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Kapitel 57

,,Our last goodbye was tough because I knew this was it, and I wasn't ready to lose my best friend, my laughter, my safe place, and a special piece of my heart.''

-Aprzywolski


Niemand sagte mir, dass es solche Tage geben würde.

Der Himmel war wolkenlos und erschien in seinem tiefen Hellblau fehl am Platz. Die Sonnenstrahlen erwärmten meine Haut und doch konnten sie nicht durch diese meterdicke Eisschicht hindurchbrechen. Ich gefror innerlich.

Es war anders als das letzte Mal. Ruhiger. Friedlicher. Als wäre heute nicht einer der schlimmsten Tage in meinem Leben. Es fühlte sich an, als würde die Sonne mich verhöhnen. Es sollte in Strömen regnen. Der Himmel sollte dunkelgrau sein, dass kein Licht hindurchdringen konnte. Und doch schien diese verdammte Sonne auf mich nieder und versuchte mich zu wärmen.

Hand in Hand  trat ich gemeinsam mit Raven durch das schwere metalleiserne Eingangstor. Den Blick hielt ich starr auf den Boden gerichtet. Ich wollte niemanden ansehen und nicht diese Blicke voller Mitleid und Traurigkeit spüren. Doch außer meinen Großeltern und dem Trauerredner war noch niemand zu sehen. Erleichtert atmete ich aus und verstärkte dabei meinen Griff um Ravens Hand.

Ich wollte nicht mit dem Redner sprechen und seine Floskeln hören, die er wahrscheinlich zu jedem Familienangehörigen sagte. Wie eine nie endende Dauerschleife.

Deshalb blieb ich mit Raven wenige Meter vor ihnen unter einer hängenden Trauerweide stehen. Ich versteckte mich in seinen Armen, die er um mich gelegt hatte. Raven schirmte mich ab vor der Realität, die mit jeder verstrichenen Sekunde auf mich lauerte und darauf wartete, dass ich mich ihr stellte.

,,Ich schaffe das nicht.'' Meine Stimme hörte sich seltsam belegt an. Sie klang wehleidig, schmerzverzerrt, irgendwie fremd. Als gehörte sie nicht zu mir. Ich wusste, dass ich nicht gehen konnte, doch ich wollte auch nicht bleiben. Ich hatte dasselbe Szenario vor vier Jahren schon durchstehen müssen. Ich war am Ende. Mir fehlte die Kraft, diesen letzten Weg zu gehen. Mich zu verabschieden und ihn gehen zu lassen. Nun endgültig.

,,Wir werden diesen Tag überstehen. Du und ich. Ich werde an deiner Seite sein. Die ganze Zeit.''

Ich nickte und atmete kräftig ein und aus. Der Druck und die Leere in mir waren eine gefährliche Kombination. In diesem Moment fragte ich mich, ob man innerlich an seinem eigenen Schmerz ertrinken konnte. Fühlte es sich so an, zu ersticken?

Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. Instinktiv klammerte ich mich an Ravens Jackett, um die Panik nicht gewinnen zu lassen.

Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange ich mich in Ravens Armen befand, konnte ich nicht einschätzen. Irgendwann löste er sich zaghaft von mir und schaute mir in die Augen. Sein Blick war voller Sorge. Er sagte etwas zu mir, doch ich konnte ihn nicht verstehen. Ich hörte alles wie durch Watte.

Es war nicht real.

Und doch setzte ich einen Schritt nach dem anderen, als Raven uns in Richtung der kleinen weiß angestrichenen Kapelle führte. Jeder Schritt kostete mich enorme Kraft. Meine Beine zitterten unkontrolliert. Ich wollte dort nicht hin. Nicht schon wieder. Wenn Raven mich nicht gehalten hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, allein aufrechtzustehen. Er hatte den Arm stützend um mich gelegt und flüsterte mir immer wieder beruhigende Worte ins Ohr. Du machst das gut. Ein Schritt nach dem anderen.

Mein Blick, der die ganze Zeit über starr auf den Boden geheftet war, erhob sich zögerlich, als wir nur wenige Schritte vor dem Eingang zum Stehen kamen. Ich zuckte zusammen, als ich die ersten Menschen eintreffen sah in ihrer schwarzen düsteren Trauerkluft. Evan hätte diesen Anblick gehasst. Er liebte knallige Farben über alles, deshalb trug ich die knallroten Erdbeersocken für alle gut sichtbar über meiner Strumpfhose.

Alles fühlte sich taub an. Ich wollte nicht noch einmal in diese Kapelle gehen, die so viele schlechte Erinnerungen in mir hervorrief.

Immer einen Schritt nach dem anderen. Einen...

Ich stockte und hielt inne. Eine zusammengesunkene Gestalt, die sich an der Hausfassade der Kapelle abstützte, erregte meine Aufmerksamkeit. Mein Helfersyndrom war sofort aktiviert. Es lenkte mich ab von meinen eigenen Ängsten.

Vorsichtig ging ich auf ihn zu. Seine hellbraunen Locken hingen ihm wie ein Schleier vor seinem Gesicht. Er hatte sich von der Menschentraube abgewandt und ließ den Kopf sichtlich hängen. Sein Atem ging stoßweise und ein Beben erschütterte seinen Körper.

Und obwohl sich mein Innerstes schmerzlich zusammenzog, trat ich näher an ihn heran und legte meine Hand auf seinen Arm.

Er zuckte unter meiner Berührung zusammen. Doch als sein verschleierter Blick meine Augen fand, verzog sich sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Miene.

,,Liam'', flüsterte ich so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er mich verstanden hatte. Die Traurigkeit in seinen warmen braunen Augen riss mich mit sich in einen nie endenden Sturm. Eine Träne löste sich aus seinen wässrigen Augen und lief ihm über sein rundliches Gesicht.

Sein Anblick traf mich bis tief in die Knochen. Ich spürte seine Traurigkeit in jedem Winkel meines Körpers. Sie nahm mich ein, umhüllte und betäubte mich.

Wenige Augenblicke später wurde ich in eine kräftige Umarmung gezogen. Sein Körper bebte, während er seinen Kopf auf meiner Schulter ablegte. ,,Ich konnte mich nicht verabschieden'', schluchzte er und auch mir traten die Tränen in die Augen.

Behutsam strich ihm über seinen Hinterkopf. ,,Er hat dich sehr geliebt. Du warst sein bester Freund und das wirst du auch immer bleiben.''

Es fühlte sich seltsam an, jemanden anderen an diesem Tag zu trösten. Und doch lenkte es mich von meiner eigenen Leere ab, die in mir tobte.

,,Es tut mir leid'', sagte er überstürzt und löste sich schnell von mir. Schuldgefühle spiegelten sich in seinen Augen wider. ,,Ich hätte mich nicht bei dir ausheulen sollen. Für dich ist dieser Tag noch viel schlimmer als für mich.''

,,Nein'', hauchte ich und schüttelte schwach mit dem Kopf. ,,Jeder darf auf seine eigene Art und Weise trauern. Ich vermisse ihn genauso sehr wie du ihn.''

Mich wunderte es selbst, wie stark ich in diesem Moment war. Als würde die Trauer doch nicht die Überhand gewinnen. Vielleicht war es doch möglich, all den Schmerz tief in mir zu vergraben, dass ich ihn nie wieder spüren müsste.

,,Lass uns reingehen'', flüsterte ich an Raven gewandt und ließ Liam allein zurück.

Der Weg in die Kapelle fühlte sich an, als würde ich zu einer Schlachtbank gehen, nur dass ich es nicht war, die ihren Kopf verlieren würde. Der Tod hatte sich schon längst genommen, was ihm gehörte und wir lasen seine Überreste auf, die er uns gnädiger Weise hinterlassen hatte. Nichts als Erinnerung und Asche.

Der Druck in meiner Brust stieg ins Unermessliche, als ich mich auf einer der kalten Holzbänke in der vordersten Reihe niederließ und direkt in die Augen meines Bruders starrte. Ich hatte mich geirrt, stellte ich panisch fest. Draußen konnte ich mir noch einreden, dass ich den Schmerz nicht zulassen konnte, aber hier drinnen in dieser Kapelle spürte ich, wie mich die stickige Luft erdrückte.

Ich schaffte das nicht.

Evans Augen verfolgten mich. Instinktiv kniff ich meine Fingernägel in die Oberschenkel. Konsequent ignorierte ich den Tisch, der wenige Meter neben dem Rednerpult platziert wurde und an dem die Menschen still ihre Blumen ablegten. Allein das Wissen, dass seine Überreste in einer winzigen Urne verrotteten, hielt mich davon ab, in diese Richtung zu sehen. Zu schwer lagen die Erinnerungen an das letzte Mal. Ich saß genau an dem gleichen Platz wie vor vier Jahren. Nur dass Raven nun rechts neben mir war anstatt meines Grandpa.

Innerlich begann ich zu brodeln. Wie ein Vulkan drohte ich jede Minute, in der die Trauerkapelle weiter ihre traurigen Lieder spielte, zu explodieren. Noch konnte ich die Tränen zurückhalten, jedoch kostete es mich all meine Kraft, die ich noch in mir hatte. Wenn einmal der Damm gebrochen war, würde niemand den Tränenfluss stoppen können.

Also biss ich die Zähne fest aufeinander und richtete meinen Blick auf einen Punkt direkt von meinen Füßen. Ich fixierte das Stück Marmor, das in den Boden verarbeitet war, und versuchte, all das leise Getuschel der anderen und die Musik der Trauerkapelle auszublenden.

Ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken. Sie redeten über mich. Ich sah, wie sie mit dem Finger auf mich zeigten und bemerkte ihren mitleidigen Gesichtsausdruck. Sie hatten recht. Ab nun war ich das Mädchen ohne Familie. Ich war allein. Die Erkenntnis stürzte mich in ein bodenloses Loch, aus dem ich nicht mehr herauskam.

,,Ich hätte nicht mit so vielen Menschen gerechnet'', flüsterte Grandma zu Grandpa und deutete mit einem Kopfnicken hinter sich. Als er sich umdrehte, folgte ich seinem Blick. Ich hatte nicht mitbekommen, wie schnell sich die kleine Kapelle mit Menschen gefüllt hatte. Viele von ihnen kannte ich vom Sehen her. Einige Klassenkameraden von Evan waren unter ihnen, ehemalige Freunde, die ihn nicht besucht hatten. Es war so voll, dass nicht einmal alle Leute Platz hatten. Es bildete sich eine Schlange bis hinaus zum Eingang.

Zum einen verstörte es mich, dass so viele Leute hier waren, da nur ein Bruchteil von ihnen, jemals im Krankenhaus war. Und doch berührte es mich gleichzeitig, dass so viele Menschen Evan die letzte Ehre erweisen wollten.

In mir war plötzlich alles still, während ich meinen Blick wieder auf das Stück Marmor fixierte. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Immer wieder kämpfte ich mit den Tränen, die sich hinter meinen Augen bildeten. Ich war am Ende, bevor der Redner nur ein Wort über Evan verloren hatte. Verzweifelt schluckte ich die Tränen herunter.

,,Es ist okay. Du darfst weinen.'' Raven nahm meine nassgeschwitzte Hand in seine und hielt sie fest umklammert. Es fühlte sich gut an, seine warmen Hände um meine kalten Finger zu spüren. Er war mein Anker. Also ließ ich mich fallen, weil ich wusste, dass er mich auffangen würde.

Ich würde diesen Tag überstehen. Ich musste einfach.

,,Liebe Familie, Freunde und Angehörige. Wir haben uns heute an diesem sonnigen Tag zusammengefunden, um Abschied zu nehmen von Evan Davis. Er war ein treuer Bruder, liebender Sohn und ein Freund, auf den man sich verlassen konnte.''

Schon nach diesen wenigen Worten bemühte ich mich, das Brennen in meinen Augen so gut es ging zu ignorieren. Meine Sicht verschwamm zunehmend und ich konnte nicht verhindern, wie mein Körper anfing zu zittern.

Ich schaffe das nicht. Bitte.

Doch niemand würde meine Gebete erhören.

Ein leises, ersticktes Schluchzen drang aus den Tiefen meiner Kehle. Eine kalte Hand legte sich von hinten auf meine Schultern. Alice' Präsenz reichte, um den Sturm, der in mir tobte, ein wenig zu lindern. Ravens Griff um meine Hand verstärkte sich. Ich bemerkte seinen sorgenvollen Blick, doch konnte ich ihn nicht anschauen. Ich durfte nicht diesen verdammten Punkt aus den Augen verlieren. Sonst würde ich...

,,Normalerweise ist es meine Aufgabe, das Leben der Verstorbenen noch einmal Revue passieren zu lassen. Doch heute werde ich in den Hintergrund treten, um jemandem anderen Platz zu machen.'' Ich stutzte. Mein Blick flog ruckartig nach oben und blieb an dem Trauerredner hängen, der in unsere Richtung schaute. Was passierte hier?

,,Mir wurde gesagt, dass Evan es nicht wollte, dass eine fremde Person die letzten Worte über sein Leben sprach. Er hatte diese Art des Abschieds nie gemocht. Deshalb lassen wir ihn selbst zu Wort kommen, so wie er es sich gewünscht hat.''

Ein bedrückendes Schweigen legte sich über die Kapelle. Alle schienen den Atem anzuhalten. Unruhig schauten sich die Menschen um. Als sich nichts rührte, fingen sie  an zu tuscheln. Mein Blick huschte zu meinen Großeltern, die mir nur ein warmes Lächeln schenkten. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Sie hatten davon gewusst. Nur wer sollte...?

Der Druck um meine Hand lockerte sich, während Raven langsam aufstand. Wie gebannt folgte ich jeder seiner Bewegungen mit meinen Augen. Nein, hauchte ich wortlos und ließ zu, wie sich Raven von mir entfernte und sich an das Rednerpult stellte. Er wechselte leise noch ein paar Worte mit dem Trauerredner, ehe dieser sich an den Rand stellte.

Mein Herz zerbrach in tausende Stücke. Dass er es war, der Evan die letzte Ehre schenkte, ließ die Eisschicht in mir ein wenig schmelzen.

Tränen, die ich die ganze Zeit versucht hatte zurückzuhalten, flossen nun unkontrolliert über meine Wangen. Als Ravens durchdringender Blick meine Augen fand, liefen immer mehr Tränen aus meinen Augenwinkeln. In diesem Moment spürte ich nichts als Dankbarkeit und er wusste es. Bevor er sich an die Menge wandte, zwinkerte er mir kurz zu, ehe er ein Blatt Papier aus seinem Anzug zog und ihn vor sich auffaltete. Alice hatte in der Zwischenzeit Ravens Platz neben mir eingenommen.

In der Kapelle wurde es mucksmäuschenstill. Alle schauten gebannt auf Raven. Er schien kein bisschen nervös zu sein. Vielmehr nahm seine Präsenz den gesamten Raum ein. Er strahlte eine derartige Souveränität und Selbstsicherheit aus, dass ich mich fragte, wie oft er diesen Moment wohl geübt haben musste.

Nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was nach seinem Räuspern folgte.

,,Es ist großartig, dass ihr alle erschienen seid. Ich stelle mir eine große Menschenmasse vor, die in Schwarz gekleidet ist, weil die Etikette es vorschreibt. Ich weiß, dass irgendwo in dieser Menge meine kleine Schwester sitzen wird, die sich vermutlich der Kleiderordnung widersetzt hat, um wenigstens ein buntes Teil zu tragen. Für alle, die mich zu wenig kannten, um das zu wissen. Ich liebe alles, was bunt ist. Hoffentlich konntest du dich daran erinnern, Schwesterherz.''

Alles in mir gefror und eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Evan. Das konnte unmöglich sein. Meine Lippen bebten und ich ergriff die Hand meiner Grandma.

Ravens tiefe Stimme war klar und nahm den gesamten Raum ein. Er hatte das alles gemeinsam mit Evan geplant, bevor er...

,,Nun gut, so wollte ich meine Rede eigentlich nicht starten. Also von vorne. Der ehrenwerte Mann, der das Privileg hat, mir heute seine Stimme zu leihen, ist Raven. Mein zukünftiger Schwager und Freund. Seid nicht zu hart zu ihm, falls er sich mal verhaspelt. Ich habe ihn gezwungen, diese Rede mehrmals vor mir laut vorzulesen, bis ich zufrieden war. Man muss schon sagen, der Mann hat Geduld'', las er stolz vor und zeigte dabei zufrieden auf sich selbst. Bei dieser Geste hoben sich meine Mundwinkel leicht. Ich konnte mir vorstellen, wie hartnäckig Evan gewesen sein musste, während Raven ihm immer wieder die Rede vorgetragen hatte. Evan wäre in diesem Augenblick sehr stolz auf Raven gewesen. Er machte das fantastisch.

,,Zurück zum Thema. Ich habe Raven gebeten, mich zu vertreten, da ich nun, wenn ihr diese Rede hört, nicht mehr bei euch sein werde. Ich glaube, Mom und Dad haben mich all die Jahre ziemlich vermisst. Es wird Zeit, dass ich sie besuchen gehe. Es ist schon viel zu lange her. Und doch schmerzt mein Herz, dass ich meine kleine Schwester hier allein zurücklassen muss. Ich wünschte, ich müsste nicht so früh gehen. Aber ich habe keine Wahl. Vergiss nicht, dass ich heute an diesem Tag bei dir sein werde. In der Lücke neben dir ist noch Platz für mich. Auch wenn du mich nicht sehen kannst, bin ich hier. Verzeih mir, dass ich dich nicht in den Arm nehmen kann, so wie ich es sollte. Ich hoffe, dass Grandma, Grandpa und Alice in diesem Moment für dich da sein werden. Auch wenn du mich wahrscheinlich gerade innerlich verfluchst, weil ich die ganze Aufmerksamkeit der Menschen auf dich gezogen habe, möchte ich, dass du weißt, dass ich dich vermissen werde. Dich, Grandpa und Grandma. Irgendwann werden wir wieder zusammen sein. Das verspreche ich euch.''

Raven legte den Brief beiseite und richtete seinen Blick auf mich. Er tröstete mich. Ich rückte näher an Alice heran und klammerte mich an ihr fest.

,,Er hat geweint, nachdem ich seine Worte aufgeschrieben habe. Doch er wollte unbedingt weitermachen'', sprach Raven mit sanfter Stimme, während seine grünen Augen meine nie verließen. Mein Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Ich versank in einem Tränenmeer.

Ich war keine Schwester mehr. Ich würde nie wieder eine Schwester sein.

Raven löste seinen Blick von mir und wandte sich der Menge zu. Plötzlich veränderte sich seine starre Mimik und ein schmales Lächeln trat auf seine Lippen, während er das Stück Papier wieder auseinanderfaltete.

,,Für all das, was jetzt kommt, ist Evan ganz allein verantwortlich.''

Seine Reaktion, die in diesem Moment  so unpassend und untypisch war, ließ meine Augenbraue in die Höhe wandern. Was würde jetzt kommen? Auch Alice hatte ihre Augenbrauen irritiert zusammengezogen.

,,So ihr Lieben, da bin ich wieder. Der emotionale Teil meiner Rede ist abgehakt. Nun würde ich gerne ein paar Worte über mich verlieren, immerhin bin ich der Mittelpunkt dieser tristen Veranstaltung.''

Meine Augenbraue zuckte, als ich Alice mit großen Augen ansah. Das Schmunzeln, das sich auf meinen Lippen bildete, war vollkommen unangebracht. Es war das Gegenteil von den Tränen, die noch immer aus meinen Augen liefen. Die Stimmung im Raum schien sich aufzuhellen, als wären alle aus ihrer Starre gelöst worden. So einen Stimmungswandel konnte nur Evan hervorbringen. Durch seine gewählten Worte wirkte es, als wäre er noch hier. Ich konnte seine Präsenz im Raum deutlich spüren. Allein diese Tatsache entfachte in mir ein warmes Gefühl.

Ich sollte nicht lächeln. Und doch tat ich es, weil es mein Bruder war, der ein letztes Mal zu uns sprechen würde. Unverblümt und ehrlich, wie ich ihn kannte.

,,Ich hatte ein fantastisches Leben. Ich durfte viel Liebe und Glück erfahren in meiner kurzen Zeit. Ich war der beste Bruder, den sich eine Schwester nur vorstellen konnte. Ich habe immer auf sie aufgepasst und sie vor den Monstern unter ihrem Bett beschützt. Nennt mich gerne einen Superhelden. Den Titel habe ich wohl mehr als verdient.''

Raven machte eine kurze Pause und seufzte laut auf. ,,So, ich habe die Anweisung von Evan erhalten, dass ich Aza nun übertrieben zuzwinkern muss.'' Und das tat er auch. Das Lächeln um meine Mundwinkel wurde immer breiter. Es passte nicht zu Raven und doch gab er sich die größte Mühe, Evan zu imitieren. Als sich unsere Blicke begegneten, zwinkerte auch ich ihm zu, was ihm ein Lächeln entlockte, das nur für mich bestimmt war.

,,Mom und Dad liebten mich von ganzem Herzen und sie waren so unfassbar stolz, als ich ihnen mitteilte, dass ich in New York Meeresbiologie studieren würde. Wenn all das nicht passiert wäre, dann hätte ich nur wenige Monate später meinen Traumberuf erlernt. Heute, vier Jahre später, hätte ich wahrscheinlich meinen Abschluss in der Tasche und würde zu einem erfolgreichen Meeresbiologen aufsteigen. Ich wäre umringt von kreischenden Frauen, die alle an meiner Seite sein wollen.''

Ein Prusten ging durch die Menge. Danach war es für einen Moment totenstill im Raum. Bis Alice neben mir anfing, laut zu kichern. Schnell hielt sie sich den Mund zu und schaute mich entschuldigend an. Doch auch meine Mundwinkel zuckten verräterisch. Raven dagegen atmete kräftig aus und fuhr sich mit der flachen Hand über die Augen, als wäre es ihm unangenehm, das nächste Stück vorzutragen.

,,Ihr müsst wissen, ich habe diesbezüglich genaue Anweisungen von Evan bekommen, wie ich diese Szene darstellen soll. Also bitte. Tut mir den Gefallen und fangt bitte nicht an zu lachen.''

Er ging auf die Knie und rief plötzlich mit einer so hohen Stimmlage, die ich ihm im Leben nicht zugetraut hätte. ,,Oh Evan. Du bist so intelligent. Willst du mit mir ausgehen?'' Seine Hand schlug er sich theatralisch aufs Herz. Das war der Moment, wo alle in schallendes Gelächter ausbrachen. Grandma klatschte sich wie wild auf die Oberschenkel, während Grandpa sich vor Lachen den Bauch hielt. Ich schenkte Raven einen mitleidigen Blick, auch wenn ich mir selbst das Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

Stöhnend stand Raven auf und schnappte sich wieder das Papier. Sein Gesicht hatte eine rosarote Färbung angenommen. Als Raven wieder das Wort ergriff, wurde es einigermaßen still im Saal, nur einige hörte man noch kichern. Raven räusperte sich, ehe er fortfuhr.

,,Ich bin mir sicher, dass es ungefähr so abgelaufen wäre. Ihr glaubt gar nicht, wie gerne ich diese Szene gesehen hätte. Ich bin sicher, Raven hat meine Vorstellungen grandios zum Ausdruck gebracht. Ich hoffe, er konnte euch ein wenig zum Lachen bringen. Auch wenn ich von kreischenden Frauen, aufgrund meines unwiderstehlichen Charmes, umringt worden wäre, hätte mein Herz nur für dieses eine Mädchen geschlagen, das ich leider nie kennenlernen werde. Ich hätte mit dieser Frau zwei wunderschöne Kinder gehabt. Mom und Dad hätten ihre Enkel über alles geliebt. Sie wären zusammen mit ihren Cousinen aufgewachsen, so wie es vorherbestimmt war. Wenn all das nicht passiert wäre, dann wäre heute ein ganz normaler Tag. Ihr müsstet nicht weinen, weil ich nicht mehr da bin. Ich wäre noch hier unter euch und ich würde euch mit meinen dummen Witzen zum Lachen bringen. Weil ich es geliebt habe, glücklich zu sein. Ich wollte nie etwas anderes. Und das war ich eine lange Zeit lang. Ich schätze, dass muss ausreichen. Ich war nie ein gieriger Mensch, deshalb möchte ich mich in meinen letzten Momenten nicht nach etwas sehnen, das mein Leben lang Bestand hatte. Mein Glück war es, Aza, Grandma, Grandpa, Liam und Raven in den letzten Augenblicken an meiner Seite gehabt zu haben, als es sich so anfühlte, als hätte all das Glück mich verlassen. Dafür möchte ich euch danken. Ich kann nun gehen, ohne mir Sorgen machen zu müssen. Weil ich weiß, dass ihr euch gegenseitig Halt und Kraft schenken werdet. Eure Liebe zu spüren war das schönste Geschenk für mich. Ich weiß, dass es nicht das letzte Mal sein wird, dass wir uns begegnet sind. Letztendlich sind wir nichts weiter als interstellarer Staub, der seinen Weg zurück zu den Sternen findet. Ihr werdet mich finden, wenn ihr in den funkelnden Nachthimmel schaut. Irgendwo, zwischen all den verlorenen Seelen, werdet ihr mich entdecken, weil ich für euch immer heller strahlen werde.''

Als Raven die Rede beendete und das Blatt Papier sorgfältig mit zittrigen Händen zusammenfaltete, zerbrach in mir etwas, von dem ich nicht wusste, dass es noch mehr brechen konnte.

Das war es also. Das Ende. Seine letzten Worte. Ich würde sie in Ehren halten und mich an sie erinnern, bis es auch für mich Zeit sein würde, um zu gehen.

Tränen, von denen ich nicht wusste, dass sie noch in mir waren, flossen ungehindert über mein erbleichtes Gesicht. Der Schmerz drohte mich von innen heraus zu zerreißen. Ich umklammerte meine Körpermitte und hielt mich fest. So dass ich nicht auseinanderbrach. Ein Beben ließ meinen Körper erzittern. Ich konnte es nicht aufhalten. Die Flut an Gefühlen riss mich mit sich.

Plötzlich war ich umgeben von einer unsäglichen Wärme, die meine Schluchzer erstickte. Ich hatte nicht bemerkt, dass Raven sich vor mich hingekniet hatte. Erst nachdem ich seinen Geruch, der zu meiner Heimat geworden war, wahrnahm und seine Arme sich schützend um mich legten, brach meine Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ich ließ all den Schmerz der vergangenen Wochen, Monate und Jahre zu. Für wenige Minuten erlaubte ich mir zusammenzubrechen. Ich musste es jetzt tun, damit ich später keine Tränen mehr übrighatte, wenn ich meine letzten Worte an ihn richtete. So wie ich es bei Mom und Dad gemacht hatte.

Ich tränkte Ravens weißes Hemd mit meinen Tränen und hinterließ ein Desaster zurück. Während ich bemerkte, wie die Menschen um mich herum langsam aufstanden und nach draußen gingen, blieb ich zitternd sitzen und bewegte mich nicht. ,,Danke'', flüsterte ich mit erstickter Stimme und drückte mich noch näher an Raven. Meine Hände krallten sich in seinen Rücken. Sein gesamter Körper war angespannt. ,,Wann...?'', fragte ich ihn, nachdem ich meinen Kopf hob.

Seine grünen Augen, die ebenfalls feucht waren, verhakten sich mit meinen. Er strich mir mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich konnte spüren, wie seine Hände zitterten. Auch Raven rang in diesem Moment um Fassung. Seine dunkle, kratzige Stimme passte nicht zu dem Mann, der gerade alles daransetzte, nicht in Tränen auszubrechen. ,,Es war an dem Tag, als meine Mom und Lilia zu Besuch waren.''

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. So lange hatte er es bereits gewusst? ,,Warum hast du nichts gesagt?'', schluchzte ich anklagend. Es war ihm gegenüber nicht fair und doch konnte ich nichts gegen diesen Schmerz tun, der mich von innen auffraß. Er zuckte bei meiner Frage kaum merklich zusammen. Doch ich sah das Schuldbewusstsein in seinen Augen.

,,Ich musste es ihm versprechen'', wisperte er und senkte beschämt seinen Kopf. Ich nickte, obwohl er es nicht sah. Mein Bruder konnte sehr überzeugend sein. Vorsichtig fuhr ich mit meinem zittrigen Zeigefinger unter sein Kinn und hob es leicht an, sodass er mir in die Augen schauen musste. ,,Danke. Für alles.'' Meine Stimme war nur ein Flüstern, als ich mit meinem Daumen über seine Wange strich und eine lose Träne zaghaft wegwischte. ,,Lass uns nach draußen gehen. Du bist nicht der Einzige, der noch etwas zu sagen hat.''

Mein gesamter Körper stand unter Strom, als ich an den Grabstein meiner Eltern hinan trat. Für Evans Urnenbeisetzung wurde es erneut geöffnet. Als ich in geschwungener Schrift den Namen meines Bruders auf dem Grabstein sah, bekam ich eine Gänsehaut.

In Gedenken an Evan Davis
Geb. 18.06.1997
Gest. 23.05.2021

Es war alles real und doch fühlte es sich surreal an. Als wäre es nicht mein Körper, der hier stand und auf die Schrift starrte, als könnte ich etwas daran ändern. Als wäre alles ein schlechter Witz. Doch das war es nicht.

Eine Berührung an der Schulter ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich zu der Person um und schaute in die grauen Augen des Trauerredners, die mich verständnisvoll anfunkelten. ,,Fühlst du dich in der Lage, vor all den Menschen zu sprechen oder soll ich das für dich übernehmen?'' Seine Stimme war warm und herzlich. Ich schätzte seine Hilfe sehr, doch es war meine Aufgabe, ihn von dieser Welt zu verabschieden. Ich hatte mich auf diesen Augenblick vorbereitet. Nichts konnte mich davon abbringen. Innerlich wappnete ich mich und zog meine Mauern hoch. Ich schützte mich vor der kommenden Flut so gut es ging. Wie lange ich durchhalten würde, wusste ich nicht. Doch darum ging es nicht. Es war der letzte Weg einer Reise, die ich niemals beginnen wollte. Ich musste diese Worte sagen. Sonst würde ich nie das Versprechen, das ich Evan gegeben hatte, einhalten können. Er hatte mich darum gebeten, loszulassen. Und genau diesen Wunsch würde ich ihm erfüllen.

,,Ich schaffe das.''

Dieses Mal hatte ich keinen Zettel dabei wie das letzte Mal. Alles, was ich sagen wollte, war tief verankert in meinem Kopf. Die Nervosität stieg ins Unermessliche, als der Trauredner das Signal gab, Evans Urne ins Grab sinken zu lassen. Ich presste die Lippen fest aufeinander und klammerte mich mit beiden Händen an Ravens Arm fest. Die Stille, die sich über den Friedhof gelegt hatte, war ohrenbetäubend. Ich starrte auf das kleine Gefäß. Es sah verloren aus in diesem großen Loch. War Evan einsam dort, wo er jetzt war? Mein Griff um Raven verstärkte sich. Beruhigend strich er mir über die Hände. Ich löste meine Umklammerung und er zog mich an seine Seite.

Als die Prozedur beendet war, nickte mir der Trauerredner aufmunternd zu. Ich trat nah an das Grab heran, blendete die Blicke der Umstehenden aus und schloss die Augen. Ich spürte eine leichte Brise in meinem Rücken und ich wusste, dass Evan es war, der mir in diesem Augenblick Mut schenkte.

,,Ich möchte mich bei euch allen bedanken, dass ihr heute hier seid. Wenn Evan sehen würde, dass so viele Menschen an ihn gedacht haben, wäre er bestimmt überglücklich.''

Zittrig atmete ich aus und holte kräftig Luft. Meine Stimme klang dünn und schwach.

,,Meine letzten Worte an meinen Bruder sollten etwas Besonderes sein. Das ist für dich, Evan.

Peter Pan sagte einmal: ,,Sag nie auf Wiedersehen, weil auf Wiedersehen bedeutet, wegzugehen – und wegzugehen bedeutet zu vergessen.''

Deshalb werde ich mich nicht von dir verabschieden.
Stattdessen werde ich dir sagen, wie sehr du mir fehlen wirst.''

Meine Hände umfassten den Grabstein. Sanft strich ich über das kalte Marmor. Ich wappnete mich innerlich, die nächsten Worte auszusprechen. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.

,,Bis du gehst
und deine Seele
eins wird mit der Luft,
um mich herum,
so dass ich sicher sein kann,
dass du immer bei mir sein wirst
und ich nur einen Teil
von dir verliere,
werde ich dir zeigen,
wie groß die Lücke sein wird,
die du hinterlässt,
wenn du aufhörst,
an meiner Seite zu sein.

Bis du gehst,
werde ich bei dir sein
und dir zeigen
wie sehr du mich berührt hast
mit deinem Lächeln,
das mich an die Sonne erinnert
und mich prägte
bis tief in die Knochen,
so dass du
ein fester Bestandteil von mir wurdest,
ohne dass ich es verhindern konnte.

Bis du gehst
und der Nachthimmel
noch nicht deine neue Heimat geworden ist,
von der aus du mich beschützt
und zu dem ich aufschauen kann,
wenn die Sehnsucht nach dir zu groß wird,
als dass ich sie ertragen könnte,
werde ich alles festhalten,
was du mir gibst,
auch wenn es nur
eine Lebensweisheit ist,
werde ich sie zu meinem Schatz machen,
weil meine Welt ohne dich so leer ist
und ich sie nicht füllen kann,
wenn du nichts übrig lässt
von dir.

Bis du gehst,
flüstere ich mit Tränen in den Augen,
während ich vor dir stehe
und Magnolien zu dir lege,
weil du sie immer geliebt hast
und sie nun ein Teil von dir werden,
während ich hoffe,
dass du mich hören kannst,
wenn ich dich anflehe,
zurückzukommen,
weil ich es nicht ertrage
ohne dich
und ich mich getäuscht habe,
denn die Luft,
die ich atme,
heilt mich nicht,
obwohl ich doch weiß,
dass du ein Teil von ihr bist.

Ich habe mich getäuscht,
als ich sagte
der Nachthimmel
werde deine neue Heimat,
denn ich kann dich dort nicht finden
und nun habe ich Angst,
dass ich nichts mehr von dir habe,
an dass ich mich klammern kann
außer dem kalten Stein,
der nichts mit deiner Wärme zu tun hat,
die du in dir getragen hast.

Ich wünsche dir eine gute Reise, Bruderherz.''

Und mit diesen Worten ging er von uns, ließ nichts von sich zurück außer der Erinnerung, dass er einst an meiner Seite war.

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