Kapitel 3
Ich konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, als ein immer wiederkehrendes Piepen mich aus dem Schlaf riss. Benommen öffnete ich die Augen und schaute mich unter halbgeöffneten Lidern um. Ich befand mich in einem kleinen Zimmer mit großen Fenstern. Das Sonnenlicht blendete mich. Mein Arm war schwer wie Blei, doch ich bemühte mich, meine Hand schützend vors Gesicht zu halten. Der Schmerz, der meinen Körper unaufhaltsam bei der kleinsten Bewegung durchzuckte, betäubte mich. Es war, als würde ein Presslufthammer immer wieder auf mich einwirken. Ich konnte nicht einmal beschreiben, welche Körperregion mir am meisten weh tat. Zumal ich nicht einmal sicher war, ob ich überhaupt alle Körperteile bewegen konnte. Doch das wollte ich in diesem Moment auch nicht herausfinden.
Langsam ließ ich meinen verschleierten Blick gedankenlos durch das Zimmer wandern und bemerkte ein Bild an der gegenüberliegenden Wand mit der Aufschrift »Carpe diem – Lebe den Tag«. Wenn man den Umstand betrachtete, dass ich vor kurzer Zeit fast gestorben wäre, hätte ich beinahe gelacht. So lächerlich und fehl am Platz erschien mir dieses Zitat in diesem Moment.
Schnell wandte ich mich ab. Fast automatisch glitt mein Blick zu der Frau auf dem Stuhl neben mir. Mit geschlossenen Augen lag sie mit ihrem Oberkörper halb auf meinem Bett, den rechten Arm unter ihrem Kopf gebettet. Fest umklammert, als könnte sie mich verlieren, hielt meine Grandma meine verbundene Hand. Eine Kanüle ragte aus dieser heraus und zeigte mir, dass dieser Albtraum tatsächlich Realität war.
Rasch schloss ich die Augen, da ich nicht an das erinnert werden wollte, was passiert war. Ich konnte mich der Wirklichkeit noch nicht stellen.
Tief atmete ich durch und redete mir ein, dass alles gut werden würde. Meine Eltern würden am Leben sein und Evan würde mit einem großen Grinsen im Gesicht in dieses Zimmer spazieren, als wäre nichts passiert. Dieser Unfall war nie geschehen.
Als ich vorsichtig die Augen wieder öffnete und das karg eingerichtete Krankenzimmer erblickte, begannen meine Lippen zu beben und ein kehliger Laut kroch aus der Tiefe meiner gebrochenen Seele. Ich blinzelte die aufkommenden Tränen beiseite und schaute zu meiner Grandma, die noch immer unverändert neben mir lag. Eine graue Locke fiel ihr ins Gesicht. Als ich meine Hand nach ihr ausstrecken wollte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Erschrocken zuckte ich zurück, ehe ich mich wieder in die weichen Kissen fallen ließ. Erneut richtete ich meinen Blick auf die gebrechliche Gestalt neben mir. Ihre sonst so perfekt sitzenden, kurzen graublonden Locken, standen ihr wild zu allen Seiten ab und ihr sonst so munteres Gesicht wirkte stark eingefallen. Sie sah aus, als wäre sie um zehn Jahre gealtert.
Was war mit ihr passiert?
Als ich mit meiner Hand sanft über ihren Arm fuhr, öffnete sie schlagartig die Augen. Sobald Granny bemerkte, dass ich wach war, liefen ihr unkontrolliert die Tränen über die eingefallenen Wangen. Ich starrte sie nur aus großen Augen an, unfähig, etwas zu sagen. Denn ich wusste, dass kein Wort diesen Unfall ungeschehen machen konnte.
»Ich bin so froh, dass du wach bist, meine Kleine«, schluchzte sie und fuhr mir mit zittrigen Händen über die Wange, als müsste sie sich vergewissern, dass ich da war. Ihre sturmgrauen Augen, die mich an meinen Vater erinnerten, starrten mich mit einer Mischung aus Angst, Freude und tiefer Traurigkeit an. Es brach mir das Herz, sie so sehen zu müssen. Ich öffnete die Lippen einen Spalt breit, um etwas zu erwidern, doch ich schloss sie wenige Augenblicke später wieder.
»Ich dachte schon, du...« Sie verstummte, da ein tiefes Schluchzen ihren schwachen Körper zum Erzittern brachte.
Eine unersättliche Traurigkeit überkam mich, doch ich bemühte mich, den Schmerz nicht zuzulassen.
Noch nicht.
Ich konnte nicht.
Eine einzelne Träne rann mir über die Wange, als die Bedeutung ihrer Worte langsam zu mir durchsickerten. Ich biss die Zähne fest aufeinander und hielt den Mund geschlossen, damit sie nicht meine bebenden Lippen bemerkte. Warum ich in dieser Situation stark bleiben wollte, wusste ich nicht. Vielleicht dachte ich, dass es so einfacher war, die Realität zu ertragen.
»Hast du starke Schmerzen? Soll ich eine Schwester holen?«, fragte sie mich, bemüht ihre Stimme wiederzufinden.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, doch schon diese kleine Bewegung tat unfassbar weh. Aber viel schlimmer als die körperlichen Schmerzen war die Ungewissheit über den Gesundheitszustand meiner Familie. Waren sie am Leben? Allein, dass ich mir diese Frage überhaupt jemals stellen musste, ließ mich zusammenzucken.
»Mom? Dad?«, krächzte ich leise, da ich für mehr nicht die Kraft hatte. Vielleicht wusste es ein Teil von mir bereits, aber die Hoffnung hielt mich noch für einen Moment auf dem Drahtseil, ehe ich das Gleichgewicht verlieren würde und endgültig in den Abgrund stürzte.
Der Körper meiner Grandma sackte in sich zusammen. Ihre Augen wurden glasig, und eine tiefe Traurigkeit überschattete ihr Gesicht. Sie presste die Lippen fest aufeinander, so wie ich es wenige Augenblicke zuvor getan hatte. Fast zögerlich schüttelte sie den Kopf.
In diesem Moment brach meine heile Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
»Nein«, hauchte ich und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Immer wieder schüttelte ich den Kopf, als könnte ich damit etwas an der Situation ändern und sie nicht zur Realität werden lassen. Tränen rannen unkontrolliert aus meinen Augen und befeuchteten meine Hände, die ich schützend vor mein Gesicht gehalten hatte. Mein Körper begann am ganzen Leib zu zittern.
»Es tut mir so leid«, hörte ich meine Grandma sagen, doch ihre Stimme ging unter meinen gequälten Schluchzern unter.
»Es tut mir so leid. So leid«, wiederholte sie immer wieder, während sich ihre Arme tröstend um meinen Oberkörper legten, als könnte sie auf diese Weise verhindern, dass ich vollständig zerbrach. Halt suchend legte ich meine Stirn auf ihre Schulter und ließ mich von ihr sanft hin und herwiegen. Ein Beben erschütterte mich. Ich japste nach Luft, doch kein Sauerstoff erreichte meine Lungen. Ich geriet in Panik und atmete immer hektischer. Meine Sicht verschwamm und meine Ohren fingen an zu rauschen. Zwei Hände umfassten mein feuchtes Gesicht und ein sturmgraues Augenpaar schaute mir eindringlich entgegen. Sie sagte etwas, doch ich konnte sie kaum verstehen.
»Ein und aus. Ein und wieder aus. Ein und aus«, formte sie mit ihren Lippen und ich bemühte mich, ihrem Atem zu folgen.
Ich wusste nicht, wie lange wir in dieser Position verharrten, doch es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Irgendwann beruhigte ich mich, meine Atmung ging noch immer stoßweise, doch ich bekam wieder einigermaßen Luft.
»Das hast du gut gemacht«, lobte sie mich und strich mir dabei liebevoll über die strähnigen Haare. Erschöpft ließ ich mich in ihre geöffnete Handfläche fallen und schloss die Augen.
Meine Eltern waren tot.
Sie würden nie wieder zurückkommen.
Ich war keine Tochter mehr.
Ich würde nie wieder eine Tochter sein können.
Bei dieser Erkenntnis zog sich meine Brust schmerzvoll zusammen und neue Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln. Ich konnte diese Gedanken nicht ertragen.
Plötzlich tauchte ein Bild von Evan vor meinem geistigen Auge auf und ich befreite mich aus der sanften Umarmung meiner Grandma. Erneute packte mich die blanke Panik, die sich wellenartig in mir ausbreitete. Nicht auch noch mein Bruder.
»Evan?«, fragte ich sie mit zittriger Stimme.
Es entstand eine unangenehme Stille, in der ich sie am liebsten kräftig geschüttelt und angeschrien hätte. Doch ich blieb stumm, da mir dafür die nötige Kraft fehlte. Sie antwortete nicht, stattdessen nahm sie mich in den Arm und strich mir sanft über den Kopf. Ich lauschte ihrem unregelmäßigen Herzschlag, während ich hoffnungslos darauf wartete, dass sie mir sagen würde, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ginge und ich mir keine Sorgen machen bräuchte. Doch das sagte sie nicht. Kraftlos richtete ich meinen Blick erneut auf meine Grandma und brachte unter Schmerzen krächzend hervor. »Bitte.«
Ich wusste zwar nicht, wie viel Leid ich noch ertragen konnte, doch ich musste es einfach wissen. Auch wenn es bedeutete, dass das Loch in mir noch größer werden würde.
Ein Bild von Evan, wie er an diesem verhängnisvollen Tag freudestrahlend in mein Zimmer gestürmt gekommen kam und mir lautstark ein Geburtstagslied vorgesungen hatte, blitzte vor meinem inneren Auge auf. Ein Schluchzen entfuhr mir.
Evan war immer da, wenn ich ihn gebraucht hatte. Er war der große Bruder, den sich jeder wünschte. Wenn er bei mir war, verspürte ich nie Angst, weil ich wusste, er würde mich beschützen. Er würde mich finden, wenn ich mich mal wieder selbst verloren hatte und mich nach Hause bringen. Mein Bruder war mein Licht und mein Zuhause. Doch nun schien ich heimatlos zu sein.
Als meine Grandma mich daraufhin mit trauriger Miene betrachtete, verspürte ich einen enormen Druck in meiner Brust. Bitte nimm mir nicht meinen großen Bruder. Nicht Evan. Lass ihn bitte nicht tot sein, flehte ich in Gedanken. Ich brauchte ihn, sonst stand ich das alles nicht durch. Das wusste ich.
Eine ungeheure Angst überkam mich und ich fürchtete, dass ich die nächsten Worte nicht ertragen würde. Mein Hals schnürte sich zu, sodass ich kaum Luft bekam. Mein Körper begann heftig zu zittern und ein Taubheitsgefühl übermannte mich. Ich merkte, wie meine Ohren anfingen zu rauschen und mein Sichtfeld verschwamm. Bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich meine Großmutter noch sagen.
»Evan lebt, aber er liegt im Koma. Sein Zustand ist kritisch. Wir wissen nicht, ob er wieder aufwachen wird.«
Und dann war da nichts mehr. Nur Dunkelheit und Stille.
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