie ich nach unten, während ich gleichzeitig mein Gesicht verzog, weil sich der Schmerz wie eine Nadel in meinen Kopf bohrte.
Von unten waren immer noch laute Stimme zu hören, und ich konnte nur hoffen dass meine Adoptivmutter Chris nicht zu sehr zusammenfaltete. Mit dem gegebenen Kontext konnte ich Sandra zwar verstehen, aber ich bestand immer noch auf meiner Meinung, dass Chris nichts daran ändern hätte können, wenn ich mit meinem gefälschten Ausweis alleine durch Paris streunte. Ich hatte es ihm schließlich nur unter der Bedingung gesagt, dass er ihn mir nicht wegnehmen würde. Sozusagen als Information, gegen die er allerdings nichts machen konnte.
„Sandra!", schrie ich abermals nach unten und seufzte erleichtert, als die Stimmen verstummten und Schritte auf der Treppe zu vernehmen waren. Keine Minute später steckte Sandra ihren Kopf durch die Tür in mein provisorisches Krankenlager.
„Was ist denn?"
„Du bist schwanger?" Sandra wurde erst blass, dann zeigte sich ein Hauch von rosa auf ihren Wangen. „Ich kann nicht fassen, dass ihr mir das verheimlicht habt!"
„Wir waren uns nicht sicher ob wir dich damit nicht noch mehr belasten würden als sowieso nötig. Estella hat es durch Zufall herausgefunden."
„Sandra hatte gestern im Krankenhaus einen kleinen Schwächeanfall", erklärte mir Estella, während sie genau wie ich Sandras Bauch beäugte, dem man es noch so gut wie gar nicht ansah, dass in naher Zukunft ein Baby darin heranwachsen würde. „Als ich kurz davor war sie selbst einzuweisen hat sie es mir dann erzählt." Trotzdem war ich noch ein bisschen sauer auf Sandra. Solche Neuigkeiten konnte sie mir doch nicht verheimlichen!
„Nachdem, was letztes Mal passiert ist." Ich schluckte und sah, dass Sandra beim Gedanken an das Baby, dass sie vor 4 Jahren verloren hatte, immer noch feuchte Augen bekam. Und ich konnte nicht sagen, dass es mir nicht ähnlich erging. Ich war froh, dass sich ihr Wunsch nach einem weitern Kind nun endlich erfüllen wurde.
„Ich bin jetzt älter, Sandra. Ich bin schon fast ausgezogen, wenn du dir um eins keine Sorgen machen musst, dann um mich." Jedenfalls diesmal nicht. Sandra verzog ihren Mund zu einem leichten Lächeln.
„Ich weiß doch, Lou." In diesem Moment kam Chris ins Zimmer und wir richteten unsere Blicke alle auf ihn.
„Hey, was ist denn hier los? Eine geheime Versammlung bei der ich nicht dabei sein darf?", scherzte er.
„Ich habe es ihr erzählt", platzte Sandra schließlich mit der Neuigkeit heraus. So blass wie Chris wurde könnte man meinen, dass das die gravierendere Neuigkeit von den beiden war, die es zu verkünden gab.
„Louise, also... du..."
„Chris." Ich musste fast lachen. „Das mit dem Baby ist eine wunderbare Neuigkeit. Ich freue mich für euch, wirklich! Das heißt... ich bekomme also bald ein Geschwisterchen?" Ich grübelte über die richtige Bezeichnung nach, die man dem Baby meiner Adoptiveltern geben könnte, aber das wurde einfach zu kompliziert. Das Baby würde meine Schwester oder mein Bruder werden, egal ob wir verwandt waren oder nicht.
„Okay." Chris nickte erleichtert.
„Aber das Ganze läuft nur unter einer Bedingung ab", warf ich ein. Ich konnte die Anspannung, die sich im Raum aufbaute fast spüren.
„Und das wäre?"
„Das ich Taufpatin werde."
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