Kapitel 24
Als wir endlich den Geruch von Desinfektions- und Putzmitteln hinter uns ließen und ins Freie traten, holte ich erstmal tief Luft.
Wie ich Krankenhäuser hasste.
Während ich in den wolkenbedeckten Himmel schaute, überlegte ich, was ich mit dem Rest des Tages noch anfangen sollte. Zu meinen Großeltern wollte ich jetzt noch nicht. Sie würden mich nur wieder mit diesem mitleidigen Blick anschauen, den ich mehr als alles andere hasste, da er mich umso mehr daran erinnerte, was ich verloren hatte.
Wo sollte ich hin?
,,Was machst du heute noch?'', fragte die tiefe Stimme neben mir, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Kurz zuckte ich zusammen. Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich seine Anwesenheit ganz vergessen hatte. Er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Das intensive Grün seiner Augen, das im Licht besonders hell in verschiedenen Nuancen strahlte, zog mich in seinen Bann. Mein Kopf war wie leer gefegt und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
,,Aza?''
Er legte seinen Kopf ein wenig schief, wobei ihm eine einzelne Strähne in die Stirn fiel. Am liebsten hätte ich sie zurückgestrichen, doch ich riss mich von seinem Anblick los und starrte stattdessen auf den Boden.
Was dachte ich da eigentlich? Ich durfte nicht zulassen, dass Ravens attraktives Gesicht mich so schnell aus der Fassung brachte.
Fokus Aza.
,,Ehm, ich weiß nicht. Vielleicht werde ich einfach nach Hause gehen'', erwiderte ich achselzuckend. Mein Versuch, locker zu klingen, scheiterte kläglich, als meine Stimme am Ende des Satzes einfach abbrach.
Ein starker Windzug ließ mich frösteln und ich zog die Jacke fester um meinen Körper. Ravens Duft nach Wald und Minze umhüllte mich und ich fühlte mich gleich ein bisschen besser. Als ich meinen Blick wieder anhob, fiel mir auf, dass Raven nur einen schwarzen Kapuzenpullover trug.
Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen.
Gerade als ich den Reisverschluss seiner Jacke öffnen wollte, trat er einen großen Schritt auf mich zu, sodass wir uns sehr nah gegenüberstanden. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Stirn, als er sich leicht nach vorne beugte.
Unsicher schaute ich ihn aus großen Augen an, da ich nicht abschätzen konnte, was er im nächsten Moment tun würde. Generell fiel es mir schwer, ihn einzuschätzen. Er war wie eine undurchdringbare Mauer. Niemand hatte Zutritt zu dem, was hinter seiner Fassade lag. Egal, was er versuchte zu verbergen, er beschützte es eisern.
Sein Gesicht blieb gleichgültig, während er mich eingehend musterte. Seine grünen Augen wanderten über mein Gesicht und blieben einige Sekunden zu lange an meinen Lippen hängen. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und ich hielt augenblicklich die Luft an. Plötzlich spürte ich, wie seine Hand sich sanft um meine legte, als seine rauchige Stimme zu mir sagte:
,,Ich glaube, ich habe da eine bessere Idee.''
Ein sanftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Mein Herz stolperte, ehe es wild anfing, zu schlagen.
Fragend hob ich eine Augenbraue, doch er hatte sich schon wieder von mir abgewandt und lief in Richtung Bushaltestelle. Dabei wurde ich zwangsläufig mitgezogen, da er meine Hand noch immer fest umklammert hielt.
Gefangen in einer Art Schockstarre war mein Blick auf unsere Hände gerichtet. Mein Gehirn war zu langsam, um zu realisieren, was gerade passierte. Dennoch überschlugen sich meine Gedanken. Ich löste den Blick von unseren Händen und schaute stattdessen auf sein Seitenprofil.
Er lächelte. Nur leicht waren seine Mundwinkel angehoben, doch er lächelte. Raven Silver war glücklich? Wegen mir? Seine Augen zuckten für einen kurzen Moment in meine Richtung und ich bildete mir ein, dass sein Lächeln noch größer geworden war.
Als wir nach wenigen Minuten an der Bushaltestelle ankamen, ließ Raven meine Hand los und wandte sich stattdessen dem Fahrplan zu.
Augenblicklich wurde mir kalt. Mein Blick haftete sich auf meine Hand, in der ich noch immer seine Wärme spürte. Sie kribbelte wie verrückt und ich sehnte mich zurück nach seiner Berührung. Auch wenn es absurd war, überkam mich ein Gefühl der Enttäuschung.
Als ich realisierte, was ich gerade im Begriff war zu tun, krampfte ich meine Hand zu einer Faust.
Zwischen uns war nichts. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ausgerechnet Raven Interesse an mir haben könnte. Warum sollte er auch? An mir war nichts Besonderes. Weder hatte ich ein besonderes Aussehen noch war mein Charakter eindrucksvoll.
Egal, was ich mir auch einbildete und insgeheim erhofft hatte, es würde sowieso nicht in Erfüllung gehen. Diese Hirngespinste würden mir nur eines bringen und das waren Schmerzen. Ich musste mir eingestehen, dass Raven einfach nur nett war. Wahrscheinlich dachte er, dass wir Freunde werden könnten, während ich mich in seinen waldgrünen Augen verlor und darüber fantasierte, wie es wäre, seine Lippen auf meinen zu spüren.
Ich schüttelte meinen Kopf, als könnte ich dadurch diese Gedanken loswerden.
Sie nagten an meiner Seele. Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus, denn auf eine komische Art und Weise fühlte ich mich alleingelassen. Gleichzeitig schämte ich mich für meine Gedanken.
Ich wusste nicht, warum es mir so wichtig war, was Raven von mir dachte. Aber dieses Bedürfnis, von ihm beachtet zu werden, wurde immer stärker, je näher wir uns kamen.
Augenblicklich wurde mir eine Tatsache bewusst – Alice hatte recht gehabt. Raven würde mein Verderben sein und ich konnte nichts dagegen tun.
***
Die Busfahrt verlief schweigend. Meine Hand hatte er nicht wieder genommen. Die ganze Fahrt über starrte er stur geradeaus und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Wahrscheinlich bereute er es, mir angeboten zu haben, gemeinsam den Rest des Tages zu verbringen. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in meiner Brust breit und drückte mich nach unten. Warum konnte ich nicht einmal normal sein?
Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an die Fensterscheibe und schloss die Augen. Ich wollte die Welt nicht mehr sehen, in der ich kein Zuhause mehr hatte. Ich war so müde davon, immer auf der Suche nach etwas zu sein, dass mein Herz höherschlagen ließ, um am Ende nichts zu finden. Wie konnte man sich leer fühlen und gleichzeitig den enormen Druck spüren?
Tränen brannten hinter meinen Augen, doch ich zwang mich, sie zurückzuhalten.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich unterdrückte krampfhaft das Wimmern, das durch meine bebenden Lippen verhindert wurde.
Raven starrte noch immer gerade aus, doch sein Mund war zu einer schmalen Linie verzogen. Wie als hätte er gespürt, dass ich mit mir rang, rückte er ein wenig näher zu mir. Sein Oberkörper berührte meinen und ich fühlte mich augenblicklich besser. Er konnte nicht wissen, wie viel mir diese kleine Geste bedeutete. Hätte er mich angeschaut, dann hätte er gesehen, wie dankbar ich ihm war – für alles. Doch er sah mich nicht an, weshalb er den kurzen Einblick hinter meine Fassade nicht bemerkte.
Zwanzig Minuten später stiegen wir an einer Bushaltestelle mitten im Nirgendwo aus. Nur ein kleines Bushäuschen war in dem Meer aus Bäumen zu sehen. Der Regen hatte in der Zwischenzeit aufgehört und einzelne Sonnenstrahlen blitzten zwischen der dicken Wolkendecke hindurch. Während ich mich umschaute, stieß mir der Geruch von nasser Erde und Regen in die Nase.
,,Wo sind wir hier?''
Als ich mich zu Raven umdrehte, musterte er mich mit wachsamen Augen.
,,Hier bin ich früher immer mit meinem Vater gewesen. Komm, ich will dir etwas zeigen.''
Seine Stimmlage verriet nichts über seine Gefühle.
Mit einem Kopfnicken zeigte er in Richtung eines Trampelpfades und entfernte sich mit großen Schritten. Im Gegensatz zu seinen waren meine Beine winzig, sodass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
Immer muss ich irgendwelche Berge hochrennen, murrte ich in Gedanken.
Ich verdrehte die Augen. Er könnte wenigstens warten und nicht drei Meter vor mir wegstiefeln.
Wie als hätte er meine Gedanken gehört, blieb er ruckartig stehen und warf einen belustigten Blick in meine Richtung.
,,Kommst du?'', fragte er angeheitert. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
Ich ignorierte ihn konsequent und wir setzten unseren Weg fort. Nachdem wir eine halbe Stunde wortlos nebeneinander gelaufen waren, erreichten wir eine Lichtung. Als ich hinaus aus dem Wald trat, stockte mir der Atem. Wir standen auf einem Felsvorsprung, der einen wunderschönen Blick auf einen kleinen See frei gab, der inmitten des dichten Waldes in türkisblauen Farben glitzerte.
,,Es ist unglaublich schön hier. Danke, dass du mich hierhergebracht hast'', flüsterte ich atemlos.
Unwillkürlich musste ich lächeln. Eine Welle des Glücks durchströmte mich, als ich mit einem breiten Grinsen und leuchtenden Augen Raven anstrahlte. Er erwiderte meine Geste ebenfalls mit einem kleinen Lächeln. Nervös fuhr er sich durch die kurzen schwarzen Haare und suchte nach einem Platz, an den wir uns setzen konnten.
Mehrere Minuten sagte niemand von uns ein Wort. Wir beiden hingen unseren Gedanken nach. Vielleicht war Schweigen einfach unser Ding. Mir war die Stille längst nicht mehr unangenehm, vielmehr hatte ich mich daran gewöhnt. Raven war eben nicht der Typ, der viel redete.
Die Wolkendecke war aufgebrochen und der Himmel färbte sich in kräftigen orange-roten Tönen. Am Horizont ging die Sonne langsam unter. Bei dem Anblick zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Es erinnerte mich an meine Eltern und den Grund, weshalb sie heute an meinem Geburtstag nicht bei mir sein konnten. Stattdessen saß ich schweigend neben einem Jungen, der keine Ahnung hatte, dass ich heute Geburtstag hatte oder irgendwas von meiner Vergangenheit kannte. Genauso wenig wie ich etwas über ihn wusste. Wir waren einfach da, beide am selben Ort nur mit anderen Gedanken und verschiedenen Geschichten.
,,Hast du jemals jemanden so sehr vermisst, dass du geglaubt hast, ihn in einer Menschenmenge zu sehen, obwohl er nicht da ist?'', durchschnitt ich die Stille.
Ravens Augen leuchteten für einen kurzen Moment auf und ich bildete mir ein, so etwas wie Schmerz in ihnen aufblitzen gesehen zu haben.
,,Haben wir nicht alle jemanden, der unser Herz gebrochen hat oder einfach gegangen ist, ohne sich zu verabschieden?''
Ich hielt inne. Als er merkte, dass ich zögerte, sprach er weiter.
,,Niemand ist vollkommen ganz. Jeder hat seine eigene traurige Geschichte, die er niemandem erzählt, aus Angst, er könnte erneut zurückgestoßen werden. Vielleicht bauen wir deshalb unsere Mauern. Wir wollen uns schützen vor dem Schmerz, der in jedem Winkel der Welt auf uns lauert.''
Der traurige Blick, den er mir daraufhin zuwarf, löste eine Gänsehaut in mir aus. Seine Worte trafen etwas tief in mir, von dem ich dachte, dass ich es verloren hatte.
Mitgefühl.
Ich war in den letzten drei Jahren so auf mich selbst fokussiert gewesen, dass ich meine Außenwelt komplett ignoriert hatte. Es gab noch andere Menschen außer mir, denen Ähnliches widerfahren war oder Schlimmeres. Jeder hatte seine eigene Vergangenheit, mit der er klarkommen musste.
Er hatte recht. Trotzdem änderte das nichts an dem Zustand, dass ich allein war.
Ein Beben erschütterte meinen Körper und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte die ganze Situation momentan nicht verarbeiten. Der buntgefärbte Himmel, der die fehlende Präsenz meiner Eltern umso deutlicher machte, der schlechte Gesundheitszustand meines Bruders und das Chaos in meinem Kopf, wenn ich an Raven dachte, waren zu viel für mich.
,,An manchen Tagen fühlt es sich so an, als ob ich sie immer und immer wieder verlieren würde und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann'', schluchzte ich.
,,Seit sie weg sind, ist da diese Lücke, die ich nicht füllen kann und...''
Wie eine Lawine brach nun alles in mir zusammen. Meine Schultern zuckten und meine Atmung ging immer hektischer.
,,Ich weiß nicht , wie ich wieder ganz werden kann'', schluchzte ich gequält.
Ich schlug die Hände über meine Augen und weinte um meinen Verlust. Raven saß schweigend neben mir und hörte mir einfach zu.
Vorsichtig strich er mir meine Haare hinters Ohr und entfernte mit seinem Daumen die letzten Tränen von meiner Wange.
In seinen Augen sah ich kein Mitleid, sondern Sorge und Mitgefühl. Ich wusste, dass ich eine unsichtbare Grenze zwischen uns überschritten hatte, doch seine Worte hatten mich so berührt, dass ich die Tränen nicht mehr halten konnte.
Behutsam strich er mir über die Wange, während er mir beruhigend zuflüsterte.
,,Du siehst, es ist wie ein nie endender Krieg. Der Kampf um dein Glück, während du in der Dunkelheit versinkst. Du siehst kein Licht, weil alles in schwarz getaucht ist. Du versuchst zu fliehen, um einen Ausweg zu finden. Gott, du versuchst alles nur um atmen zu können.''
Sein Blick fand meine wässrigen Augen und sein Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
,,Ich war oft dort. Am Ende habe ich aufgehört zu kämpfen. Stattdessen habe ich mich umgeschaut und meinen Vorteil aus der Situation gezogen. Vielleicht wunderst du dich, wie ich sehen konnte, obwohl alles voller Dunkelheit war? Ich habe meine Augen geschlossen und das erste Mal auf mich selbst gehört. Manchmal musst du dich nicht selbst bekämpfen, um zu überleben, weil am Ende dein eigenes Herz einen Funken entzünden wird. Es ist deine eigene Seele, die sich dafür entscheidet, was sie im Leben wirklich möchte.''
Vorsichtig löste er meine Finger aus ihrer krampfhaften Haltung und verschränkte sie mit seiner Hand.
,,Wenn du glaubst, dass du verloren bist und niemanden hast, an den du dich wenden kannst und wenn alles zu viel wird, dann erinnere dich daran, es gibt immer noch mich.''
Seine Worte waren Balsam für meine gebrochene Seele.
,,Warum tust du das alles für mich? Wir kennen uns doch gar nicht richtig'', fragte ich zögerlich.
Er starrte mit einem solch intensiven Blick in meine Augen, dass ich hätte schwören können, er wäre von meinen Worten verletzt gewesen. Doch seine Miene blieb verschlossen und verriet nichts über seinen Gefühlszustand.
,,Wir kennen uns. Du hast es nur vergessen.''
Damit ließ er meine Hand los, stand auf und kehrte mir den Rücken zu. Ohne sich nach mir umzudrehen, lief er zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich blieb wie erstarrt stehen und schaute ihm hinterher, bis ich seine Silhouette nicht mehr erkennen konnte.
Hieß das, er erinnerte sich an den Unfall? Das würde zumindest erklären, warum er keine Fragen über Evan gestellt hatte. Andererseits könnte Alice ihm alles erzählt haben und er hatte nur aus Höflichkeit nicht nachgefragt? Oder hatten wir uns vor dem Unfall schon einmal gesehen?
Warum erinnerte ich mich nicht an ihn und warum musste dieser Typ immer in Rätseln reden? Konnte er nicht einfach Klartext sprechen, damit ich mir nicht immer wieder den Kopf über ihn zerbrechen musste? Klar könnte ich ihn auch einfach fragen, aber Raven schien nicht der Typ zu sein, der auf Fragen klar und deutlich antwortete.
Irgendetwas verheimlichte er mir und ich würde herausfinden, was es war. Auch wenn er ein magischer Zauberwürfel mit acht Seiten wäre und ich Rätsel für mein Leben hasste, würde ich ihn lösen.
Auch wenn ich auf dabei riskierte, mein Herz zu verlieren.
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