
10 - KEINE WAHL
DER SOMMER IN New York befand sich auf seinem Hoch, als etwas geschah, dass Valerija keine Wahl mehr ließ.
Obwohl es bereits spät war und die Straßenlaternen ein flackerndes Licht auf die beinahe leere Straße vor ihr warfen, war sie noch hellwach. Sie war das erste Mal seit Mio's Tod aus gewesen.
Nicht weil sie gewollt hatte, allerdings hatte Cassie Geburtstag gefeiert und darauf bestanden, dass sie mitkam. Um nicht am Tisch einzuschlafen, hatte sie gleich zwei Kaffee getrunken - was wiederum dafür sorgte, dass sie nun noch viel zu wach für die späte Stunde war.
Theoretisch hätte sie noch länger bleiben können. Cassie und ihre Freunde befanden sich noch immer ein paar Straßen weiter in einer Bar - und Valerija war nun sowieso wach.
Allerdings wollte sie lieber die Zeit alleine genießen. Die Nachtluft war warm und weich, umschmeichelte ihre nackte Haut. Die Straße war leer - es war beinahe friedlich. Einen solchen Moment erlebte man in New York nur selten. Und sie genoss es. Sie genoss es tatsächlich. Sie konnte es genießen.
Sie hätte nicht gedacht, dass sie dieses Gefühl noch einmal erleben könnte.
Mit jedem Schritt verschwand die Erschöpfung der letzten Monate ein wenig mehr aus ihren Knochen.
Beschwingt lief sie um die nächste Hausecke. Ihre Wohnung befand sich bereits in dieser Straße - aber sie wollte noch nicht nach Hause gehen. Stattdessen entschied sie sich dieses ungewohnt, friedliche Gefühl weiter auszukosten. Wenigstens für ein paar Minuten noch.
Valerija lief zu dem Supermarkt, in dem sie arbeitete. Die Schaufenster der Geschäfte in der sonst so belebten Straße waren alle dunkel. Gegenüber gab es einen kleinen Pub, der rund um die Uhr geöffnet hatte und die Anlaufstelle für sämtliche Alkoholiker des Blocks war. Außerdem gab es eine Bar, die jedoch um vier Uhr ihre Türen schloss. Das waren die einzigen Orte an denen zu dieser Uhrzeit noch jemand zu finden war. Diesiges Licht fiel auf den dreckigen Asphalt.
Dann brach ein Schatten das Licht. Valerija sah auf. Ein Mann kam aus der Bar hinausgetorkelt. Seine hünenhafte Gestalt ragte vor ihr auf, so abrupt, so riesig, dass sie einen Aufschrei nur schwer unterdrücken konnte.
Instinktiv ging sie ihm aus dem Weg. Sie wollte eine Interaktion mit ihm um jeden Preis vermeiden. Betrunkene Männer, waren die Art Menschen, die man meiden sollte. Vor allem wenn man ganz alleine war.
Er hatte allerdings andere Pläne. Seine Hand taumelte durch die Luft und packte sie am Arm. Ein erschrockener Laut entkam ihren Lippen. Der Mann grinste dreckig. Adrenalin schoss ihr durch die Adern, lodernd wie pures Feuer. Valerija riss sich los. So schnell sie konnte brachte sie Abstand zwischen sich und dem fremden Mann, der offensichtlich nicht einmal mehr wusste, was er tat. Wieder griff er nach ihr, doch sie war schon außer seiner Reichweite. Ihr Herzschlag donnerte ihr in den Ohren.
"Bleib doch hier", lallte der Mann mit schwerer Zunge und taumelte ein weiteres Mal in ihre Richtung. Sie wich zurück - und sah dem Mann in die Augen.
Es waren hungrige Augen.
Auf einmal fühlte sie wieder die kalten Fliesen unter ihrem nackten Körper, spürte wieder die Hände des Wachmanns mit dem Blick aus Eis. Die Hände, die ihr die Kleidung vom Leib rissen, den stechenden Blick des Wachmanns. Das kalte Wasser, dass ihre Haut benetzte, als man sie unter die kalte Dusche schleifte. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war gefangen. Gefangen in Erinnerungen.
Wegrennen.
Sie sollte wegrennen - oder schreien - aber sie konnte nicht. Noch während sie das dachte, spürte sie die Hände des Mannes erneut. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Schulter, er lallte etwas unverständliches. Sie sollte schreien - das wusste sie. Doch jeder Laut blieb in ihrer Kehle stecken.
Sie war in den Eisaugen gefangen, kurz vor dem Erfrieren - erstarrt, unfähig auch nur einen Muskel zu rühren.
Panik wand sich in ihr wie tausend Schlangen. Seine Berührungen waren wie Gift auf ihrer Haut. Sie spürte wie die rauen Hände Spuren auf ihrer Haut hinterließen. Sie schloss die Augen- sie wollte nicht noch einmal diesen hungrigen Blick sehen müssen.
Sie wollte das nicht.
Sie wollte nicht, dass er sie berührte.
Auf einmal bebte ihr ganzer Körper, vor Zorn, vor Angst.
Sie wollte nicht, dass er sie berührte.
Sie. Wollte. Das. Nicht.
Und dann explodierte etwas in ihr. Es war wie das Kribbeln unter ihrer Haut, wenn sie ihre Kräfte einsetzte. Nur viel intensiver, viel schmerzhafter. Der Knoten in ihrer Kehle löste sich. Sie schrie. Schrie all' die Gefühle hinaus. Das stechende Gefühl unter ihrer Haut verschwand.
Und dann war nichts mehr - nur noch Valerija. Ihr war schwindelig und übel und sie riss keuchend die Augen auf, als wäre sie aus einem Schlaf erwacht.
Der Mann hatte sie losgelassen - doch nicht nur das. Er lag zu ihren Füßen. Zusammengekauert, wie ein kleines Kind, den Mund weit aufgerissen. Stumme Schreie verließen seine Lippen, sein Körper zuckte in einem schrecklichen Tanz.
Und dann sah Valerija den grünen Schimmer, der den Mann gefangen hielt.
Sie keuchte auf.
Tat sie ihm das an?
Unter höllischen Schmerzen hob der Mann eine bebende Hand und streckte sie nach ihr aus. Seine Augen schrien um Hilfe, doch sie konnte nichts tun. Sie musste ihm dabei zusehen, wie Blut sein Gesicht verunstaltete, wie eine unsichtbare Macht ihm immer mehr Verletzungen hinzufügte.
Sie hatte gewollt, dass er sie losließ - aber sie wollte nicht, dass er sich unter Qualen auf dem Boden wand. Sie hatte doch einfach nur gewollt, dass er sie in Ruhe ließ! Ihre Hände zitterten, als sie sie vor den Mund schlug. Ein Wimmern entkam ihren Lippen. Sie hatte ihn nicht verletzten wollen!
Was hatte HYDRA nur aus ihr gemacht?
Verzweifelt suchte sie in ihrem Inneren nach dem Funken ihrer Kräfte. Nach etwas, dass ihn diese Schmerzen nicht mehr weiter erleiden lassen musste - aber da war nichts. Wie auch nach Isaacs Heilung war sie zu erschöpft, um sich auch nur noch auf den Beinen zu halten.
Tausend schwarze Punkte tanzten vor ihrem Auge, verdichteten sich und nahmen ihr Schritt für Schritt die Sicht.
Sie taumelte. Tränen benetzten ihre Wangen, als sie auf die Knie fiel und den Asphalt unter ihren Händen spürte.
Sie musste hier weg.
Mit letzter Kraft, kroch sie zu der Hauswand und lehnte sich dagegen. Sie hasste sich dafür, dass sie ihm nicht helfen konnte.
Sie suchte immer noch nach dem heilenden Funken in ihr, nach dem warmen Kribbeln, dass dem Mann helfen konnte, als ihre Erschöpfung sie übermannte. Sie brach zusammen. Das Schwarz nahm sie auf, wie eine sanfte Umarmung eines alten Freundes.
⍟
Zwei Tage später hatte man Valerija noch immer nicht verhaftet, noch war kein Geheimdienst vor ihrer Haustür aufgetaucht. Sie hatte erwartet, dass der Mann - der verschwunden war, als sie einige Stunden später wieder zu sich kam - direkt zur Polizei gegangen wäre. Man hätte mit Sicherheit Spuren ihrer DNA an dem Mann feststellen können. Außerdem hatte er sie gesehen, lange genug um sich ihr Gesicht einzuprägen.
Doch es geschah nichts.
Sie rechnete schon damit, dass man ihre Wohnung stürmte und sie ein weiteres Mal einsperren würde. Und vielleicht würde man auch wieder an ihr experimentieren - so wie man es eben tat, mit Menschen deren Kräfte unbekannt waren.
Doch Stunde um Stunde verging, ohne besondere Vorkommnisse. Dafür begann sie langsam aber sicher ihren Verstand zu verlieren.
Sie verstand nicht, was in jener Nacht geschehen war. Sie wünschte, sie könnte mit Sicherheit sagen, dass sie sich das nur eingebildet hatte - doch die höllischen Kopfschmerzen, die sie heimsuchten seit sie aufgewacht war, sprachen für sich. Sie hatte immer Kopfschmerzen nachdem sie ihre Kräfte benutzt hatte.
Sie hatte ihre Kräfte genutzt.
Nur nicht so, wie sie sollte.
Sie konnte sich heilen. Andere heilen - das war etwas Gutes. Sie hatte diese Kräfte ausprobiert, ihren Nachbarn helfen können, wenn diese keine Versicherung und kein Geld besaßen.
Aber das sie einen Mann dazu gebracht hatte solche Qualen zu erleiden... Das machte ihr Angst. Und was ihr noch viel größere Angst bereitete, war die Tatsache, dass sie weder wusste, wie sie es angestellt hatte, noch wie sie es beenden hatte können.
Sie war gefangen in ihrem eigenen Körper. Sie war Hydra noch immer ausgeliefert und das, obwohl Hydra nicht länger existierte.
Sie ging davon aus, dass ihre Ohnmacht sein Leiden beendet hatte. Sie ging auch davon aus, dass sie ihm nicht nur Schmerzen zugefügt hatte. Wenn sie bisher heilen hatte können, dann machte es nur Sinn, dass das was in dieser Nacht geschehen war eine umgekehrte Reaktion ihrer Kräfte gewesen war.
Sie hatte ihn verletzt.
Vielleicht sogar umgebracht?
War das der Grund weswegen sie bisher noch nicht verhaftet worden war? Weil er tot in seiner Wohnung lag und ihn bisher noch niemand gefunden hatte?
Der Gedanke löste eiskalte Angst in ihr aus. Panik. Verzweiflung. Hass - auf Hydra und auf sich selbst.
Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Sie wusste nicht, was mit ihm geschehen war - sie wusste nur, dass so etwas nie wieder passieren durfte.
Nie, nie wieder, wollte sie einen Menschen verletzen.
Sie hatte keine Wahl. Sie benötigte Hilfe.
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