,,I close my eyes to pretend you're next to me, and some days I can't bring myself to open them at all.''
-Blake Auden
Da war er also. Der Tag, an dem ich gleichzeitig geboren und gestorben war.
Ein Teil von mir war immer an diesem Ort geblieben, versteckt zwischen dem Laub der Bäume und zurückgebliebenen Trümmerteilen.
Und dann an manchen Tagen, wenn es richtig schlimm war, so wie heute, traf es mich besonders schwer.
Ich atmete tief durch, als ich vor dem großen, stählernen Gebäude zum Stehen kam. Ich umklammerte krampfhaft den hellblauen Regenschirm, da ich etwas brauchte, woran ich mich festhalten konnte.
Ein kräftiger Windzug wirbelte mir die Haare ins Gesicht, doch es interessierte mich nicht. Obwohl es seit gestern Nachmittag in Strömen regnete, war ich den Weg hierher zu Fuß gegangen.
Meine Großeltern waren zu Hause geblieben, da sie wussten, dass ich lieber allein sein wollte. Für sie waren die letzten drei Jahre mit mir sehr schwer gewesen. Anfangs hatten sie Angst gehabt, mich allein zu lassen und waren zu jeder freien Minute in meiner Nähe gewesen, bis es mir irgendwann zu viel geworden war. Seitdem hielten sie einen gewissen Abstand zu mir, nicht, weil sie es wollten, sondern weil sie mir den Freiraum gaben, den ich benötigte. Ich war dankbar für ihr Verständnis und gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Sie versuchten alles, damit es mir gut ging, während ich ihnen im Gegenzug nichts zurückgab.
Gestern, als ich ankam, hatten sie sich so gefreut, dass sie mir um den Hals gefallen waren und ich war nicht mal in der Lage gewesen, ihre Umarmung zu erwidern. Ich konnte einfach nicht. Es war alles zu viel. Wieder hier an diesem Ort zu sein, wo alles begann und alles zu Ende ging.
Heute morgen hatte ich mich auch nicht besser benommen. Meine Großeltern wussten, dass ich meinen Geburtstag seit dem Unfall nicht mehr feierte und doch stand heute morgen ein kleines Päckchen vor meinem Zimmer. Ich hatte es nicht ausgepackt und allein das machte mich zu einem schlechten Menschen. Denn das letzte Geschenk, das ich geöffnet hatte, war von meinem Bruder gewesen.
Automatisch griff ich an meinen Hals, um mich zu versichern, dass die Halskette mit der silbernen Sonne noch immer da war. So war Evan immer bei mir, egal, wohin ich ging.
Damit trat ich durch die Türen des Krankenhauses, in dem mein Bruder die letzten drei Jahre verbracht hatte.
Ich bin hier, großer Bruder. Ich komme zu dir.
Mit zitternden Händen hielt ich wenig später den Türgriff zu seinem Zimmer fest umschlossen.
Mach einfach die Tür auf. Du schaffst das. Schon vergessen, das ist Evan, der da drinnen liegt. Er braucht dich jetzt und du ihn. Also öffne diese Tür.
Bevor ich in das spartanisch ausgestattete Zimmer hineintrat, atmete ich noch einmal tief durch und drückte schließlich vorsichtig die Türklinke herunter. Der Geruch von Desinfektions- und Putzmitteln stach mir in die Nase, als ich die Tür öffnete. Im Zimmer war es unendlich still, nur die Monitore zeigten, dass Evan noch am Leben war.
Als ich ihn entdeckte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Der Junge, der dort in diesem Bett lag, war nicht mein Bruder. Zumindest sah er nicht mehr so aus, wie ich ihn kannte. Seine kurzen, braunen Haare waren nun schulterlang, das Gesicht wirkte blass und seine hohen Wangenknochen stachen skelettartig aus den eingefallenen Wangen hervor.
Sein Körper war von verschiedenen Schläuchen durchlöchert, die ihn mit Nahrung, Flüssigkeit und Medikamenten versorgten. Durch einen Schlauch, der aus seinem Hals ragte, musste er künstlich beatmet werden.
Tränen traten mir in die Augen und verschleierten mir die Sicht.
Atme.
Ein. Aus.
Ein und wieder aus.
Ein Beben erschütterte meinen Körper und ein schmerzverzerrter Laut kroch über meine Lippen. Ich konnte das hier nicht. Doch gerade als ich mich umdrehen wollte, hörte ich meine innere Stimme, die mich beruhigte.
Psch. Alles ist gut. Du bist okay.
Evan braucht dich jetzt. Du weißt, wie gerne er dir zuhört, wenn du Geschichten erzählst. Erzähl ihm, wie du dich heute fühlst, er wird es verstehen.
Ich trug einen inneren Kampf mit mir aus und trotzdem ging ich mit langsamen Schritten auf ihn zu. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich dicht neben ihn. Vorsichtig legte ich meine Hand in seine. Bei der Berührung zog sich etwas in mir zusammen, während neue Tränen ihren Weg an die Oberfläche fanden. Sie strömten nun unkontrolliert über mein Gesicht, während ich mich vorsichtig an seine Brust drückte. Ich konnte sein Herz schlagen hören und sein Atem ging gleichmäßig.
Wenn ich die Augen schloss, war es fast so, als würde er nur schlafen. Vielleicht würde ich gleich aufwachen und erkennen, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war.
Ich öffnete meine Augen. Es war kein schlechter Traum, sondern bittere Realität.
Sanft strich ich mit dem Daumen über seinen Handrücken und malte kleine Kreise auf seine Haut. Das hatte mein Dad immer bei mir gemacht, wenn es mir schlecht ging. Es hatte mich beruhigt und ich hoffte, dass Evan das Gleiche fühlen würde.
,,Hey großer Bruder. Ich bin es, Aza. Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Ich bin jetzt hier. Alles wird gut werden. Irgendwann wirst du wieder aufwachen. Du musst einfach'', flüsterte ich in die Stille.
,,Ich bin jetzt Studentin, kannst du das glauben? Ich habe es ganz allein geschafft, ohne mich zu verlaufen. Ich bin einfach immer geradeaus gegangen und habe mir alles genau angesehen, so wie du es mir beigebracht hast. Ich bin immer noch orientierungslos, aber ich habe gut auf mich aufgepasst, damit du dir keine Sorgen zu machen brauchst.''
Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
,,Ich habe sogar eine Freundin gefunden. Sie heißt Alice und sie ist so verrückt, aber gleichzeitig so herzensgut. Irgendwann bringe ich sie mal mit. Du wirst sie mögen, denn sie redet mindestens genauso viel wie du. Manchmal erinnert sie mich an dich und dann fühle ich mich weniger allein. Obwohl ich weiß, dass du immer bei mir bist.''
Zittrig atmete ich aus. Eine alte Erinnerung blitzte vor meinen Augen auf.
,,Weißt du noch, als wir mit Mom und Dad im DisneyWorld waren? Ich war so aufgeregt, dass ich überall stehen geblieben bin, ohne darauf zu achten, ob ihr schon weitergegangen seid. Während ich mich verlor in den bunten Lichtern und den schillernden Eindrücken, wart ihr plötzlich weg. Ich konnte euch nirgendwo entdecken und ich hatte schreckliche Angst. Ich weinte, weil ich dachte, ich hätte euch verloren. Und dann standest du auf einmal mit einem breiten Grinsen im Gesicht vor mir. Als ich dich sah, hatte ich plötzlich keine Angst mehr, da ich wusste, dass wir zusammen waren. Ich weiß noch, dass deine Augen verräterisch geglitzert haben, als du zu mir gelaufen kamst. Du hast dir bestimmt Sorgen gemacht, aber du wolltest es dir nicht anmerken lassen. Deshalb hast du gelächelt. Dank dir hatte ich immer das Gefühl, sicher zu sein. Du hast mich immer beschützt, obwohl du wahrscheinlich auch Angst hattest, Mom und Dad nicht wiederzufinden. Doch du hast es nicht gezeigt und hast mir stattdessen ein Eis gekauft. Wusstest du, dass seit diesem Tag Erdbeere meine Lieblingseissorte ist? Aber ich habe es seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen. Es schmeckt einfach nicht ohne dich.''
Vorsichtig hob ich meinen Kopf und schaute ihn an. Meine Hand wanderte zögerlich zu seinem Gesicht und strich sanft über seine Wange.
,,Es fühlt sich so an, als würde ich dich verlieren und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann'', flüsterte ich ihm zu.
,,Ich versuche, dich zu halten, doch du entgleitest mir immer mehr. Mithilfe von Bildern und Erinnerungsfetzen von Gesprächen und Momenten, die wir gemeinsam erlebt haben, versuche ich, dich am Leben zu erhalten. Wenn ich meine Augen lang genug geschlossen halte, stelle ich mir vor, du wärst neben mir und würdest mir sagen, dass alles gut werden würde. So wie du es immer getan hast. Doch wenn ich aufwache, bin ich es, die diese Worte zu mir selbst flüstere.''
Ich rieb mir die Augen.
,,Du siehst, ich vermisse dich so sehr. Mit dir wäre das alles leichter zu ertragen.''
Ein erneuter Ruck durchzog meinen Körper. Mein Atem beschleunigte sich und mein Puls begann zu rasen. Qualvolle Schluchzer durchschnitten die Stille.
,,Es fühlt sich so an, als ob ich in so viele verschiedene Richtungen geschleudert werde. Erwartungen und Hoffnungen lasten auf meinen Schultern und drücken mich zu Boden. Leere Versprechungen säumen meinen Alltag. Und wenn ich am Ende des Tages müde ins Bett falle und ich mich selbst zu Atem kommen lasse, dann sehe ich dich und mich, wie wir nebeneinander im Bus sitzen und über das Leben diskutieren. Ich sehe uns über belanglose Dinge lachen und das reicht für mich aus. Denn solange ich dein Lachen sehen kann, habe ich alles, was ich brauche, um das hier durchzustehen.''
Mit meinem Zeigefinger strich ich vorsichtig über seine Augen.
,,Komm zurück. Lass mich bitte nicht mit mir allein.''
Ich vergrub meinen Kopf in der Halsbeuge meines Bruders und weinte. Alles, was ich in den letzten Monaten angestaut hatte, brach in diesem Moment zusammen. Eine gefühlte Ewigkeit blieb ich so liegen und beobachtete das Heben und Senken seines Brustkorbes. Ich schloss meine Augen und mich übermannte die Erschöpfung.
Kurz bevor ich einschlief, spürte ich, wie jemand vorsichtig meinen Kopf streichelte und mir leise zuflüsterte.
,,Du bist nicht allein. Du hast immer noch mich. Ich werde auf dich aufpassen.''
Ich war zu müde, um zu antworten und so schlief ich mit einem weiteren leeren Versprechen ein.
Hi ihr lieben Leser ;) Ich weiß, dass die letzten beiden Kapitel ganz schön deep waren, aber es war notwendig an dieser Stelle. Seid ihr gespannt wie es weitergeht? Ich wollte mich auch nochmal vom ganzen Herzen für eure Votes und Kommentare bedanken. Es macht so viel Freude eure Reaktionen zu lesen. Ihr seid echt super :*
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