Kapitel 19
Immer wieder drängten sich diese Gedanken in meinen Kopf, bedrohten mich, als wäre ich eine Gefangene meines Selbst. Sie engten mich ein, wollten mir alles nehmen.
Ich musste weg von hier.
Orientierungslos stolperte ich durch die Menge, als mich plötzlich zwei männliche Arme von hinten umschlossen und mich auf die Tanzfläche zerrten. Ein strenger, süßlicher Parfümduft strömte mir entgegen und ich riss hilfesuchend die Augen auf.
Ich stand kurz vor einer Panikattacke, als irgendein Typ, den ich nicht kannte, anfing, sich an meinem Körper zu reiben. Sein Atem stank nach Bier und er schwitzte fürchterlich. Während seine Hand immer tiefer wanderte, flüsterte er mir widerliche Worte ins Ohr.
Ich war wie schockgefroren. Mein Inneres löste sich von meiner Hülle und starrte mir traurig entgegen. Meine Sicht verschwamm und ich merkte, wie einzelne Tränen sich aus meinen Augen lösten. Mein Herz schlug wie wild gegen meine Brust und mein Puls raste.
Ich hatte die Kontrolle über meinen Körper verloren.
Mein Blick glitt hilfesuchend über die tanzende Menge, in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht auszumachen. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich Jace nur wenige Meter von mir entfernt ausmachte. Er schaute mich direkt an, doch er machte keine Anstalten, mir zu helfen. Sein Blick wirkte leer und verklärt, als er die Bierflasche an seinen Mund ansetzte und schließlich in der Menge verschwand.
Eine Träne kullerte mir über die Wange, als der Typ seine Hand um meinen Bauch schlang und mich an ihn zog.
Alice und Carter konnte ich auch nirgendwo ausmachen. Niemand würde mir helfen, obwohl sie mir versprochen hatte, dass mir nichts passieren würde.
Ich drückte meine Augen fest zusammen und presste die Lippen aufeinander, um ein Wimmern zu unterdrücken. Schwindel überkam mich, während die Geräusche um mich herum zu einer eintönigen Maße verschwammen.
Ich bekam keine Luft. Jeglicher Sauerstoff wurde mir aus der Lunge gepresst.
Doch auf einmal war ich frei. Ein knackendes Geräusch, als würden Knochen brechen, ließ mich zusammenzucken.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete ich, wie die Faust eines jungen Mannes immer wieder auf das Gesicht des Typen traf, der mich noch vor wenigen Augenblicken begrabscht hatte. Der Unbekannte trug einen schwarzen Kapuzenpullover und hatte das Basecap tief ins Gesicht gezogen.
Die tiefe Stimme meines Retters ließ mich erzittern.
,,Wenn du sie noch einmal berührst, dann breche ich dir weit mehr als deine dämliche Fresse.''
Er beugte sich langsam über sein blutiges Gesicht und flüsterte ihm etwas ins Ohr, ehe er sich aufrichtete und sich zu mir umdrehte.
Ich erstarrte.
In seinen dunkelgrünen Augen tobte ein Feuer und ich sah, wie schwer es ihm fiel, sich zu beherrschen. Sein Kiefer zuckte unkontrolliert, während seine Hände noch immer zu Fäusten geballt waren. Seine wunden, blutverschmierten Knöchel stachen weiß hervor.
Mit schnellen Schritten kam er auf mich zu und packte mich am Ellbogen.
Die anderen Gäste waren inzwischen auf das Geschehen aufmerksam geworden. Sie machten uns den Weg frei, als Raven mich unsanft hinter sich herzog. Das Ganze dauerte nur wenige Minuten. Rückblickend war ich wie in einer Art Trance gefangen. Ich hörte noch Alice meinen Namen rufen, doch da hatte mich Raven schon aus dem Haus gezerrt.
Mitten auf der Straße blieb er ruckartig stehen und wandte sich wutverzerrt zu mir um.
,,Was war das da drinnen? Warum hast du zugelassen, dass dieses Arschloch dich anfasst?'', schrie er mich an.
Ich zuckte zusammen. Noch nie in meinem Leben hatte mich jemand so angeschrien.
Geschockt von seinen harten Worten stolperte ich drei Schritte zurück. Ich antwortete ihm nicht. Ich wusste, er würde es nicht verstehen, wenn ich es ihm erklären würde. Niemand tat das. Wenn sich eine Panikattacke bei mir anbahnte, verfiel mein Körper wie automatisch in einen Schockzustand, in dem ich mich nicht bewegen konnte. Es war jedes Mal genau wie damals in diesem Auto. Ich durchlebte immer wieder mein persönliches Trauma.
Als ich ihm nicht antwortete, fuhr er sich mit den blutigen Händen durch die dichten Haare. Er näherte sich meinem Gesicht auf wenige Zentimeter und schaute mir abschätzig in die verheulten Augen. Er zog scharf die Luft ein, als er den Alkohol roch.
,,Sag mal, hast du etwa getrunken? Was glaubst du, was passiert wäre, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, hm? Denkst, du einer von den Vollidioten dort drinnen hätte dir geholfen, wenn er dich vergewaltigt hätte? Hättest du das auch zugelassen?'', brüllte er mir aufgebracht entgegen.
Das war der Moment, als ich mich aus meiner Starre löste. Mit einer Mischung aus Schock und Entsetzen schaute ich ihn an. War das gerade sein Ernst?
,,Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? Was glaubst du, wer du bist, mir zu unterstellen, dass das Verhalten dieses Typs meine Schuld war? Wir stehen in keinerlei Beziehung zueinander, also wag es nicht, über mich zu urteilen. Du hast absolut keine Ahnung, was da drinnen gerade passiert ist, also hör auf, dich so aufzuspielen'', rief ich aufgebracht und ließ meine Wut freien Lauf.
Meine Lippen bebten und ich konnte kaum an mich halten. Wie konnte er nur so etwas sagen nach allem, was er für mich getan hatte? Tief in meinem Inneren spürte ich die Bedeutung seiner Worte umso heftiger. Es versetzte mir einen Stich, dass er so von mir dachte. Es sollte mich nicht so sehr berühren, was er von mir hielt. Doch ich konnte nichts gegen diesen Schmerz unternehmen, der meine Adern gefrieren ließ. Deshalb musste ich mich beschützen und etwas sagen, dass ich nicht so meinte.
,,Wir sind keine Freunde, Raven. Also hör auf dich so zu verhalten, als wären wir mehr als Fremde.''
Meine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Seine Miene veränderte sich schlagartig. Die Züge um seine Augen wurden weicher, als er mich mit großen Augen betrachtete. Entsetzen, Schock, Reue und Sorge spiegelten sich in seinem Blick.
,,Warum warst du überhaupt auf dieser Party und warum hast du getrunken? Das hier ist kein guter Ort für dich, Aza'', flüsterte er.
Das war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach. Aus seinem Mund klang es so liebevoll, dass ich augenblicklich eine Gänsehaut bekam.
Trotzdem ließ ich mir von ihm nicht vorschreiben, was der richtige Ort für mich war und was nicht.
,,Man, kapierst du es nicht? Die Menschen betrinken sich. Sie küssen die falsche Person und tun so, als wäre alles okay. Die Menschen tun verdammt nochmal alles, um das Herz abzulenken. Sie versuchen alles, damit es niemanden vermisst.''
Schweigend starrten wir uns an. Im Hintergrund dröhnte lautstark die Musik der Party, doch alles, was für mich in diesem Moment zählte, war der Gedanke, dass ich gerade einen großen Fehler begangen hatte.
Vorsichtig ging ich noch zwei Schritte zurück.
Raven beobachtete aufmerksam jede meiner Bewegungen, als ob er wissen würde, dass ich kurz davor war, zu flüchten.
Seine Lippen verzogen sich zu einer geraden Linie, während er mit behutsamen Schritten die Lücke zwischen uns wieder schloss.
Mein Herz raste und mein Atem beschleunigte sich, als seine Fingerspitzen meine rechte Wange berührten. Ganz vorsichtig umschloss er mein Gesicht mit seiner Hand und strich mir die Tränen aus dem Augenwinkel.
Er sagte nichts und tat nichts weiter, als mit seinem Daumen über meine Wange zu streichen. Er schenkte mir mit dieser Geste Trost und gab mir Schutz vor der Welt, die mich zu verschlucken drohte.
Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Handfläche und atmete zittrig ein und aus.
Vor wenigen Augenblicken hätte ich ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen, aber seltsamerweise beruhigte mich nun seine Anwesenheit.
Die Leere in meinem Körper füllte sich mit einem für mich gefährlichen Gefühl. Hoffnung.
Durfte ich hoffen, dass Raven mehr war als eine zufällige Begegnung?
Nein.
Tu das nicht, Aza. Du weißt, was passiert, wenn er dich auch verlässt. Alle gehen irgendwann, auch er. Lass nicht zu, dass er dich bricht, rief ich mir in Gedanken zu.
Doch konnte ich ihm widerstehen? Es war so viel Ungesagtes zwischen uns und ich wusste nicht, wo unsere Geschichte noch hinführen würde.
Als ich ihn betrachtete, bemerkte ich, wie eine Strähne ihm ins Gesicht fiel. Ohne darüber nachzudenken, hob ich meine Hand und strich sie vorsichtig zurück. Seine Augen wurden groß, als er realisierte, was ich da gerade getan hatte. Während er mich ungläubig aus leuchtend grünen Augen musterte, fiel mir zum ersten Mal die Narbe an seiner linken Augenbraue auf.
Wieso hatte ich sie vorher nicht bemerkt?
Sie verlieh ihm diesen gefährlichen rebellischen Ausdruck und machte ihn noch attraktiver.
Wie vom Blitz getroffen löste er sich ruckartig von mir und trat drei Schritte zurück. Es war, als hätte es diesen intensiven Moment zwischen uns nie gegeben.
,,Komm, ich bringe dich nach Hause. Ach und zieh den Pullover an, dir ist bestimmt kalt", sagte er mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen.
Mit einer schnellen Bewegung schlüpfte er aus seinem schwarzen Kapuzenpullover und hielt ihn mir mit ausgestrecktem Arm entgegen.
Ich zögerte.
Jeder Schritt in seine Richtung bedeutete für mich Gefahr. War ich bereit, dieses Risiko einzugehen und meine Prinzipien zu verraten?
Eindeutig nein.
Aber mir war arschkalt.
Vorsichtig streifte ich den Pullover über meinen Kopf und spürte, wie mir augenblicklich warm wurde. Sein unverkennbarer Duft nach Minze und Wald empfing mich und ich fühlte mich sofort weniger allein.
Schweigend liefen wir nebeneinander her. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf explodierte vor lauter Gedanken, doch keiner davon schien mir passend, um diese Stille zu durchbrechen.
Raven schien es ähnlich zu gehen. Sein Blick war stur geradeaus gerichtet, während er angestrengt die Stirn in Falten zog.
Als wir nach wenigen Minuten vor dem Wohnheim zum Stehen kamen, legte sich eine unangenehme Stille über uns.
Sein Blick durchbohrte mich förmlich und es fühlte sich so an, als ob er in die Tiefen meiner Seele sehen könnte.
Am liebsten hätte ich ihm meinen Schmerz gezeigt, der mich von innen zerfraß.
Doch das konnte ich nicht.
,,Weißt du, ich glaube die Wahrheit ist, dass der Schmerz immer da sein wird und du letztlich nur lernst mit den Löchern in deinem Herzen zu leben.''
Ich erstarrte bei seinen Worten.
,,Woher weißt du, was ich fühle?'', fragte ich zögerlich.
,,Ich sehe es in deinen Augen. Sie sind leer. Manchmal, wenn ich dich anschaue, erinnerst du mich an mein früheres Ich. Ich weiß, was du fühlst, weil ich den gleichen Schmerz bereits durchlebt habe. Ich verstehe dich, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, jemanden zu vermissen, der einem genommen wurde. ''
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