V I E R
Früher mal hatte sie ein normales Leben gehabt, war ein liebes, nettes und braves Mädchen gewesen, hatte mit Puppen gespielt und ihre Freundinnen zu sich eingeladen.
Hätte man sie gefragt, warum sie sich so verändert hatte, sie hätte es nicht gewusst.
So vieles hatte sie verdrängt, aus ihren Erinnerungen gestrichen, für immer irgendwo in ihrem Gehirn vergraben.
Sie hatte es nie wirklich leicht gehabt, dass war alles, was sie sich noch von ihrer Kindheit zu denken erlaubte.
Hätte sie tiefer geforscht, sie hätte viele schreckliche Erinnerungen gefunden.
Ihr Vater war heroin- und alkoholabhängig gewesen, wenn er nicht bekifft oder betrunken war, schlug er sie und ihre Mutter bis zur Bewusstlosigkeit.
Wenn er seine guten Tage hatte, schenkte er ihr und ihrer Mutter Sachen, von Puppen bis zu schönen Kleidern und Ohrringen.
An schlechten Tagen verbrannte er diese Dinge im Kamin, drohte damit, auch seine kleine Tochter ins Feuer zu stecken und zog zu einer Sauftour um die Häuser.
Der Auslöser für ihre Veränderung war viel eher die Tatsache, dass sie mit Drogen und Alkohol großgeworden war, sie hatte nie die Abneigung gegen all diese Dinge, zu der andere Kinder erzogen worden.
Die Sucht ihres Vaters war allgegenwärtig und umgab die gesamte Familie wie ein Käfig.
Kamen Freundinnen der Tochter, versuchte die Mutter, alles rosig aussehen zu lassen.
Sie räumte die Drogenpäckchen und Bierflaschen in Schränke, an die die kleinen Mädchen nicht herankamen, säuberte die kleine Wohnung und lieferte ihren Mann in einer möglichst weit entfernten Kneipe ab, in der Hoffnung, er möge bis sieben Uhr abends nicht wieder erscheinen.
Waren die Mädchen gegangen, verwandelten sich Mutter und Tochter wieder zurück in blau und grün geschlagene, traurige Leute, ließen den Vater in Ruhe und wurden trotzdem geschlagen.
Bis ihre Mutter starb.
Sie hatte sich das Leben genommen, weil sie es nicht mehr mit einem Mann wie dem ihren aushielt.
Hätte sie sie nicht so sehr geliebt, hätte sie auch ihre Tochter mit in den Tod gerissen.
Aber so blieb das kleine, inzwischen elfjährige Mädchen bei ihrem Vater, der ihr verbot, jemals von seiner Sucht und den Schlägen zu erzählen.
Mit zwölf trank sie ihr erstes Bier.
Mit dreizehn lief sie angetrunken von zuhause weg, kam zwei Tage später zurück und wurde vier Wochen später in ein Kinderheim gesteckt.
Mit vierzehn rauchte sie das erste Mal etwas härteres als normalen Tabak und vermasselte unter Einfluss von Marihuana die Prüfung, ob sie versetzt wurde oder nicht, weswegen sie die neunte Klasse wiederholen musste.
Mit fünfzehn kaufte sie am Bahnhof das erste mal ein Tütchen Kokain, zwei Gramm für insgesamt 150 Euro, die sie aus dem Portemonnaie einer Mitarbeiterin des Jugendamts geklaut hatte.
Mit sechzehn begann sie, erstandene Drogen nicht mehr komplett zu verbrauchen, sondern kleine Teile davon gewinnbringend zu verkaufen.
Mit siebzehn hatte sie damit so viel Geld gemacht, dass sie leichtsinnig wurde und von der Polizei erwischt wurde, wie sie sturzbetrunken auf dem Spielplatz Marihuana an Kinder verschenkte.
Mit achtzehn verließ sie mit Erlaubnis das Heim und zog in eine neue Stadt, um dort zu versuchen, ihren Ruf als Drogendealerin loszuwerden.
Sie hatte trotzdem nie versucht, ihre eigene Sucht zu verstecken oder zu bekämpfen.
Sie war zufrieden mit sich selbst, wollte sich nicht ändern, zumindest nicht, wenn man sie gefragt hätte.
War sie zufrieden?
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