Kapitel 26
Ich legte meine Hand an den metallischen Türgriff und drehte den Schlüssel vorsichtig im Schloss. Ein leises Knacken ertönte, als ich die Tür einen Spalt breit öffnete. Ein boshaftes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. Alice konnte etwas erleben, wenn ich durch diese Tür trat. Ich war schon gespannt auf ihre Erklärungen.
Mit einer aufgesetzten wütenden Miene betrat ich unser Zimmer. Ich entdeckte Alice auf ihrem Bett, wo sie sich gerade die Fußnägel lackierte. Ihre Ohren wurden bedeckt von einem großen Paar Kopfhörern. Sie saß mit dem Rücken zu mir, sodass sie mich noch nicht bemerkt hatte. Diabolisch musste ich grinsen. Wie du mir so ich dir.
Ihr Kopf wippte leicht zur Musik, als ich mich auf Zehenspitzen an sie heranschlich. Ich wollte sie unbedingt erschrecken als kleine Rache dafür, dass sie Raven einfach so verraten hatte, wo ich war. Sie hatte mir nicht mal Bescheid gegeben, dass er kam. Dafür musste sie nun hinhalten.
Als ich dicht hinter Alice zum Stehen kam, wartete ich noch einige Augenblicke, doch sie war so vertieft in ihre Fußnägel, dass sie mich noch immer nicht wahrnahm. Ein Einbrecher könnte das ganze Zimmer ausräumen und sie würde nichts davon mitbekommen.
Ruckartig beugte ich mich über ihre Schultern und starrte ihr grinsend ins Gesicht.
,,Buh'', formte ich mit dem Mund.
,,Ahhhhhhhhh!'' kreischte Alice. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie fasste sich mit der einen Hand an ihre Brust. Aufgebracht riss sie die Kopfhörer von den Ohren.
,,Mensch, Aza. Du kannst mich doch nicht so erschrecken. Ich hätte einen Herzinfarkt haben können. Hier.'' Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust. ,,Spürst du, wie schnell mein Herz klopft. Mach das nie wieder!'', warnte sie mich.
Ich zog eine Augenbraue hoch und stemmte meine Arme in die Hüfte.
,,Da kannst du dir ja vorstellen, wie ich reagiert habe, als Raven plötzlich in dem Krankenzimmer meines Bruders stand, hm?''
Als Antwort formten ihre Lippen ein ,Oh', während ihre haselnussbraunen Augen immer größer zu werden schienen.
,,Alice?'', fragte ich mit einer gespielt warnenden Stimme.
,,Ich schwöre, ich kann es erklären'', stotterte sie und hob abwehrend die Hände.
,,Auf deine Erklärung bin ich mal gespannt.'' Innerlich musste ich grinsen. Sie legte eine Unschuldsmiene auf - typisch. Sie versuchte mich zu erweichen, aber ich wollte sie noch ein bisschen leiden sehen.
,,Er ist einfach vor unserer Tür aufgetaucht. Erstmal, woher weiß er überhaupt in welchem Zimmer wir wohnen? Und dann hat er auch noch diesen Carter mitgebracht. Kannst du dir das vorstellen? Der hat sich ernsthaft getraut, mir nach Samstagabend nochmal unter die Augen zu treten. Und als ich die Tür aufgemacht habe, war ich so geschockt gewesen, dass ich sie gleich wieder zugeknallt habe. Das war so peinlich. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Ich hatte nur mein Pyjama an und den Hasenohrhaarreifen auf dem Kopf. So hatte mich Carter gesehen, Aza. Und hör auf zu lachen, das war nicht lustig.''
Ich prustete los. Ich konnte mir die Szenerie gut vorstellen. Es war typisch Alice.
,,Sorry, ich versuche nicht mehr zu lachen, aber ich kann für nichts garantieren'', erwiderte ich grunzend, während ich mir einzelne Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so gelacht hatte.
,,Ja ja, schon gut. Auf jeden Fall haben die Idioten wieder geklopft und ich musste zwangsläufig diese Tür öffnen. Innerlich habe ich gedacht, ich müsste sterben, so peinlich war mir die ganze Situation, aber ich war knallhart. Natürlich habe ich keine Schwäche gezeigt und den beiden erstmal meine Meinung gegeigt, was sie denn hier zu suchen haben. Und Raven...''
Sie holte angestrengt Luft. Dass dieses Mädchen überhaupt Luft holte, wunderte mich.
,,Diese Flachzange hat mich einfach ausgelacht. Kannst du dir das vorstellen? Boar und ich war so kurz davor richtig auszurasten, doch da hat er mich gefragt, ob du da wärst.
Und natürlich habe ich ihm als deine gute Freundin nicht verraten, wohin du gegangen warst. Aber dann hatte Carter diesen Dackelblick aufgesetzt und davon war ich so irritiert, dass ich tatsächlich Raven zugehört habe. Und ich hatte das Gefühl, dass er es wirklich ernst meinte. Als ich ihm dann erzählt habe, dass du bei deinem Bruder bist, ist er wie ein Verrückter aus dem Zimmer gestürmt. Aza, ich weiß, ich bin eine schlechte Freundin, aber ich habe versucht, dich zu warnen. Über fünfzig Nachrichten habe ich dir geschrieben. Du kannst mir nicht vorwerfen, ich hätte dich nicht gewarnt.''
An mein Handy hatte ich gar nicht gedacht. Zuletzt hatte ich darauf geschaut, als ich vor zwei Tagen in die Bahn eingestiegen war. Danach lag es ausgeschaltet in meinem Rucksack. Schnell holte ich das Handy aus der Tasche und schaltete es ein. Nach einigen Augenblicken leuchtete der Bildschirm auf und zeigte mir 10 verpasste Anrufe und 53 eingegangene Nachrichten an. Verflucht, sie hatte Recht.
,,Ich hatte mein Handy ausgeschaltet und einfach komplett vergessen'', seufzte ich und fuhr mir durch die Haare.
,,Das habe ich nach der vierzigsten Nachricht auch gemerkt. Ich habe echt alles, was in meiner Macht stand, getan, um dich zu warnen. Also verzeih mir bitte, Aza.''
Sie zog einen Schmollmund und blickte mich aus großen Augen an. Eigentlich war ich nie wirklich böse auf sie gewesen, weshalb ich ihr nicht verzeihen musste. Ich wusste zwar noch immer nicht, wie Raven es geschafft hatte, Alice umzustimmen, doch es wirkte nicht so, als ob sie es mir verraten würde. Was es auch war, es musste ein guter Grund gewesen sein, sonst hätte sie ihm nichts erzählt. Obwohl sie Raven nicht leiden konnte, hatte sie ihm Vertrauen entgegengebracht und das rechnete ich ihr hoch an.
Ich breitete meine Arme aus, um ihr zu signalisieren, dass ich ihr verziehen hatte. Quiekend schloss sie die Lücke zwischen uns und sprang in meine Arme. Ihre Füße klammerten sich um meinen Rücken, während ihre dünnen Arme mich zu erdrücken schienen. Sie wusste, dass mir diese Geste viel abverlangte. Ich vermied noch immer Körperkontakt. Umarmungen waren schwer für mich. Mein Herz begann zu rasen und mein Atem wurde flacher, doch ich ließ es zu. Ich musste mich meinen Ängsten stellen, wenn ich irgendwann wieder ein normales Leben führen wollte. Das hatte mir damals auch meine Psychologin geraten. Wenn ich es mir zutraute, sollte ich mich in Situationen begeben, die für mich eine Herausforderung darstellten. Auch ein kleiner Schritt wäre ein Schritt nach vorne, hatte sie immer gesagt.
Alice kletterte von mir herunter und strahlte mich lächelnd an.
,,Ich hoffe, du warst nicht unanständig, meine liebe Aza'', feixte sie.
Mit wackelnden Augenbrauen und verschränkten Armen stand sie vor mir und fixierte mich.
,,Natürlich nicht!", erwiderte ich empört. Was dachte sie denn, was wir getan hatten? Bilder, wie wir dicht beieinanderstanden und er meine Hand gehalten hatte, tauchten vor meinem inneren Auge auf. Mir wurde augenblicklich warm.
,,Oh, du wirst ganz rot. Willst du mir nicht doch verraten, was zwischen euch vorgefallen ist?''
,,Es ist nichts.''
,,Nach nichts siehst du aber nicht aus'', erwiderte sie spöttisch und zeigte auf mein rot angelaufenes Gesicht.
,,Es war wirklich nichts. Er hat nur ab und zu meine Hand gehalten, aber ich glaube nicht, dass das etwas für ihn zu bedeuten hatte. Es war eher aus dem Affekt heraus'', druckste ich herum.
,,Aha! Wusste ich doch, dass du mir was verheimlichst. Aber was ist das zwischen euch eigentlich? Versteh mich nicht falsch, aber eure Beziehung zueinander erscheint für Außenstehende echt seltsam. Ihr wirkt so vertraut miteinander, obwohl ihr euch doch gar nicht richtig kennt.''
Da hatte sie allerdings recht. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Es war untypisch für mich, dass ich mich einer Person, die ich kaum kannte, nach so kurzer Zeit anvertraute. Er wusste zwar nicht alles, aber aus meiner Sicht bereits zu viel. Ich wollte ihn nicht zu nah an mich heranlassen. Bis ich nicht herausgefunden hatte, ob er sich an den Unfall erinnerte, würde ich Alice nichts von unserer Vergangenheit sagen.
,,Ich weiß nicht, was das zwischen uns ist. Nur manchmal fühlt es sich so an, als ob da etwas ist, das uns hält. Etwas, das uns verbindet. Ich weiß nur, dass seither meine Gedanken um ihn kreisen und egal, was ich auch versuche, ich bekomme ihn nicht aus meinem Kopf.''
Alice hörte mir aufmerksam zu und verzog mitfühlend ihren Mund.
,,Ich weiß, dass du Angst davor hast, dich zu öffnen. Du befürchtest, dass, wenn du wieder einen Menschen so nah an dich heranlässt, er auch verschwinden könnte. Deshalb distanzierst du dich, denn du willst nicht wieder allein sein, so wie jetzt.''
Sanft strich sie mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht.
,,Aber du vergisst, dass du nicht allein bist. Du hast mich und deine Großeltern. Es spielt keine Rolle, dass wir uns noch nicht so lange kennen. Egal, was du auch versuchst, du bekommst mich nicht mehr los. Wenn ich will, dann bin ich wie eine Zecke und glaub mir, ich habe bereits Blut geleckt. Also werden wir gemeinsam herausfinden, was Raven für einen Plan verfolgt. Ich spüre, dass er irgendwas zu verbergen hat und ich will unbedingt wissen, was es ist. Keine Sorge Watson, Sherlock ist bereit und ich weiß schon genau, wer mein erstes Opfer sein wird.''
Ein unheimliches diabolisches Grinsen stahl sich auf ihre Lippen, während sie gedankenverloren in die Ferne blickte. Oh man, jetzt war sie wieder in ihrem Element.
,,Alice, du musst mir aber eins versprechen. Übertreib es bitte nicht. Ich weiß nicht mal, ob Raven das Ganze nicht einfach aus reiner Freundlichkeit macht und wir beide da zu viel hineininterpretieren'', gab ich zu bedenken.
,,Das werden wir schon noch früh genug herausfinden. Aber mal ein anderes Thema. Wie geht es deinem Bruder? Du warst in der vergangenen Woche nicht du selbst. Du hast so distanziert gewirkt und warst häufig in Gedanken. Und manchmal in der Nacht, wo du gedacht hast, ich schlafe, habe ich dich weinen gehört. Ist etwas Schlimmes vorgefallen? Du musst mir auch nicht antworten, nur wenn du willst. Ich dachte nur, ich biete dir mein offenes Ohr an, falls du reden willst.''
Ihre Anteilnahme berührte mich. Sie und Evan hätten sich wahrscheinlich wirklich gut verstanden.
,,Tut mir leid, dass ich so bin. Ich weiß, dass es für dich schwer sein muss, mich jeden Tag mit guter Laune zu überhäufen'', gab ich schuldbewusst von mir.
,,Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe'', flüsterte sie.
,,Ja. Natürlich weiß ich das. Gestern war der Todestag meiner Eltern. Meine Großeltern hatten mich letzte Woche angerufen und mich gebeten nach Hause zu kommen, da es Evan immer schlechter gegangen war. Ich habe mich mit der Intention auf den Weg gemacht, dass ich mich nun endgültig von Evan verabschieden musste. Doch gestern Abend hatten die Ärzte überraschenderweise angerufen und uns gute Neuigkeiten übermittelt. Sie hatten ein neues Medikament getestet, worauf er gut reagierte. Wenn alles optimal läuft, wäre es sogar möglich, dass er wieder aufwacht.''
Als diese Nachricht uns erreichte, saß ich mit meinen Großeltern an unserem großen Esstisch. Nachdem mein Grandpa das Telefonat beendet hatte, weinten wir gemeinsam. Seit drei Jahren hofften wir auf eine Verbesserung und nun bestand die Möglichkeit, dass er wieder aufwachte. Zwar versuchte ich meine Hoffnungen klein zu halten, aber ich wollte mir dieses Gefühl nicht nehmen lassen. Nicht schon wieder.
,,Das sind großartige Neuigkeiten'', erwiderte sie strahlend. Sie zog mich in eine kurze Umarmung und eine Welle der Erleichterung durchströmte mich.
Am Ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, kann es noch nicht das Ende sein.
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