"When you love people, you want what's best for them, and sometimes what's best for them isn't you."
— J.M. Darhower, Torture to Her Soul
Es war jetzt zwei Wochen her, dass Alice in den frühen Morgenstunden nach unserem Gespräch wie ein tollwütiges Tier zurück ins Zimmer gestürmt kam und sich mit Anlauf auf mich geschmissen hatte. Ihr Glück, dass ich ihre lauten Schritte und ihr Quieken schon einige Augenblicke zuvor bemerkt hatte, sodass ich mich mental auf den Angriff vorbereiten konnte. Hätte ich tief und fest geschlafen, hätte ich wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen. Doch als Alice' glockenklares Lachen den Raum erhellte, konnte ich nicht böse auf sie sein. Sie war glücklich und allein das zählte, denn das bedeutete gleichzeitig, dass das Gespräch mit Carter gut verlaufen war. Schlussendlich waren die beiden doch zusammengekommen und ich freute mich für sie.
Die ganze restliche Woche hingen sie wie zwei Kletten aneinander und ich bewunderte jeden Tag, wie sie sich am Abend doch voneinander lösen konnten. Es war schon fast peinlich, den beiden zuzusehen, wie sie sich gegenseitig anschmachteten. Jace hatte sich nach Montagabend als Alice' neuen Beschützer auserkoren. Als er am nächsten Tag von Alice erfuhr, dass die beiden sich vertragen hatten, war er geradewegs zu Carter gestürmt, der gerade die Mensa betreten hatte. Er nahm ihn zur Seite und redete so laut auf ihn ein, dass alle Umstehenden ihn gehört haben mussten.
,,Wenn du sie noch einmal so behandelst, halte ich mich nicht zurück'', drohte er ihm, ehe sich Alice dazwischen mischte und Jace mahnend anfunkelte.
Nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, verlief der Rest der Woche ereignislos. Als am Freitag der Tag des Abschieds gekommen war, wurde mir schwer ums Herz. Auch wenn ich wusste, dass ich Alice und Jace bald wieder sehen würde, fühlte es sich seltsam an, sich von ihnen zu verabschieden. Sie waren in den letzten Monaten fast täglich um mich herum gewesen, sodass sie ein Teil von mir geworden waren. Alice würde in der zweiten Ferienwoche zu Raven, Carter und mir stoßen, da sie vorher mit ihrer Familie nach Kentucky fuhr, um Verwandte zu besuchen.
In der ersten Woche waren Raven und ich die ganze Zeit zusammen. Ab und zu hatte sich auch Carter zu uns gesellt, doch er ließ uns den Freiraum, den wir brauchten, um uns näher kennenzulernen.
Es war mittlerweile Ende Februar und doch kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen durch die dicke Wolkendecke hindurch. In den letzten Tagen spürte ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Man sagt, dass mit dem Einbruch des Frühlings die Hoffnung kommen würde, und zum ersten Mal glaubte ich wirklich daran. Es würde ein gutes Jahr werden. Zumindest redete ich mir das immer wieder ein. Vielleicht, um mich am Ende selbst davon zu überzeugen.
Doch heute regnete es in Strömen. Das hätte für mich ein Zeichen sein sollen, doch ich war schon immer ein Mensch gewesen, der böse Omen aus Prinzip ignorierte.
Und sehen wir uns an, zu was das geführt hat.
Ich blendete meine innere Stimme aus, die mich mahnend daran erinnerte, was ich versuchte, die ganze Zeit über zu verdrängen. Das schlechte Gewissen nagte an mir, da ich wusste, dass ich Raven gegenüber ehrlich sein musste, sonst würde ich bald platzen.
Statt ihm die Wahrheit zu sagen, verlor ich mich in dem Grau des Himmels und beobachtete, wie dicke Regentropfen ununterbrochen an das Fenster prasselten. Es kam mir so vor, als würde der Himmel mir eine Warnung zukommen lassen. Ein immenser Druck legte sich auf meine Brust und ich bekam eine Gänsehaut. Es konnte nicht ewig so weitergehen. Jedes Mal, wenn Raven mich anlächelte und mir sagte, wie glücklich er war, mich an seiner Seite zu haben, fühlte ich die Galle in mir aufsteigen, weil ich mich selbst anekelte. Würde er mich noch mit denselben leuchtenden Augen ansehen, wenn er wüsste, was ich getan hatte?
Tief in meinem Inneren wusste ich die Antwort darauf bereits, doch ich wollte sie nicht wahrhaben. Ich konnte nicht.
Instinktiv drückte ich mich noch fester an Raven. Ich wusste nicht, wie lange ich seine Wärme noch spüren konnte, bis auch er mich verlassen würde. Ich lauschte seinem stetigen Herzschlag, während seine Brust sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Er hatte seine Augen geschlossen und döste vor sich hin, während im Hintergrund die sanften Töne von Oasis liefen. Nachdem wir heute morgen aufgestanden waren, hatten wir uns darauf geeinigt, den Tag im Bett zu verbringen und Filme anzuschauen. Mittlerweile war es später Nachmittag und wir hatten es immer noch nicht geschafft, den TV anzuschalten.
Seine kräftigen Arme hüllten mich ein und ich fühlte mich beschützt, weswegen ich keine Anstalten machte, mich aus meinem Schutzraum zu entfernen. Zu schön war das Gefühl seines warmen Körpers, der sich eng an meinen schmiegte.
Ich wandte meinen Blick vom Fensterbrett ab und fand automatisch sein schlafendes Gesicht. Vorsichtig löste ich meine Hand von seiner Schulter und fuhr mit dem Finger seine Konturen nach. Ravens Kinnpartie war kantig und definiert. Es verlieh seinem Blick einen harten Unterton. Seine Bartstoppeln kratzten mich, doch ich genoss das raue Gefühl auf meiner Haut. Mein Finger fuhr weiter zu seinen Wangen, die im Gegensatz zu seinem Kinn unfassbar weich waren. Dieser Kontrast ließ mich innehalten. Er war rau und gleichzeitig weich wie sein Inneres, das einen ewigen Kampf zwischen gut und böse focht. Für mich würde immer das Gute in ihm siegen, während ich gleichzeitig seine dunkle Seite akzeptierte.
Wie lange würde ich noch in der Lage sein, ihn auf diese Weise berühren zu können?
Ich wollte diesem Gedanken keine allzu große Bedeutung schenken, doch ich merkte, wie er seit Wochen an mir zerrte. Meine Angst, ihn zu verlieren, war mit jedem Tag gewachsen, sodass ich mich bemühte, jede Sekunde mit ihm in vollen Zügen zu genießen.
Während ich meinen Finger zu seiner spitzen Nase wandern ließ, prägte ich mir all die kleinen Details ein, sodass ich mich an sie erinnern konnte, wenn er irgendwann nicht mehr an meiner Seite war. Ich wollte alles an ihm festhalten, auch wenn ich wusste, dass mir immer etwas fehlen würde, wenn er nicht bei mir wäre.
Sich in Raven zu verlieben, fühlte sich leicht an wie ein warmer Sommertag. Und doch trat er in mein Leben wie ein Gewittersturm, der alles um sich herum erzittern ließ, nur um in meiner Nähe zu sein. Langsam, so dass ich es am Anfang kaum bemerkte, hatte er mich mit sich gerissen. Ich war wie paralysiert von seinem Lächeln, wenn er von etwas sprach, das ihn glücklich machte. Es waren die kleinen Dinge, die mich zu ihm hinzogen. Ich hatte nicht bemerkt, wie tief ich war, bis es längst zu spät war.
Er war einer dieser Menschen, die man nur einmal im Leben traf. Einer dieser besonderen Menschen, der dich in dieser Sekunde veränderte, als er in dein Leben trat. Sein Lächeln erhellte dein Leben und du wusstest, dass allein diese kleine Geste ausreichte, um deinen Tag besser zu machen. Er würde immer die Person für mich sein, die alles um mich herum zum Leuchten brachte, nur weil er an meiner Seite war. Ich würde ihn niemals vergessen können.
,,An was denkst du?''
Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie Raven die Augen geöffnet hatte. Eine Mischung aus Neugier und Sorge spiegelte sich in seinen hellgrünen Augen. Er zog seine Stirn in Falten und nahm mein Gesicht in seine Hände. Mit dem Daumen fuhr er meine Wange entlang, so sanft, als könnte ich unter seiner Berührung zerbrechen.
,,Hast du geweint?'', fragte er mich mit besorgter Stimme, während er mich eingehend musterte.
Ich war mir in diesem Moment nicht sicher, ob ich meine Gedanken nicht laut ausgesprochen hatte, also schüttelte ich schnell mit dem Kopf. Als ich etwas Feuchtes an meiner Wange bemerkte, verfluchte ich mich innerlich. Damit er aufhörte, mich mit diesem sorgenvollen Blick anzuschauen, löste ich mich aus seiner Umarmung und rückte ein Stück von ihm weg. Wenn er mir so nah war, konnte ich nicht klar denken, aber ich brauchte einen kühlen Kopf, sonst würde ich das, was gleich folgen sollte, nicht durchstehen.
,,Raven'', wisperte ich in die Stille und ließ seinen Namen auf meiner Zunge zergehen. Ich hatte schon immer gedacht, dass sein Name etwas Besonderes war. So gerne hätte ich seine Mom gefragt, warum sie ihn so genannt hatte, doch ich hatte das ungute Gefühl, dass ich dazu keine Gelegenheit mehr hatte.
Ich atmete zittrig aus und konzentrierte mich stattdessen auf das schnelle Schlagen meines Herzens. Der Druck auf meiner Brust wurde immer stärker, doch ich konnte nicht mehr umkehren. Raven verengte seine Augen, als er merkte, dass ich Distanz zwischen uns schaffte.
,,Ist etwas passiert?'', flüsterte er und berührte tröstend meine Hand. Mir brach das Herz bei seinen Worten. Ich schluckte fest und hielt meine Augen auf seine gerichtet.
Wie lange würde sein Blick noch voller Liebe sein?
Ich entschied mich nicht auf seine Frage einzugehen und ihm das zu sagen, was mir schon länger auf der Seele brannte. Dabei ignorierte ich meine Stimme, die unaufhörlich zitterte und mir wieder einmal vor Augen führte, wie schwach ich war.
,,Ich hoffe, dass du an meiner Seite bleiben wirst und mich nicht verlässt. Ich hoffe es wirklich. Aber falls du dich dazu entscheidest, dich von mir zu entfernen, möchte ich, dass du mich so in Erinnerungen behältst. Ich möchte, dass du dich an mich erinnerst, wie ich zusammengerollt in deinen Armen liege und mein Gesicht auf deiner Brust ruht, während ich Bilder auf deiner Haut zeichne. Erinnere dich an mich, wie ich über deine schlechten Witze lache, obwohl ich mich innerlich leer fühle und nur du es schaffst, mir ein Lächeln zu entlocken. Erinnere dich an mich als das Mädchen, das dachte, es würde sterben, als du ihre Hand zum ersten Mal gehalten hast, weil ihr Herz so heftig gegen ihre Brust geschlagen hat. Erinnere dich daran, wie glücklich ich immer bin, nur weil du an meiner Seite stehst. Wenn du denkst, dass es Zeit für uns ist, getrennte Wege zu gehen, möchte ich, dass du dich nicht an das Ende erinnerst. Erinnere dich an den Anfang und wie alles begann. Denn nur so könnte ich es ertragen, wenn du gehst.''
Ich konnte seinen traurigen Blick, der gleichzeitig Angst und Verständnislosigkeit ausdrückte, nicht mehr ertragen, weshalb ich angestrengt die Regentropfen an der Fensterscheibe fixierte.
Doch eine warme Hand schob sich unter mein Kinn und zwang mich dazu, ihn erneut anzusehen. Seine kratzige Stimme bebte und er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Seine grünen Augen strahlten eine solche Eindringlichkeit aus, dass ich kurz an dem Gedanken zweifelte, Raven könnte mich wegen des Gesprächs mit seinem Dad verlassen.
,,Warum sagst du all diese Dinge? Ich würde dich nie verlassen. Das weißt du. Ich habe so lange darauf gewartet, dir nahezukommen. Also hör auf zu sagen, es gebe für uns beide ein Ende. Denn das könnte ich nicht akzeptieren.''
,,Was, wenn es doch ein Ende gibt?'', flüsterte ich. Ravens Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie und er wandte den Blick von mir ab. Die Raumtemperatur war binnen weniger Minuten rapide gesunken und ich holte angestrengt Luft. Mein Körper fühlte sich an, als bestände er aus Blei. Ich war nicht in der Lage, mich einen Millimeter zu bewegen.
Raven drehte sich auf den Rücken und starrte die weiße Zimmerdecke an.
,,Das wird nicht passieren. Nicht, wenn ich es verhindern kann'', antwortete er entschieden.
Doch ich konnte die Sache nicht ruhen lassen, ehe ich seine Reaktion abschätzen konnte. Er würde Wort halten, richtig? Vielleicht würde alles ganz anders laufen, als ich befürchtete.
,,Was ist, wenn ich etwas getan habe, das dich verletzt? Wirst du mir verzeihen können?''
Sein Kiefer zuckte und er biss angestrengt die Zähne aufeinander.
,,Nichts, was du tust, könnte mich so sehr verletzen, dass ich mich von dir abwende. Warum fragst du mich all das? Ist etwas passiert, dass dich so an mir zweifeln lässt?''
Ein verletzter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Doch alles, was ich hörte, waren seine Worte, die mir versicherten, dass er sich nicht von mir entfernen würde. Ich klammerte mich an diesen letzten Funken Hoffnung, den ich noch hatte und entschied mich dazu, Raven von der Begegnung mit seinem Dad zu erzählen, obwohl mir die Angst meinen Hals zuschnürte.
Ich konnte nicht mehr neben ihm liegen, also stand ich auf und ging unruhig durchs Zimmer. Ich biss meine Lippen fest aufeinander und überlegte, wie ich am besten anfangen sollte. So oft war ich dieses Gespräch in Gedanken schon durchgegangen, doch nun fehlten mir die Worte.
,,Raven, bitte versprich mir nicht auszurasten, ok? Ich habe es nur gut gemeint, aber ich bin mir nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Ich habe nicht groß nachgedacht, sondern einfach gehandelt, verstehst du?''
Raven zog irritiert die Augenbrauen zusammen, ehe auch er aus dem Bett stieg und neugierig in meine Richtung lief. Als er nur wenige Zentimeter vor mir zum Stehen kam und seine Arme vor der Brust verschränkte, unterdrückte ich krampfhaft den Drang, mich an ihn zu drücken. Doch das würde er nicht wollen, wenn er herausfand, was ich getan hatte.
,,Aza, bitte beruhige dich. Egal, was es ist, wir bekommen das zusammen hin, ok?''
Er machte einen Schritt auf mich zu, doch ich wich vor ihm zurück. Ich atmete hörbar aus und schaute ihn zum letzten Mal in seine grünen Augen, die mich voller Sorge und Liebe betrachteten, dass sich mein Inneres schmerzhaft zusammenzog.
,,Ich habe deinen Dad getroffen.''
Als er meine Worte realisierte, spannte sein gesamter Körper sich an. Er wich einen Schritt zurück, als würde er die Nähe zu mir nicht ertragen. Seine Augen wurden eine Nuance dunkler. Unglaube und Wut ersetzten die vorherigen Emotionen, als wären sie nie dagewesen.
Ich hatte gewusst, dass er so reagieren würde. Alice hatte mich gewarnt und doch hatte ich gehofft, es würde anders laufen.
,,Du hast was?'', zischte er bedrohlich und wich meiner Hand aus, die ich nach ihm ausgestreckt hatte. Ich zuckte bei seiner rasiermesserscharfen Stimme zusammen und zog den Kopf ein. Er sah mich an, als hätte ich ihn hintergangen und obwohl ich genau das getan hatte, fühlten sich seine Worte wie Messerstiche an. Die Luft entwich aus meinen Lungen und ich bekam kein Wort über die Lippen.
Mein Mund war staubtrocken und meine Kehle brannte. Ich merkte, wie meine Sicht verschwamm und einzelne Tränen ihren Weg an die Oberfläche fanden.
,,Bitte, hör mir zu...ich...ich habe gedacht, es könnte dir helfen'', erwiderte ich mit zittriger Stimme.
,,Du hilfst mir damit nicht. Du machst alles noch viel schlimmer. Hast du mal daran gedacht, wie ich mich dabei fühle, wenn meine Freundin hinter meinem Rücken gemeinsame Sache mit dem Mann macht, der mein Leben zerstört hat? Hm? Ist dir das mal in den Sinn gekommen'', schrie er mich nun an.
,,Ich weiß, es steht mir nicht zu, aber es ist nicht so, wie du denkst. Bitte Raven. Ich weiß, dass es schwer ist, aber...''
,,Einen Scheißdreck weißt du! Misch dich nicht in Angelegenheiten ein, die dich nichts angehen!''
Geschockt von der Heftigkeit seiner Worte stolperte ich zurück und brachte so viel Abstand wie möglich zwischen uns. Sein wutentbranntes Gesicht und der Hass, der sich in seinen Augen spiegelte, werde ich nie vergessen können.
Meine Beine fingen an zu zittern und mir blieb die Luft weg. Trotzdem wollte ich mir von ihm nicht meinen letzten Funken Würde nehmen lassen. Ich bündelte das letzte bisschen Kraft, das ich in meinem jämmerlichen Körper noch übrig hatte und straffte die Schultern.
,,Immerhin hast du noch einen Vater! Ich würde alles dafür geben, um noch einmal mit meinem Dad sprechen zu können. Und du weigerst dich, deinem Vater auch nur fünf Minuten zuzuhören, obwohl du keine Ahnung hast, was er alles für euch getan hat. Ich verteidige seine Handlungen nicht, aber du gibst ihm nicht einmal eine Chance, das Missverständnis zwischen euch beiden aufzuklären. Ich wollte doch nur helfen, verdammt.''
Ich bemerkte erst jetzt, dass ich geschrien hatte. Ich verfluchte mich innerlich. Du machst alles nur noch schlimmer. Wie kannst du deinen Dad mit seinem vergleichen? Was stimmt eigentlich nicht mit dir?
Derselben Meinung musste auch Raven sein. Frustriert fuhr er sich durch die Haare, während er knurrte.
,,Das ist nicht das Gleiche.''
,,Nein, aber darum geht es nicht. Ich bitte dich doch nur, ihm zuzuhören. Das muss nicht heute oder morgen sein. Aber irgendwann dann...''
,,Du verstehst es nicht, oder? Ich brauche dich und deine verdammten Ratschläge nicht, kapiert?''
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Er brauchte mich nicht. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich konnte förmlich hören, wie etwas in mir zerbrach.
Ohne dass ich es verhindern konnte, entfuhr mir ein Wimmern. Tränen brannten in meinen Augen und verschleierten mir die Sicht.
,,Du...du brauchst mich nicht?''
Ich schämte mich für meine weinerliche Stimme, die schon fast wehleidig klang.
Schnell krampfte ich die Hände zu Fäusten und presste meine Lippen fest aufeinander, während die Tränen nun ungehindert über mein schmerzverzerrtes Gesicht rannen.
Raven schien seine Worte in dem Moment zu bereuen, als er sie mir entgegen geschrien hatte. Die Wut war aus seinem Gesicht gewichen und zurück blieb der verletzliche kleine Junge, den ich so sehr beschützen wollte.
Mit schnellen Schritten war er bei mir und umfasste mein Handgelenk.
,,Aza. So meinte ich das nicht. Aza, bitte'', flehte er mich an, doch ich befreite mich aus seinem Griff. Seine Haut, die sonst eine Gänsehaut in mir auslöste, schien mich in diesem Moment zu versengen.
Nur ein Wort zu einem unpassenden Moment, das eine Lawine lostritt und nicht zurückgenommen werden kann. Dinge, die sich nicht mehr ändern lassen, nicht mit einem ,,Tut mir leid''. Denn manche Sätze brennen sich in dein Gedächtnis und du bekommst sie dort nicht mehr raus, egal, was du tust.
Die Seifenblase, in der ich mich die ganze Zeit befunden hatte, zerplatzte. Ich heftete meinen Blick starr auf den Boden, weil ich seinen flehenden Blick nicht ertrug. Meine Ohren rauschten und das Atmen fiel mir schwer. Genau vor diesem Moment wollte ich mich die ganze Zeit beschützen. Ich wollte diesen Schmerz nicht noch einmal spüren und doch wurde ich erneut zurückgelassen. Weil ich einen Fehler begangen hatte.
Wie in Trance wandte ich mich ab und stürmte aus dem Zimmer. Durch meine von Tränen verschleierten Augen konnte ich nur Umrisse erkennen, doch nichts konnte mich in diesem Moment aufhalten. Alles, was ich wollte, war, diesen Ort, der sich so nach zu Hause anfühlte, hinter mich zu lassen. Ich war hier nicht länger willkommen.
Ein Schluchzen entfuhr mir, ehe ich es verhindern konnte. Ich presste die Hand auf meinem Mund, während ich blindlings in den Flur trat und in meine Schuhe schlüpfte.
,,Aza, was ist los, Liebes?''
Rose blickte mir sorgenvoll entgegen. Sie musste unseren Streit mitbekommen haben. Die Schamesröte stieg mir ins Gesicht, als ich daran dachte, welches Bild sie nun von mir hatte. Ich schüttelte ihre Hand ab, die sich anklagend auf meiner Haut anfühlte.
Ich wandte meinen Blick ab und gab ihr somit zu verstehen, dass ich nicht darüber reden wollte. Die Wahrheit war, dass ich keine Kraft mehr hatte, um zu antworten. Das letzte bisschen Mut und Zuversicht, das ich in meinem jämmerlichen Körper noch hatte, hatte ich in diesem Zimmer zurückgelassen.
Mit zittrigen Fingern fummelte ich an meinem Schürsenkel herum. Ich fühlte mich wie betäubt, als ich Ravens stürmische Schritte auf der Treppe bemerkte. Seine verzweifelte Stimme rief nach mir, doch ich blendete das Flehen in seiner Stimme aus.
Ich musste weg von hier.
Ohne mich umzudrehen, stürmte ich in die Dämmerung hinaus.
,,Aza, bitte geh nicht. Bitte.''
Doch ich wollte seine Stimme nicht hören, die mich anbettelte, zurückzukommen. Je weiter ich mich von ihm entfernte, umso leiser wurden seine Rufe, die wie ein Echo in mir hallten und mich daran erinnerten, dass ich mein Versprechen an ihn gebrochen hatte. Ich war nicht besser als sein Dad, den er so verabscheute. Ich verließ ihn, als mir alles zu viel wurde. Alles, was ich wollte, war zurück zu ihm zu gehen, doch zu groß war die Angst, ich könnte ihn erneut verletzen. Denn das war alles, wozu ich fähig war. Er hatte recht. Er brauchte mich nicht.
Mit klopfendem Herzen rannte ich in die Dunkelheit, die mich umhüllte, wie ein seidiges Tuch. Ich versuchte zu atmen, zwischen all den Wörtern, die mein Herz brachen.
Ich erinnerte mich nicht daran, wie lange ich rannte. Erst als ich das kleine Backsteingebäude des Bahnhofs vor mir erkannte, blieb ich stehen. Der Parkplatz war menschenleer, nur die Laternen zeigten mir, dass ich an einem öffentlichen Ort war.
Mein Kopf war wie leergefegt, als ich wie ferngesteuert durch den Bahnhof schritt und mich auf eine Bank setzte. Der letzte Zug würde in drei Stunden kommen und ich war mir nicht sicher, ob ich nicht einsteigen würde.
Meine Augen brannten und neue Tränen liefen über mein Gesicht. Wie in Trance wählte ich Alice' Nummer.
,,Aza, was gibt es? Vermisst du mich so sehr?''
Ihre freudige Stimme ließ mich in diesem Moment weniger leer fühlen und doch konnte ich nicht verhindern, wie ein erneutes Schluchzen mir entfloh. Auf der anderen Seite wurde es still, nur ihre leisen Atemzüge zeigten mir, dass sie noch da war.
,,Du hast es ihm erzählt, oder?''
Ich nickte.
,,Kannst du kommen?'', fragte ich sie mit bebender Stimme, da ich nicht wusste, ob ich all das ohne sie ertragen konnte.
,,Ich bin unterwegs. Wo bist du?''
Ich schniefte und unterdrückte einen weiteren Schluchzer.
,,Am Bahnhof.''
,,Beweg dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich da. Es wird alles gut werden, Aza.''
Dieses Mal glaubte ich nicht daran. Ich hatte den Hass in seinen Augen gesehen und seine Worte waren deutlich genug. Auch wenn eine Stimme in mir mich anschrie, ich sollte zurückgehen, tat ich es nicht.
Vielleicht war ich nicht in der Lage, Menschen festzuhalten. Vielleicht traf ich immer die falschen Entscheidungen, die zwangsweise ein trauriges Ende mit sich zogen.
Er brauchte mich nicht. Das hatte er nie. Vielleicht war ich in Wahrheit nicht mehr als ein leeres Versprechen. Nur dass ich jetzt allein zurückblieb, in der Stille um mich herum.
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