7. Countdown
Nathaniel 💘: Hast du mittlerweile Silvesterpläne? :)
Achja! Ich habe Rosalia immer noch nicht angerufen, um bei ihr nachzuhören, was ihre Pläne für den morgigen Abend sind. Wie konnte ich das nur schon wieder vergessen?!
Ich: Nein aber danke, dass du mich daran erinnert hast!!!
Ich schließe die Nachrichten-App und wähle stattdessen die Kurzwahl 4, durch die ich auf schnellstem Wege mit Rosalia verbunden werde.
Zum Glück haben meine Eltern mir zu Weihnachten ein neues Handy geschenkt. Anfangs dachte ich, dass ich mit dem zersprungenen Display leben kann und mich dran gewöhne aber dem war nicht so. Allerdings wissen die beiden nicht, wie es wirklich dazu gekommen ist. Es war mir im Nachhinein doch zu unangenehm, das zu beichten.
"Lisaaa, was gibt's?", erschallt es, in fröhlichem Ton, in meinem Ohr.
"Hey, ich wollte dich fragen, wie du Silvester verbringst?"
"Sag bloß, du willst es mit mir verbringen?!" Gegen Ende des Satzes war ein immer lauter werdendes Aufschreien zu vernehmen. Ein wenig verschreckt halte ich das Handy wieder etwas weiter weg von mir.
"Das finde ich super! Leigh, Lysander, Castiel, Alexy, Armin, Iris und ich feiern gemeinsam, bei Leigh und Lysander. Ein gemütlicher Abend unter Freunden. Kurz vor Mitternacht wollen wir dann in die Stadtmitte und uns dort das Feuerwerk anschauen!"
Ich staune nicht schlecht, während ich ihr zuhöre. Das ist eine Vielzahl an Leuten. Zumindest mehr, als ich eigentlich mit gerechnet habe. Begeistert sage ich zu: "Hört sich gut an! Ich bin dabei."
"Perfekt, perfekt, perfekt! Ich freue mich!"
"Ich höre es", lache ich.
"Kennst du den Weg zu Leighs und Lysanders Wohnung?"
"Ähm ... Nein."
"Egal, kein Problem! Ich kümmere mich darum, dass dich jemand auf dem Weg dorthin, von Zuhause, abholt. Sei einfach gegen 19 Uhr fertig!"
"Alles klar."
Mit Vorfreude auf Morgen lege ich auf. Daraufhin leuchtet mein Display, mit einer neuen Nachricht von Nathaniel, auf.
Nathaniel 💘: Immer so vergesslich ... ❤️
Warum kann er nicht einfach mit dabei sein ...
Ich verziehe meine Lippen zu einer nachdenklichen Schnute, wobei es irrelevant ist, wie sehr ich mir darüber den Kopf zerbreche, denn es wird sich nichts ändern. Ich seufze.
Am letzten, späten Nachmittag des Jahres helfe ich meiner Mutter, indem ich eine Ananas in kleine Stücke schneide, die später in ihrer Bowle landen werden. Ich bin bereit, um abgeholt zu werden. Mehr Mühe, als sonst, habe ich mir bei meinem Aussehen nicht gemacht.
Ich hoffe dass ich meiner Begleitung nicht allzu große Umstände bereite, indem sie mich von Zuhause abfängt. Ich würde mich schlecht fühlen, wenn man, nur für mich, einen Umweg macht.
Das Vibrieren meines Handys, welches ich zuvor in die rechte, hintere Hosentasche gesteckt habe, lässt mich meine Arbeit sowie meine Gedanken für einen Augenblick unterbrechen. Schnell wische ich meine Hände, mit einem der vor mir liegenden Küchentücher, ab und ziehe das kleine Gerät hervor. Aus dem Augenwinkel erkenne ich wie meine Mutter mich dabei beobachtet. Ich muss ein klein wenig lächeln, als ich das Display betrachte und letztlich den eingehenden Anruf entgegennehme.
"Hey", begrüße ich Nathaniel fröhlich.
Ich habe nicht mit einem Anruf gerechnet, höchstens einer Nachricht.
"Hallo! Störe ich dich gerade bei irgendwas?"
Als würde meine Mutter das Gespräch mithören, sehe ich, bevor ich ihm eine Antwort gebe, zu ihr rüber. Sie lächelt mir breit zu, wendet sich dann wieder ihrer Schnibbeleien zu.
"Nein."
"Gut", seufzt er erleichtert. "Ich wollte noch ein letztes Mal, für dieses Jahr, deine Stimme hören."
Ich kichere: "Das ist wirklich aufmerksam von dir!"
In Wirklichkeit finde ich es total süß aber ich weiß, dass es ihm nicht sonderlich gefallen würde, wenn ich ihn als 'süß' bezeichne.
"Es ist ein Jammer, dass ich nicht mit dir mitkommen kann."
"Du triffst es auf den Punkt ..."
Stattdessen muss er mit seiner Familie zu der Silvesterparty der Firma, in der sein Vater arbeitet. Sie soll in einer großen, glamourösen Festhalle stattfinden und dementsprechend vermutlich ganz schön einschläfernd werden.
"Wann musst du denn los?"
Ahnungslos schaue ich auf die Küchenuhr. Dadurch fällt mir auf, dass ich eigentlich seit drei Minuten unterwegs sein sollte.
"Lisa?"
"Ja", lache ich verlegen, "ich habe gerade festgestellt, dass meine Abholung zu spät ist."
"Oh. Wer ist denn der Übeltäter?"
"Wenn ich das wüsste ... Rosa hat das einfach frei nach Schnauze entschieden."
"Frei nach Schnauze?", lacht er in sich hinein. "Lustige Wortwahl!"
Ich will ihm gerade sagen, dass er sich nicht über mich lustig machen soll, da weist meine Mutter mich, mithilfe ihres rechten Zeigefingers, auf eines der Küchenfenster hin. Meine Augen erspähen nur noch eine vorbeistreifende Silhouette. Hastig bewege ich mich in Richtung Flur, wo meine Jacke und Tasche hängen, und beginne, unfreiwillig, mich von Nathaniel zu verabschieden: "Sieht so aus, als würde jeden Moment meine Abholung an der Tür klingeln."
"Was ein Zufall!"
Ich klemme mein Handy zwischen meine rechte Schulter und das dort dementsprechend liegende Ohr, damit ich zumindest schon einmal mit meinen Unterarmen in die Jacke schlüpfen kann. Das Rascheln geht an meinem Gesprächspartner nicht vorbei.
"Dann heißt es jetzt wohl: Bis nächstes Jahr!"
Ich muss sofort losprusten, bei dieser Verabschiedung. Ich hätte nicht gedacht, dass er diesen Witz bringt.
"Wir schreiben?", frage ich, noch immer leicht lachend.
"Natürlich. Pass auf dich auf!"
"Mache ich, keine Sorge. Du aber auch auf dich!"
"Es wird wohl schon niemand Champagner über mich verschütten", witzelt er erneut.
"Mensch, Nath, das wa-"
Der Ton der Türklingel durchschallt den Flur und die Nebenräume. In Windeseile nehme ich mein Handy wieder in die rechte Hand und halte die Linke nach der Türklinke aus.
"Ich muss dann jetzt auflegen", murmle ich.
Ich will gar nicht.
"Ich weiß. Schreib mir, wenn du angekommen bist, ja?"
"Mache ich! Bis dann", spreche ich meine letzten Worte aus und beende somit unser Telefonat. Ich öffne die Tür und die vorhin noch vorbeistreifende Silhouette stellt sich als den rothaarigen Castiel heraus, der mich ein wenig anlächelt, als er mein Gesicht erblickt. Ich lächle zurück, ehe ich ein paar Schritte zurücksetze und nach meiner Tasche greife.
"Können wir gehen?", fragt er ungeduldig.
Wow, nicht mal ein 'Hallo, Lisa' oder 'Wie geht es dir heute, Lisa?' oder 'Tut mir leid für die Verspätung, Lisa'. Nein. Castiel will einfach nur gehen.
Ich lasse mir von meiner Verwunderung darüber nichts anmerken, indem ich als Antwort bloß nicke und noch schnell zu meiner Mutter rufe, dass ich nun weg bin. Castiel hat sich schon wieder aus unserem Vorgarten verdrückt und befindet sich auf dem Bürgersteig, als ich die Haustür, hinter mir, schließe. Ich gehe auf ihn zu, er die ersten Schritte als Wegweiser.
"Ganz schön klein, dein Haus."
"Entschuldige?", lache ich leicht aber nicht, weil ich die Bemerkung lustig finde, sondern viel mehr eigenartig. Zumal er in einer Wohnung lebt und ihm mein Zuhause dann eigentlich groß vorkommen sollte.
"Es ist klein. Wie du."
"Wie soll ich das auffassen?"
"Als Kompliment? Schließlich habe ich nicht gesagt, dass es hässlich ist."
Auch wieder wahr.
"Okay ..."
"Es ist ganz putzig. Besser?"
Ich kichere. "Du möchtest es mir also recht machen?"
"Wenn es sein muss."
"Es muss nicht sein und das weißt du auch."
Er dreht sich mit seinem Gesicht weg, während ich grinse. Es ist zu komisch, wenn ich in irgendeiner Art und Weise seine Handlungen enttarne. Nämlich dass er nicht alles tut, nur weil er Profit daraus schlägt. Er hat einen weichen Kern, das weiß ich.
"Wenn du den ganzen Abend so nervst, bringe ich dich auf der Stelle wieder nachhause!", murrt er rum.
"Aber du würdest mich nachhause bringen! Nicht mich alleine gehen lassen!"
Der Rotschopf sieht das Ganze weniger amüsant, als ich. Neckend klopfe ich ihm auf die Schulter, wobei mir ein leises Gelächter entflieht. Schließlich kann ich ein kleines Zucken seiner Mundwinkel entdecken, was mir bestätigt, dass er meinem Humor doch nicht so streng entgegen sieht.
Nach einigen Minuten des Schweigens sowie Weitergehens steckt er die Hände in seine Jackentaschen. Selbst um diese Jahreszeit habe ich ihn nur zwei- oder dreimal ohne Lederjacke gesehen. Es muss wohl mehr passieren, als einstellige Minusgrade, bis er diese abnimmt. Er atmet tief ein und aus, was man schon als Seufzen interpretieren kann. Ich erkundige mich: "Was macht dir das Leben schwer?"
"Du."
Meine Augen weiten sich für einen kurzen Moment, bis er dann schelmisch grinst.
Er scherzt mal wieder. Witzbold.
"Ha ha."
Er tätschelt mir den Kopf. "Ich habe echt nichts dagegen, dass du auch heute mit dabei bist."
"Sag doch einfach dass du dich darüber freust?", lache ich leicht.
"Damit du dich besonders fühlst?" Er grinst wieder.
"Nein, weil ich Ehrlichkeit mag!"
"Nur deswegen?"
"Was heißt hier nur?" Ich schüttle mit dem Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich diese Herabsetzung nicht nachvollziehen kann. "Ehrlichkeit gehört zu den wichtigsten Eigenschaften eines Menschen, wenn du mich fragst."
"Was können Andere dafür, wenn du einfach nur naiv bist?"
"Ich bin nicht naiv ..."
"Achja?"
Ich sehe ihn an, ziehe dabei meine Augenbrauen hoch. "Ja?"
"Dass ich nicht lache!" Er lacht nicht. "Du dachtest doch bestimmt auch, dass du den Trottel eines Tages heiratest!"
Ich hätte mir denken müssen, dass er als nächstes auf Nathaniel anspielen wird ...
Der Trottel ist wieder mein Freund.
Wie gerne würde ich ihm jetzt diesen Satz an den Kopf knallen.
"Das ist nicht wahr", verteidige ich mich, weil es stimmt.
"Oder zumindest länger mit ihm zusammen bleibst als die paar Monate, die eigentlich gar nicht zählen."
"Natürlich zählen sie!!!"
Ich spreche diese Worte mit so viel Elan und Überzeugung aus, dass Castiels Gesichtsausdruck ein wenig Schrecken ziert. Dieser verschwindet aber genauso schnell wieder, wie er gekommen ist.
Wann immer es um Nathaniel geht, liegt bei Castiel und mir ein Streit in der Luft, dem ich, so gut es geht, aus dem Weg gehen will. Gerade wieder.
"Also", beginne ich das Thema zu wechseln, "wie weit ist es noch bis zu Lysander?"
"Er und Leigh teilen sich eine Wohnung. Das wusstest du, oder?"
"Ja, das ist mir nicht neu. Wie lautet nun die Antwort auf meine Frage?"
"Fünf Minuten. Ungefähr."
"Okay."
Ich stelle mich auf ein erneutes Schweigen ein, doch dann platzt Castiel die Frage raus, mit der ich nun gar nicht gerechnet habe: "Liebst du Nathaniel noch?"
Ich versteinere förmlich. Nach Hilfe suchend sehe ich abwechselnd in alle möglichen Richtungen, die nicht Castiels Gesicht beinhalten. Damit schinde ich allerdings nur einen Bruchteil von Sekunden. Ich spüre seinen musternden Blick auf mir, der mich unbehaglich fühlen lässt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass mir bereits der Schweiß von der Stirn tropft.
Ich könnte lügen und antworten: 'Nein, über den bin ich längst hinweg', oder aber auch ehrlich sein und sagen: 'Ja, ich liebe ihn'. So viel zu 'Ehrlichkeit gehört zu den wichtigsten Eigenschaften eines Menschen'. Toll, Lisa. Ganz toll!
"Keine Antwort ist auch eine Antwort."
Castiels schnippische Worte stören meinen inneren Konflikt. Automatisch beginnen meine Hände sich hektisch hin und her zu bewegen.
"O-Oh nein, i-ich wollte dir eine Antwort geben!"
"Aber?"
Gott, warum musste ausgerechnet Castiel mich abholen kommen?!
Ich kann mir nur schwer einen heftigen Seufzer verkneifen.
"N-Nein."
"Was 'nein'?"
"Eben nein!"
"Du liebst ihn nicht mehr?"
VERDAMMT! Was mache ich hier?!
"I-Ich ... Ich ..."
"Was denn jetzt?!"
"Nein!!!"
Jetzt gibt es kein zurück mehr ...
"Okay, okay. Das klang schon überzeugend."
Ein unsicheres Lachen entwischt meiner Kehle.
Klasse.
Jetzt habe ich gelogen.
Scheiße!
Ich streife mir mit der rechten Hand durch meine Haare und lasse einige Strähnen mein Gesicht verdecken.
Vielleicht würde Nathaniel diese Lüge aber auch befürworten ... Wobei ich auch ruhig zu meinen Gefühlen hätte stehen können, ohne zu offenbaren, dass er wieder mein Freund ist ... Oh man ...
"Da vorne ist es", weist mich Castiel hin und richtet seinen Zeigefinger auf ein Gebäude aus, das so aussieht, als wäre es gerade erst neu angestrichen worden. Die cremefarbene Aussenfassade strahlt mir entgegen, trotz der Dunkelheit, die schon längst eingesetzt hat. Einige Pflanzen zieren mehrere Balkone und trotz dass es unter die Hochhäuser der Stadt fallen würde, ist es nicht sonderlich hoch. Vier Etagen lassen sich erkennen. Castiel öffnet die Tür, als wir ankommen, und hält sie mir noch leicht offen, während er bereits durchgeht. Anschließend dreht er sich halb zu mir um und fragt: "Aufzug oder Treppe?"
"In welche Etage müssen wir überhaupt?"
"Vierte."
"Aufzug."
Faul, wie ich bin, habe ich keinerlei Motivation für die Treppe übrig. Lysanders und Leighs Wohnung hätte schon noch in der ersten Etage liegen müssen, damit ich die Stufen wähle. Zu unserem Glück ist der Aufzug bereits unten und wir können direkt eintreten. Castiel und ich wollen gleichzeitig auf den entsprechenden Knopf drücken, der uns nach oben befördert, doch ich merke es noch rechtzeitig und ziehe meinen Finger wieder zurück. Nachdem der Knopf aufleuchtet schließen sich die Metalltüren vor uns. Ich lehne mich an die gegenüberliegende Wand und schließe für einen kurzen Moment die Augen.
Ich sehe meine Lüge, von vorhin, jetzt einfach als Notlüge. Das kann ich mit meinem Gewissen vereinbaren.
Der Aufzug setzt sich in Gang. Als ich die Augen wieder öffne, erschrecke ich mich, da ich schnurstracks in Castiels graue Augen sehe. Er hat sich vor mich gestellt und zu mir runtergebeugt, ohne dass ich etwas davon gemerkt habe.
"Weißt du, Lisa ... Ohne den Spinner bist du sowieso besser dran."
"Wenn du das sagst ..." Mehr kann und will ich darauf nicht antworten.
"Was hältst du eigentlich von mir?"
"Ähm ... Du bist ein guter Freund, der sich harscher gibt, als er in Wirklichkeit ist?"
Er lacht in sich hinein. "Das denkst du nicht wirklich, oder?"
"Doch! Tu nicht so, als würde ich mir das einbilden."
"Mehr oder weniger."
Der Aufzug hält an und die Türen beginnen sich zu öffnen, doch Castiel macht einen so geschickten Fußtritt nach hinten, dass er den Knopf trifft, der die Türen wieder schließen lässt.
"Was machst du?!"
"Ich bin noch nicht fertig!"
Seine Mimik ist wieder ernst. Wo zunächst nur eine Hand, neben meinem Gesicht, platziert war, kommt nun auch seine zweite dazu. Bei dem unsanft klingenden Aufprall schlucke ich einmal, um nicht völlig aus der Fassung zu geraten. Er spricht weiter: "Mag sein, ich mein Verhalten bei manchen Menschen nicht so ernst meine, wie bei Anderen. Aber wirklich ... viel netter bin ich nur zu dir."
Wenn ich mich nicht täusche, beginnen seine Wangen ein rötliches Glühen anzunehmen. Da das so selten passiert, fasziniert es mich und ich sehe ihn an, ohne etwas zu sagen.
"Ein guter Freund", wiederholt er meine Worte, von eben. "Dann musst du mich mal von einer anderen Seite kennenlernen."
Ein verschwörerisches Grinsen bildet sich auf seinen Lippen. Er stellt sich wieder aufrecht hin und drückt einen Knopf, sodass sich die Aufzugtüren wieder öffnen. Ich sehe ihm nach, wie er vorgeht.
Seine andere Seite ... Ich war davon ausgegangen, dass ich sie bereits kenne. Die Seite, die mir sagt, dass ich nicht Nathaniel sondern ihn brauche. Die Seite, die mich anbrüllt, dass er mich als sein Eigentum besitzen will. Die Seite, die mir eher vorwurfsvoll gesteht, dass er mich liebt.
"Kommst du jetzt?!"
Ich folge ihm.
Ich hätte ihm doch sagen sollen, dass ich Nathaniel noch immer liebe ...
Als wir Lysanders und Leighs Wohnung betreten sind bereits alle da, außer Iris. Sie ist kurzfristig mit ihrer Familie verreist. Ich werde herzlich begrüßt von den Gastgebern und auch dem Rest, danach mache ich es mir zwischen Alexy und Rosalia auf dem Sofa gemütlich. Die Wohnung ist ziemlich modern eingerichtet, weist aber auch einzelne Stücke auf, die vom Design her, dem viktorianischen Zeitalter und somit Lysanders Stil entsprechen. Darunter mehrere Bilderrahmen und eine große Standuhr. Es ist mittlerweile zehn vor Acht. Nur noch wenige Stunden bis zum neuen Jahr. Mehrere Gespräche beginnen, die verschiedene Themen beinhalten. Ich lasse mich noch einen Augenblick außen vor, um Nathaniel eine Nachricht zu schreiben.
Ich: Ich bin jetzt da. Bist du auch schon auf der Firmenfeier? :)
Schnell packe ich mein Handy wieder weg, um nicht passiv auf die Anderen zu wirken.
"Achja, jetzt fällt mir wieder ein, was ich dir letztens erzählen wollte", wendet sich Armin seinem Zwilling zu. Ich wende meinen Kopf in ihre Richtung, um mich dem Gespräch anzuschließen.
"Was?", hakt Alexy nach.
"Als wir in der Stadt waren, hab ich Lisa und Nathaniel getroffen."
Alexy sagt nichts, dreht sich nur zu mir um und sieht mich mit einem Blick an, der aussagt: Was verschweigst du mir?
"Ja, das war lustig", lache ich verlegen.
"Ihr wart so komisch drauf!"
"Muss komisch sein diesen Posten abzugeben, was?"
Der schwarzhaarige lacht darüber und dreht sich dann wieder zu Lysander und Castiel um, mit denen er zuvor gesprochen hatte. Alexy hat seine Augen nicht eine Sekunde von mir abgewendet. Er räuspert sich. "Willst du mir vielleicht was erzählen?", flüstert er, beinahe drohend. Ich grinse ihn schief an und komme mir dabei vor wie ein Welpe, der versehentlich eine der teuersten Vasen im Hause kaputt gemacht hat und inständig hofft, dass sein Herrchen ihm vergibt, weil ich, der Welpe, doch so süß bin. Ich stehe auf und mache eine Kopfbewegung in Richtung Balkon. Als würde Rosalia riechen, dass ich Neuigkeiten zu verkünden habe, steht sie mit auf und geht Alexy und mir nach.
Nachdem Rosalia die Balkontür verschlossen hat, stellt sie fest: "Kriesengespräch!"
"Sehe ich auch so", stimmt Alexy zu.
Ich lache wieder, was ganz schön bescheuert aussehen muss, da es nicht echt ist.
"Raus mit der Sprache, du Geheimnisträgerin", grinst mein bester Freund. "Was hast du mit Nathaniel in der Stadt zu suchen gehabt?"
"WAS?!" Rosalia scheint aus allen Wolken zu fallen. "Okay, Lisa. Erzähl! Alles!"
Und ich gehorche. Ich erzähle ihnen alles, was zwischen der blauen Blume und meinem letzten Telefonat mit Nathaniel, von vor ein paar Stunden, lag. Dabei schiebe ich den rechten Ärmel meines Pullovers etwas weiter hoch, um ihnen zu zeigen, wie schön der Anhänger an meinem Armband in Wirklichkeit aussieht.
"AHHH", schreit Rosalia auf und fällt mir um den Hals. Ich danke der Balkongrenze, dass sie mich davor bewahrt in den Tod zu stürzen.
"Das ist so cool, Lisalein!"
"Ich WUSSTE dass er es bereuen wird und ihr wieder zusammenkommt!"
"Ich ... krieg ... kei-", krächze ich.
Rosalia gibt mich daraufhin wieder frei und ich atme tief ein und aus. Es ist schön zu sehen, wie sehr meine beiden besten Freunde sich für mich freuen. Mich aber deswegen umbringen müssen sie trotzdem nicht.
"Aber dass ihr es geheim halten müsst ist blöd", spricht Alexy mir aus dem Herzen.
"Trotzdem kann man glücklich sein damit und wenn ihr sowieso nur warten müsst, bis Nathaniel Geburtstag hat, ist das mehr als machbar!"
"Das sagst du so leicht, Rosa." Alexy sieht mich bemitleidend an.
Er hat nicht ganz Unrecht aber sie genauso.
"Ich habe aber eben etwas ganz schön dummes getan", gebe ich zu.
Beide schauen mich nun fragend an.
"Castiel hat mich auf dem Hinweg hierher gefragt, ob ich Nathaniel noch liebe ... und ..."
"Und?", fragen beide im Chor.
"Ich habe nein gesagt ..."
Rosalia lächelt mich an. "Das ist doch nicht schlimm, Süße!"
"Naja, irgendwie schon, weil Castiel mich danach gefragt hat, was ich von ihm halte und dann angekündigt hat, dass ich ihn von seiner anderen Seite kennenlernen muss."
"Okay, okay, ich weiß wo der Schuh drückt!" Alexy kommt auf mich zu und legt mir verständnisvoll eine Hand auf die linke Schulter. Erst lacht er: "Es muss hart sein, du zu sein. Diese ständigen Verehrer! Vielleicht solltest du mal wachsen, damit die Jungs dich nicht auf Anhieb schon süß finden und dich beschützen wollen."
Ich muss darüber kichern, obwohl ich das gar nicht will. Es ist nicht so, dass es mir gefällt. Ich finde nur Gefallen daran, dass ich womöglich diesen Effekt auf Nathaniel ausübe.
"Nein, zurück zum Ernst des Lebens", hört Alexy auf zu witzeln. "Sehr unpassend, dass dir das vor der Skifahrt passiert ist. Du kannst aber jetzt auch nicht zu Castiel gehen und sagen 'ich hab vorhin nur Spaß gemacht', oder sowas in der Richtung."
"Ich weiß."
"Du kannst nur hoffen, dass er dich in Arlberg nicht davon überzeugen will, dass er auch mehr für dich als nur ein Freund sein kann."
"Kann er doch gar nicht?!"
"Das weiß er aber nicht! Erst recht nicht nachdem du gesagt hast, dass du deinen Exfreund, der insgeheim wieder dein Freund ist, nicht mehr liebst."
Ich seufze gequält auf. "Wieso denke ich manchmal nicht genug nach?!"
"Das ist menschlich", kichert Rosalia.
"Genau", sagt Alexy und lächelt mich beruhigend an.
"Wir warten erstmal ab", schlägt Rosalia vor, "und du weißt ja auch was zutun ist, wenn er versucht dich zu küssen."
Darüber will ich gar nicht nachdenken. Als Kentin das zuletzt versucht hat, fand ich schon schlimm genug.
"Alexy", will ich das Thema wechseln. "Gibt es was neues zwischen dir und Kentin?"
"Nein. Mr. Zu-cool-für-mich ignoriert alle meine Nachrichten, seit kurz vor den Ferien."
Ich verdrehe die Augen. "Darf ich demnächst nochmal das Gespräch mit ihm aufsuchen?"
"Damit er dir wieder sagt, dass er nicht reden will?"
"Pech. Diesmal werde ich hartnäckiger sein."
Alexy zuckt mit den Schultern. "Von mir aus, mach das. Ich wünsche dir jetzt schonmal viel Glück."
Das kann ich auch brauchen.
Plötzlich vibriert es in meiner Hosentasche. Ich ziehe mein Handy raus und schaue auf den Display.
Nathaniel 💘: Gut! Ja, leider. Allerdings ist die Location nicht schlecht und das Buffet sagt mir zu. Es gibt so viele verschiedene Salatsorten! :)
Ich kann nicht anders, als zu lächeln.
Schon süß, wie er positiv denkt.
Ich: Welche Location denn? Freut mich für dich! :)
Folglich blicke ich auf die Uhrzeit, in der ich meine Nachricht abgeschickt habe.
Schon kurz nach halb Neun. So lange sind wir bereits hier draußen?!
Rosalia scheint meinen Gesichtsausdruck deuten zu können: "Wollen wir wieder rein?"
"Ja, gute Idee", sage ich zu.
Alexy nickt und geht uns hinterher.
Zurück im Wohnzimmer lasse ich mich neben Lysander, auf dem Sofa, nieder. Er macht sich gerade an ein paar Salzstangen zu schaffen. Ich will ein Gespräch mit ihm anfangen, doch gleichzeitig erhalte ich eine neue Nachricht, auf meinem Handy. Bevor ich rede, lese ich diese erstmal.
Nathaniel 💘: Ich bin in diesem alt-französischen fünf Sterne Hotel, das in der Nähe des großen, alten Baumes der Stadtmitte ist. Weißt du, wovon ich spreche?
Moment ... Stadtmitte?
Ich: Ja, weiß ich! Dann sind wir um Mitternacht ganz nahe beieinander, weil wir auch in die Stadtmitte gehen! Auf den großen Platz.
Nathaniel 💘: Was, echt?
Nathaniel 💘: Ich muss dich sehen ... Vielleicht gehen wir ja auch auf den Platz, um das Feuerwerk zu sehen!
Ich: Das wäre perfekt!!! :)
Vorfreude steigt in mir auf. Ich versuche sie ein wenig zu bremsen, da das bloßes Wunschdenken von uns ist. Dennoch ist die Vorstellung, dass es klappen könnte, mehr als schön.
Um halb Zwölf machen wir uns fertig, um raus zu gehen und den Weg zur Stadtmitte anzutreten. Glücklicherweise ist Lysanders und Leighs Wohnung nicht weit davon entfernt. Ungefähr fünf bis zehn Minuten Fußweg, meinte Leigh.
"Gar keinen Bock jetzt auf die Menschenmenge dort", mault Armin rum.
Castiel sieht das nicht anders: "Es ist doch nur eine bescheuerte Uhrzeit, man."
"Haltet die Klappe!" Rosalia lässt sich ihre gute Laune durch die Miesepeter nicht verderben.
"Das wird spitze! Ich bin gespannt, wie groß das Feuerwerk dieses Jahr ausfällt!", grinst Alexy breit, während er seine Jacke zuknöpft.
"Seid ihr alle so weit?", fragt Lysander.
Mehrere Antworten mit "Ja", andere nicken nur.
Auf dem Weg dorthin bekommt man bereits die Masse an Menschen zu spüren. Ich zücke mein Handy wieder hervor, um Nathaniel zu schreiben.
Ich: Weißt du schon, ob ihr auch auf den Platz geht?
Ich stecke es wieder weg und auf einmal läuft Castiel neben mir her. Er sieht grinsend auf mich herab.
"Hab ich was auf dem Kopf oder im Gesicht?", frage ich schief lächelnd.
"Nein. Aber pass auf, dass du hier nicht verloren gehst oder umgerannt wirst."
"Piesacke mich ruhig weiter, wegen meiner Größe!"
"Mache ich auch", lacht er. "Hey, Zwerg?"
Genervt, aufgrund der Bezeichnung, seufze ich zurück: "Was?"
Er öffnet den Spalt zwischen seinen Lippen, schließt ihn aber dann schnell wieder. "Nichts, vergiss es", antwortet er und wuschelt mir durch mein Haar.
Hätte ich mal besser meine Mütze angezogen, dann könnte er das nicht machen.
Er geht zurück, zu Lysander. Ich schaue wieder auf mein Handy.
Nathaniel 💘: Nein aber ich gehe davon aus, dass dem so ist. :)
Das soll schon was heißen. Wenn sie nicht auf den Platz gehen würden, wüsste er da sicher bereits von.
"Gefällt dir der Abend?", spricht mich eine ruhige Stimme an. Sie gehört Lysander.
"W-Wie", stammle ich und sehe mich nach Castiel um. "Ist Castiel nicht vor ein paar Minuten noch zu dir gegangen?"
Verwirrt verstaue ich mein Handy wieder in meiner Jackentasche. Lysander sieht zu Castiel und ich folge seinem Blick. Er ist mittlerweile bei Leigh.
"Komisch ...", spreche ich glatt mit mir selbst.
"Du findest den Abend komisch?"
"Was? NEIN!"
Ups. Ich wollte nicht schreien.
"Nein", antworte ich nun ruhiger. "Ich finde ihn gut! Ich habe bereits viel Spaß gehabt."
"Das freut mich!"
Er lächelt mich zaghaft an und ich ebenso zurück. Nebeneinander gehen wir weiter und beginnen rückblickend über dieses Jahr zu sprechen.
"Diesen Sommer war wirklich heißes Wetter auf dem Land. Schon fast zu heiß!"
"Du besuchst deine Eltern jede Ferien, oder?"
"Ja", gibt er lächelnd zurück. "Wie du weißt, sind sie nicht mehr die Jüngsten. Jeder Aufenthalt bei ihnen könnte der Letzte sein, um es dir klar und deutlich näher zu bringen, warum mein Bruder und ich das machen."
Nickend antworte ich: "Das kann ich gut verstehen. Ich würde das Selbe tun, an eurer Stelle."
"Danke." Er legt mir kurz seine linke Hand auf meine rechte Schulter.
Auf einmal läuft Rosalia los und ich sehe ihr nach. Dabei entdecke ich den Platz und den großen, alten Baum, der seitlich platziert ist. Weiter hinten lässt sich ein großes Gebäude wahrnehmen, mit vielen Fenstern, durch die das brennende Licht in den Zimmern scheint. Das muss das Hotel sein, in dem sich Nathaniel, mit seiner Familie, befindet!
Aufgeregt schreibe ich Nathaniel:
Ich: Ich bin jetzt auf dem Platz und sehe das Hotel, in dem du bist! :)
Mit Lysander, der, der Neugier verabscheut, neben mir, kann ich seelenruhig Nathaniel schreiben. Ich könnte unseren Chat die ganze Zeit offen lassen und Lysander würde sich nicht die Bohne dafür interessieren, was und mit wem ich an meinem Handy schreibe. Dafür danke ich ihm gerade. Wenn auch nur still, in Gedanken.
Nathaniel 💘: Ich habe gerade erfahren, dass wir das Feuerwerk von der Dachterrasse des Hotels aus ansehen ...
Nein ...
Voll gepackt mit Enttäuschung blicke ich auf die Uhr. Viertel vor Zwölf.
Jetzt bin ich Nathaniel so nahe und doch so fern.
Ich: Okay, schade ... Es hätte so perfekt sein können ...
Nathaniel 💘: Ich weiß, tut mir leid ...
Ich muss mich bemühen nicht anzufangen zu weinen. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Völlig aus dem Nichts unter all den Menschen hier zu heulen.
"Stimmt etwas nicht?", fragt Lysander mit besorgtem Unterton.
Ich sehe ihn an und bin froh, dass es bereits so dunkel ist, dass er meine schon glasigen Augen nicht erkennen kann.
"Nein, es ist alles in Ordnung."
Heute habe ich es nicht so mit der Wahrheit.
"Okay."
Wir gehen weiter und stoßen wieder auf Rosalia, die sich einen Standort, um das Feuerwerk zu betrachten, ausgesucht hat.
"Ich hoffe die gehen alle wieder, sobald Mitternacht vorbei ist", verachtet Armin die Völle des Platzes.
"Das bezweifle ich, Bruderherz. Da fängt die Party doch gerade erst an!"
"Wir haben nur noch zehn Minuten von diesem Jahr", merkt Leigh an und legt währenddessen einen Arm um seine Rosalia.
Wenn ich mir das ansehe, werde ich schon neidisch.
Sehnsüchtig schaue ich rüber, zu dem Hotel. Ich kann dem Anblick allerdings nicht lange Stand halten. Zu deprimierend finde ich es, dass Nathaniel und ich uns dieses Jahr doch nicht mehr sehen können.
Es ist nicht so, dass ich keinen Neujahrskuss dabei im Kopf hatte. Den hatte ich! Dennoch war es mir viel wichtiger ihn überhaupt sehen zu können. Seien auch soundso viele Meter zwischen uns. Jetzt kriege ich aber weder den Kuss, noch sein liebliches Gesicht zu sehen.
Ich stecke die Hände in meine Jackentaschen. Vielleicht hätte ich doch besser Handschuhe einpacken sollen. Meine Jacke hält mich zwar warm aber ich habe die Temperaturen von heute, für den Rest meiner nun freien Körperstellen, unterschätzt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Castiel sich wieder zu mir gesellt. Ich wende meinen Blick zu ihm. Er sieht in den Himmel.
"Bist du zufrieden mit diesem Jahr?", fragt er leiser, als er sonst spricht.
"Ja. Es war sehr schön."
"Freut mich."
"Und du?"
"Geht", antwortet er Schultern zuckend.
"Was würdest du im Nachhinein ändern, wenn du könntest?" Ich richte meine Augen nun auch auf die Sterne aus. Diese sternenklare Nacht ist wunderschön.
"Viel zu viel", lacht er leicht. "Du?"
"Mir fällt gerade nichts ein, wenn ich ehrlich bin."
"Nicht schlecht, wie du alles verherrlichst."
"Ich würde es nicht verherrlichen nennen."
"In Ordnung, Kleine."
Ich spüre seinen Blick auf mir und komme dem entgegen. Er lächelt mich freundlich an.
Er sollte öfter so lächeln!
"Nur noch vier Minuten, Leute!", erinnert uns Rosalia.
Ich sehe wieder in den Himmel. "In etwas mehr als einer Woche geht es schon auf Skifahrt!"
"Ich weiß. Ganz cool eigentlich. Wobei alles cooler ist als Schule."
"Dass du sagst wundert mich nicht."
"Kann halt nicht jeder so ein Streber sein, wie du."
"Das nennt man Ehrgeiz", berichtige ich ihn kichernd. Statt sich weiter über mich lustig zu machen, grinst er mich nur an, was ich im Augenwinkel erkennen kann. Unerwartet fängt mein Handy wieder an zu vibrieren. Diesmal aber länger und in regelmäßigen Abständen. Ich werde angerufen.
Hoffentlich sind es nicht meine Eltern, die noch kurz checken wollen, ob ich noch lebe ...
Nein.
Es ist mein Freund!
"Hallo?", gehe ich ran.
"Es sind nur noch drei Minuten bis Mitternacht!"
"Ich weiß aber ich dachte du wolltest erst danach anru-"
"Hör zu", unterbricht er mich. Seine Stimme klingt gehetzt. "Komm innerhalb dieser nächsten drei Minuten in die Nähe des Baumes, okay? Am besten bist du in zweieinhalb Minuten da! Hast du mich verstanden? Beim Baum, in zweieinhalb Minuten!"
Er hat wieder aufgelegt. Völlig vor den Kopf gestoßen schaue ich auf mein Handy, dann zu Castiel.
"Wer war das?", fragt er neugierig.
"Egal", winke ich nur ab und laufe zu Rosalia. Diese empfängt mich mit einem Lächeln. Ich beuge mich zu ihr rauf, um ihr ins Ohr zu flüstern: "Nathaniel will mich sehen. Ich komme danach wieder hierher, keine Sorge! Ich habe mein Handy bei mir, falls was ist!"
Ich lasse sie gar nicht erst zu einer Antwort kommen, denn ich muss sofort los. Wenn ich durch die ganzen Leute kommen will, ohne jeden zweiten Ellbogen an den Kopf zu bekommen oder sonst irgendwie umgenietet zu werden, muss ich mich beeilen aber auch achtsam sein. Ich darf Nathaniel um Gottes Willen nicht verpassen!
Während ich mich durch die Menge hindurchzwänge lasse ich den Baum nicht aus den Augen. Der ist mein Ziel.
Wie um alles in der Welt will Nathaniel überhaupt dorthin kommen, wenn er die ganze Zeit bei seiner Familie bleiben muss? Naja ... Es ist eigentlich egal wie.
"Entschuldigung", murmle ich immer wieder zu den Leuten, an denen ich etwas harsch vorbeigehen muss.
Plötzlich ist der Baum zum Greifen nahe. Ich sehe auf mein Handy, wobei ich weitergehe. Nur noch eine Minute. Die ersten Menschen fangen an runter zu zählen. Ich stecke das Gerät wieder weg.
Der Countdown läuft.
Beim Baum angekommen ist Nathaniel nirgends aufzufinden. Ich gehe einmal drum herum, um auch wirklich sicher zu gehen, dass er nicht da ist. Er ist nicht da. Ich stelle mich auf Zehenspitzen, um möglichst über einige Köpfe hinweg schauen zu können, doch das bringt mich nicht sonderlich weiter. Viel größer werde ich dadurch nicht. Verloren blicke ich in die Richtung des Hotels. Von dort aus müsste er eigentlich kommen. Doch er kommt nicht. Meine Beine beginnen zu zittern.
Ob er es wohl doch nicht geschafft hat, seinen Eltern zu entkommen?
Ich ziehe mein Handy wieder aus der Jackentasche. Keine verpassten Anrufe. Ungeduldig halte ich es, in der Hand, fest. Wenn er anruft will ich sofort dran gehen. Keine Sekunde später. Immer wieder lasse ich meinen Blick umher schweifen. Ich kann nicht mehr auf einer Stelle stehen bleiben und vertrete mir die Beine, indem ich auf und ab gehe.
Ich will nicht umsonst hierher gelaufen sein ...
Nathaniel, wo steckst du?
Die Menschenmenge beginnt von Zwanzig aus weiter runter zu zählen.
"Man", fluche ich leise.
Bitte, lieber Gott, lass mich jetzt nicht im Stich ...
Ich gehe auf den Baum zu und lehne mich, mit dem Rücken, an diesen.
"FÜNFZEHN!"
Am liebsten würde ich mich gerade aus purer Verzweiflung auf den Boden setzen. Es ist unmöglich, dass Nathaniel innerhalb der nächsten dreizehn Sekunden hier auftaucht. Es war alles viel zu schön, um wahr zu sein. Ich hatte mir wirklich gewünscht, ihn noch einmal sehen zu können.
"ZEHN! NEUN! ACHT!"
Ach, haltet doch alle die Klappe ...
"FÜNF!"
"Lisa!!!"
Ich drehe mich zur Seite. Da ist er!
"Nathaniel!" In meinem Gesicht geht die Sonne auf, als ich ihn auf mich zulaufen sehe. Im schwarzen Anzug und mit Fliege, ganz schick.
"ZWEI!"
Bei mir angekommen greift er ohne zu zögern nach meinen Gesicht.
"EINS!"
Er zieht es zu sich.
"NUUULL!!!"
Und gibt mir einen so leidenschaftlichen Kuss, dass ich mich ihm auf der Stelle völlig hingebe.
"FROHES NEUES JAHR!!!"
Die ersten Feuerwerkskörper zerspringen am Horizont.
Kneif mich einer, denn ich glaube ich träume ... Dass er es in den allerletzten Sekunden tatsächlich noch geschafft hat, zu mir zu kommen und mich pünktlich um Null Uhr zu küssen. Pünktlich in den ersten Januar hinein. Sanft führt er seine Zungenspitze zu meiner, um den Kuss zu intensivieren. Ich spüre seinen leicht zitternden Atem auf mir.
Ob ihm kalt ist? Oder er außer Atem ist? Oder einfach nur erleichtert und glücklich? Was auch immer es ist. Ich will nicht einen seiner Atemzüge, auf meiner Haut, mehr missen.
Während das Feuerwerk im Hintergrund vor sich hin knallt und strahlt, lösen wir uns wieder voneinander, um uns in die Augen schauen zu können. Wir lächeln uns bis über beide Ohren an. Vermutlich sehen wir grauenvoll für diejenigen aus, die nicht verliebt sind aber was interessiert mich der Rest der Welt, wenn mein Nathaniel vor mir steht. In Fleisch und Blut. Wie ich es mir gewünscht habe. Ich lege meine rechte Hand an seine linke Wange. Sie ist ganz warm, fast heiß.
"Du bist hier", spreche ich vernehmlich aus.
"Ja. Und du auch."
Es mag von den Lichtern des Feuerwerks kommen, doch sein Gesicht wirkt rötlich gefärbt auf mich. Ich sehe wahrscheinlich nicht anders aus, denn mir ist plötzlich unglaublich heiß um die Augen herum.
"Frohes neues Jahr", wünscht er mir erheitert und wir küssen uns noch einmal.
"Frohes neues Jahr, Nath!"
"Auch wenn wir nicht den ganzen Abend miteinander verbringen konnten und können, bin ich gerade überglücklich."
Ich streichle ihm mit meinem Daumen über die Wange und nicke, ehe ich ihm versichere: "Ich auch, das kannst du mir glauben!"
"Ich liebe dich, Lisa."
"Ich liebe dich auch!"
Er schließt mich komplett in seine Arme und drückt mich an seinen warmen Körper. Sein Anzug muss aus bester Qualität sein, denn so fühlt er sich auf meiner Gesichtshaut an. Ich schließe die Augen, um den Moment bestmöglich zu genießen und aufzusaugen.
Gott muss mich erhört haben! Wenn nicht, dann war wohl das Schicksal auf meiner Seite. Und wenn dem auch nicht der Fall ist, dann hatte ich wohl einfach nur Glück. Ganz viel Glück.
Zu meiner Überraschung lockert Nathaniel seinen Griff wieder auf, doch nicht so, als würde er mit mir sprechen wollen oder irgendwas dergleichen. Viel mehr als hätte er etwas oder jemanden gesehen. Bevor ich mich umdrehe, spüre ich zwei Augen auf uns gerichtet.
Bitte bilde ich mir das nur ein ...
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