15. Glück ist Liebe, auch im Unglück
Müde vegetiere ich beim Frühstück vor mich hin. Aus dem geplanten Treffen mit Nathaniel wurde selbstverständlich nichts mehr. Auf meine Nachrichten, die ich ihm nachdem er weggegangen ist geschrieben habe, hat er auch nicht reagiert. Der Abend konnte nicht beschissener enden. Ich habe Castiel einfach stehen gelassen und bin auch nicht mehr zurück zu den Anderen, auf Armins und Alexys Zimmer, gegangen. Ich habe mich nur noch in mein Bett gelegt und Tränen vergossen. Ich war so wütend aber ich wusste nicht mal genau auf was. Weder auf Nathaniel, noch auf Castiel hatte ich diesen Zorn. Ich sehe von meinem halben Marmeladenbrötchen, das vor mir steht, auf und treffe auf Violas besorgten Blick. "Ist alles in Ordnung, Lisa? Hast du nicht gut geschlafen?"
Ich reibe mir die Augen, damit ich unseren Blickkontakt für einen Moment unterbrechen kann. "Nein, überhaupt nicht gut. Viel zu kurz außerdem", nuschle ich als Antwort zurück.
"Oh je, vielleicht solltest du dann heute besser nicht mit uns Skifahren ..."
"Das ist lieb gemeint von dir", bekenne ich und höre auf mir die Augen zu reiben, "aber doch, ich werde mitmachen. Ich bin schließlich nicht krank, nur müde."
"Das ist genau der richtige Gedanke", lobt mich Kim.
Ich lächle sie dankend dafür an. Plötzlich vibriert mein Handy, das neben meinem Teller auf dem Tisch liegt, und ich hebe es in Windeseile auf, um auf das aufleuchtende Display zu schauen. Natürlich. Es ist keine Nachricht von Nathaniel. Dieses Schweigen macht mich noch ganz kirre und es dauert noch nicht mal 24 Stunden an. Wehmütig öffne ich die Mitteilung.
Alexy: Bist du schon beim Frühstück?
Ich bin früher als sonst hier, da ich ja sowieso nicht schlafen konnte. Normalerweise würde ich erst eine halbe Stunde später hier sitzen.
Ich: Ja und auch sofort fertig.
Ich greife nach meinem Teller mit der freien Hand und in der anderen halte ich weiterhin mein Handy.
"Hast du keinen Hunger mehr?", fragt Kim irritiert.
Ich schüttle mit dem Kopf. "Bis später."
Ich entferne mich von ihnen, werfe mit schlechtem Gewissen die Reste meines Frühstücks weg und mache mich anschließend auf den Weg, zurück auf mein Zimmer. Da schreibt mir Alexy erneut.
Alexy: Was ist mit dir los? Du hast gestern Abend auf keine meiner Nachrichten reagiert!
Ich habe mit ihm das abgezogen, was Nathaniel mit mir gemacht hat. Stolz bin ich darauf nicht aber ich wollte mit keinem Anderen mehr reden, als mit meinem Freund.
Ich: Ich weiß, tut mir leid ...
Alexy: Lass mich raten: Es gab Ärger zwischen Nathaniel und Castiel?
Ich: Du bist gut im raten ... :)
Alexy: Mein Gott, dass ich da gestern nicht schon drauf gekommen bin!
Alexy: Habt ihr zwei Süßen denn wenigstens darüber gesprochen?
Ich: Nein.
Alexy: Na, das erklärt so einiges. Dann los, Lisa, regle das! Auf der Stelle! Ich kann deinen deprimierten Gesichtsausdruck nämlich nicht ertragen, wie du weißt! Er lässt dich grässlich aussehen :P
Ich muss leise schmunzeln. Alexy weiß eben immer die richtigen Worte. Ich blicke auf die Uhrzeit. Viertel vor Neun. Es dauert noch über drei Stunden, bis wir uns alle treffen. Hm. Wie soll ich jetzt nur an Nathaniel rankommen? Er antwortet mir ja sowieso nicht, wenn ich ihm schrei ... Mein Handy vibriert wieder. Was?!
Nathaniel 💘: Lisa. Hast du schon gefrühstückt?
Kein guten Morgen. Bloß mein Name. Naja, wenigstens schreibt er mir endlich. Als wäre mein Flehen erhört worden!
Ich: Ja ... Warum?
Nathaniel 💘: Gut. Komm auf die Dachterrasse, ich warte dort auf dich.
Ich sehe keinen Sinn mehr darin erneut zu antworten, stattdessen laufe ich los, zum Treppenhaus und klappere die Stufen ab. Anfangs sprinte ich noch wie ein Marathonläufer, doch das hört schnell wieder auf. Japsend komme ich oben an, doch bevor ich die Tür, die mich noch von Nathaniel trennt, öffne, stütze ich mich mit den Händen auf meinen Oberschenkeln ab. Wie lange ist es her, dass ich so gerannt bin? Viel zu lange, eindeutig. Ich sollte anfangen joggen zu gehen. Ich richte mich wieder auf, hole tief Luft und nehme eine gerade Haltung ein. Langsam drücke ich gegen die dicke Metalltür, um sie zu öffnen. Folglich bekomme ich es direkt mit Nathaniels Rückenprofil zutun. Mit behutsamen Schritten gehe ich auf ihn zu. Es ist wirklich kalt hier oben, der Wind ist verdammt kühl und außerdem schneit es ein wenig. Als mich nur noch ungefähr drei Schritte von meinem Freund trennen, weiß ich nicht recht, was ich machen soll. Ihn bloß begrüßen? Ihn küssen? Ihm sagen, wie sehr mir das gestrige Ende leid tut? Oder offen gestehen, dass ich eigentlich keine wirkliche Ahnung habe, was ich falsch gemacht habe und ich es nicht länger ertrage, wenn er mich weiterhin in dieser Ungewissheit baumeln lässt? Letzten Endes entscheide ich mich für keine der spontan aufgepoppten Optionen, die mir in Gedanken herumwuseln. Ich lehne mich mi dem Oberkörper an seinen Rücken, lege meine Arme um seine Mitte und drücke ihn feste an mich. Schweigend. Zunächst reagiert er nicht und Zweifel steigen in mir auf, bis ich auf einmal seine warmen Hände auf meinen spüre. Wir verweilen in dieser Position. Ich schließe meine Augen. Es fühlt sich schon gar nicht mehr so kalt hier oben an. Seine Körperwärme dringt langsam zu mir vor und ich bin dankbar dafür. Ich würde gerne das Gespräch mit ihm anfangen, doch ich will nichts überstürzen. Bis dahin genieße ich einfach, dass wir alleine sind. Denn das ist wirklich wertvolle Zeit, auf dieser Skifahrt. "Lisa", spricht er sanft aus.
"Ja. Ich bin hier."
Er lässt die Finger seiner rechten Hand mit denen meiner verschränken. "Zum Glück." Er löst sich aus unserer Umarmung und dreht sich um, um mir ins Gesicht schauen zu können. Meine Hand lässt er dabei jedoch nicht los. Ich erkenne leichte Augenringe und kann nicht anders, als besorgt dreinzusehen. Er lächelt mich aufmunternd an. Gott, sein Lächeln. Manch einer würde meine Reaktion bestimmt übertrieben finden aber ich freue mich, dass er mir wieder dieses Lächeln schenkt. Ich gebe ihm ein sanftes zurück. Zaghaft drückt er meine Hand. "Tut mir leid", kommt es leise aus ihm hervor. "Ich hatte mich gestern nicht mehr unter Kontrolle ..." Sein Adamsapfel macht eine heftige Bewegung, hervorgerufen durch sein ebenso starkes Schlucken.
"Hättest du mir das nicht wenigstens schreiben können?" Ich versuche so wenig vorwurfsvoll wie möglich zu klingen. Es soll schließlich auch nicht als ein Vorwurf gemeint sein. Er sieht betreten zur Seite. "Natürlich, aber ich konnte es irgendwie nicht", gesteht er. Er legt eine kleine Pause ein, ehe er kund gibt: "Ich hatte Angst."
"Aber ... Aber wovor?"
"Dass ich diese unkontrollierten Gefühle an dir rauslasse." Er richtet seinen Blick auf den Boden aus. "Und damit kein Stück besser wäre, als mein Vater."
Meine Augen weiten sich. Ich greife nach seinem Gesicht und lenke es zu mir, damit er mir in die Augen sieht und nicht mehr auf diesen hässlich dunkelgrauem Boden, unter unseren Füßen. Seine sonst so strahlenden honiggelben Augen haben wieder dieses trübe Glitzen. "Nath", fange ich achtsam an, "du bist in keinem Fall wie dein Vater!"
"Selbstverständlich würde ich dir niemals körperlich weh tun, ich hoffe du weißt das auch", beginnt er zu argumentieren, "aber solche Gefühlsausbrüche habe ich eindeutig von ihm geerbt ... Und das will ich nicht gutheißen. Ich kann es auch nicht."
"Hör auf", bitte ich ihn mit schüttelndem Kopf. "Du darfst dich niemals mit ihm vergleichen!"
Erst nach einem weiteren Augenblick des Schweigens nickt er zögernd. Er legt seine Hände an meine Taille, um mich näher an sich ranzuziehen. "Es fällt mir so verdammt schwer nicht offiziell mit dir zusammen sein zu können ...", flüstert er, obwohl niemand in Reichweite ist. Mich überfährt eine leichte Gänsehaut bei seinen Worten.
"Mir doch auch aber wir schaffen das. Wir haben es bis jetzt gut gemeistert", antworte ich lächelnd.
"Ich gebe dir nicht ganz Unrecht aber ... Weißt du ..." Er sieht zum Himmel, als würde er dort nach weiteren Worten suchen. Ich folge seinem Blick. Er schimmert in seinen grauweißen Farbtönen und die einzelnen Schneeflocken rieseln auf uns herab. "Ich hätte Castiel gestern wirklich gerne eine reingeschlagen. Wirklich, wirklich gerne. Ich meine, er hat dich geküsst! Er hat dich tatsächlich geküsst ... Und da gibt es auch kein nur. Es war dein Hals." Nun wandert er mit seinen Händen zu meinem Gesicht rauf und lenkt damit meine Augen wieder auf sich. Ich lege meine Hände in seinen Nacken. "Aber ich durfte es einfach nicht, obwohl es eigentlich nur gerecht gewesen wäre. Du bist immerhin meine Freundin und nur ich sollte deinen Körper mit meinen Lippen berühren dürfen ... Ich darf nicht daran zurückdenken. Es lässt mich nur wieder wahnsinnig machen." Er kneift kurz die Augen zusammen, als würde er mitten in einer anstrengenden Aufgabe stecken. "Als hätte das aber nicht schon gereicht, hat er mir auch noch die Wahrheit vor Augen geführt. Ich war es, der sich von dir getrennt hat." Sichtlich verzweifelt lässt er seine Stirn auf meine treffen, wodurch mir ein paar seiner blonden Strähnen vor die Augen fallen. Er lässt seine Lider ein weiteres Mal sinken und fährt fort: "Das war einfach das allerdümmste, was ich je getan habe. Ich hatte eigentlich damit abgeschlossen, weil ich dich jetzt wieder habe und das das Einzige ist, was zählt, aber durch diese Bemerkung von diesem Idioten ... Es ist einfach alles wieder hochgekommen, Lisa. Diese Wut auf mich selbst. Diese Wut auf jeden Grund, der uns nicht problemlos zusammen sein läs-"
Ich kann mir das nicht länger anhören. Bei aller Liebe, ich kann es nicht. Ich ziehe seinen Kopf zu mir herunter, um meine Lippen auf seine treffen und sie letztlich in einem Kuss verweilen zu lassen. Einem sehr sinnlichen, wie wir ihn schon lange nicht mehr hatten. Er lässt sich darauf ein und beginnt seine Lippen vorsichtig zu bewegen. Ich komme ihm entgegen und spüre dadurch förmlich heraus, wie fertig er durch seine Gedankengänge und die damit im Zusammenhang stehenden Emotionen ist. Ich löse mich kurz aber nicht weit von ihm. "Such die Gründe nicht immer bei dir", hauche ich ihm entgegen, "es tut mir auch leid, dass es gestern Abend überhaupt so weit gekommen ist."
"Ich habe gesehen, dass du ihn wegstoßen wolltest", beteuert er mit sanfter Stimme, doch dann hören wir auch schon wieder auf zu reden und widmen uns stattdessen uns gegenseitig, indem wir erneut in zärtliche Küsse verfallen. Immer wieder drücke ich ihn so nahe es geht an mich. Ich wünschte die Zeit um uns herum würde stillstehen und wir können noch ganz lange ungestört hier sein, nur wir Zwei. Er drückt mir einen letzten festen Kuss auf den Mund, bevor er mich mit einem Strahlen im Gesicht und geröteten Wangen anschaut. "Danke", äußert er. Ich streichle ihm über seine linke Wange. Sie glüht richtig. "Auf Dauer rational zu denken kann wirklich schwierig sein."
"Ssscht!" Ich platziere meinen linken Zeigefinger auf seinen Lippen. "Kein Wort mehr darüber, okay? Ich wäre dir aber sehr dankbar, wenn du in Zukunft deine Gedanken früher mit mir teilst."
Einverstanden nickt er. "Abgemacht." Er besiegelt seine Antwort mit einem Kuss auf meine Stirn.
"Ist das hier eigentlich der Ort, den du mir zeigen wolltest?"
"Nein", offenbart er und lacht leicht auf. "Heute Abend entführe ich dich aber dorthin!"
"Gut. Sonst hätte ich auch schon angefangen die Zuverlässigkeit unseres Schülersprechers in Frage zu stellen!" Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Pff", lacht er, "du solltest die Letzte sein, die das in Frage stellt!" Er packt meinen Oberkörper, indem er ihn mit seinen muskulösen Armen umschlingt, und hebt mich hoch, sodass meine Füße wahrscheinlich mindestens zwanzig Zentimeter über den Boden schweben. Wie von selbst quietsche ich erschrocken darüber auf und muss daraufhin hemmungslos loslachen. "Naaath, lass mich runter", flehe ich, doch er nimmt mich durch mein Gelächter kein Stück ernst. Er ergötzt sich geradezu an meinem Anblick. "Es ist toll, dass du so klein bist, habe ich dir das schonmal gesagt?"
Und wie er so lacht, wird mir immer wieder aufs Neue klar, wie sehr ich eigentlich in ihn verliebt bin. Ich drücke ihm mehrere Küsse auf die Wange, in kleinen Abständen, und bin einfach nur dankbar dafür, dass Gott, oder wer oder was auch immer, mir ihn geschenkt hat.
Hand in Hand gehen wir durch das Treppenhaus, nachdem wir noch einige Zeit dort oben zusammen verbracht haben. "Fährst du nachher wieder Snowboard?", erkundigt er sich.
"Auf jeden Fall! Schließlich hat das viel besser funktioniert, als mein Gehampel auf den Skiern!" Ich kichere und erinnere mich dabei an vorgestern zurück. Es ist bereits der dritte Tag heute. Die Zeit fliegt!
"Ich stimme dir zu", klinkt er sich in mein Lachen ein. Allerdings verstummt es kurz danach wieder. "Ähm, mal eben was anderes ..."
"Ja?", hake ich verwundert nach.
"Du hast gestern aber nicht noch weiter Zeit mit Castiel verbracht, nachdem ich gegangen bin, oder?" In seiner Mimik lässt sich erkennen, dass es ihm unangenehm ist, diese Frage zu stellen.
"Nein", reagiere ich fast schockiert, "aber natürlich nicht! Mein Fokus lag auf dich und ich bin danach auf mein Zimmer verschwunden. Ich habe keine Minute länger bei ihm bleiben können. Erst recht nicht nachdem ..." Ich breche ab. Eine Wiederholung des Szenarios ist nun wirklich nicht angebracht. Keiner von uns beiden braucht das.
"Okay", antwortet er. "Entschuldige, dass ich wieder damit angefangen habe aber die Frage schwirrte noch in meinem Kopf herum."
"Bsss bsss bsss." Ich fange an Bienengeräusche zu imitieren und obwohl ich mir dabei sehr kindisch vorkomme, schmunzelt Nathaniel über mein Verhalten. "Wie alt bist du nochmal?", fragt er lachend.
"Biologisch betrachtet bin ich Achtzehn."
"Biologisch", betont er.
"Neck mich ruhig weiter!" Mahnend schwinge ich den Zeigefinger. "Aber das wird noch Rache geben, das sage ich dir!"
Er gibt mir grinsend einen Kuss auf die Schläfe. "Ich bin gespannt, wie die aussieht!"
Als wir uns alle zusammen auf der mittelschweren Piste treffen, rutscht mir das Herz ins Bein. Wenn nicht sogar in den Fuß. Ich bin hier ja mal am völlig falschen Ort! "Mr. Faraize", spreche ich meinen Lehrer an und versuche ihn dazu zu bringen, dass er mich beachtet, indem ich ein wenig an seiner Skijacke ziehe.
"Ja? Lisa, was gibt es?" Er sieht zu mir runter. Ich fühle mich dadurch nur noch kleiner, als ich es ohnehin schon bin.
"Kann ich nicht auf die Piste für Amateuren zurück?"
"Nein", grinst er. "Es ist Mittwoch! Die Mitte der Woche. Zeit, sich neuen Herausforderungen zu stellen!"
"Ich bin aber heute echt nicht in Stimmung für sowas", schmolle ich. "Bitte!"
"Nein heißt nein, liebe Lisa."
Danke, lieber Mr. Faraize.
Mit meinem Snowboard in den Händen trotte ich zu den Anderen zurück.
"Was hat dich denn gestochen?"
Ich drehe meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Castiel widmet mir einen skeptischen Blick, der geradezu einschüchternd ist. O Gott, ich wollte eine Konfrontation mit ihm wirklich so lange wie möglich hinauszögern!
"Nichts", antworte ich nüchtern.
"Und warum guckst du dann so?"
"Weil ich nunmal finde, dass ich hier", ich zeige auf die Strecke der Piste, "nichts verloren habe."
Er lacht spöttisch. "Du hast Schiss."
"Ja. Zurecht."
"Wenigstens gibst du es zu."
Komisch. Warum ist dieses Gespräch nicht so merkwürdig, wie ich es erwartet habe? Dabei bin ich einfach so gestern abgehauen, ohne ihm auch nur eine Spur von einer Erklärung zu liefern. Es sieht ihm nicht ähnlich, dass er sich damit zufrieden gibt. Er beendet das Gespräch, da er mir den Rücken zuwendet und zurück zu Lysander geht, der uns beide offenbar beobachtet hat. Zumindest wirkt es so auf mich.
"Hat er dich wegen gestern angesprochen?", fragt Nathaniel neugierig, der auf einmal neben mir steht. Ich schrecke auf, da ich überrascht von seiner plötzlichen Anwesenheit bin und haue ihm beinahe das Snowboard gehen die Kniescheiben. "Pass auf", lacht er kaum vernehmbar.
"Meine Güte", sage ich unter tiefem Ausatmen. "Warum schleichst du dich an mich ran?"
"Beim nächsten Mal schreie ich einfach direkt BUH!" Ich sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen, doch dann sehe ich wieder dieses entzückende Grinsen, was sich in seinem Gesicht ausgebreitet hat. Lachend schüttle ich mit dem Kopf: "Ich bitte dich, mach das nicht."
"Mal sehen."
"Und nein", antworte ich auf seine Frage, "hat er nicht. Er hat kein Wort darüber erwähnt."
"Wow." Nathaniels Gesichtszüge deuten einerseits von Irritierung und andererseits von Bewunderung. "Also so leicht wärst du mir nicht davon gekommen." Er lächelt mich wieder an. Den Satz hätte er sich sogar sparen können, denn das ist mir mehr als bewusst. "Soll ich nochmal mit Mr. Faraize sprechen, damit du da rüber kannst?", fragt er fürsorglich und deutet dabei mit dem Kopf in Richtung der Piste für Anfänger. Mir klappt die Kinnlade runter und nun drehe ich mich mit meinem gesamten Körper zu ihm. "Nathaniel", spreche ich erstaunt aus. "Ich glaube es ja wohl nicht, hast du überall deine Ohren?"
Er lacht, jedoch so dezent, dass vermutlich nur ich es hören kann. "Naja, nicht dass du denkst, dass ich jedes deiner Gespräche, die du führst, auch noch auf Band aufzeichne", beruhigt er mich, "aber wenn ich schonmal in der Nähe bin, höre ich auch gerne zu." Unschuldig grinst er mich an. Sein Heiligenschein über seinem Kopf strahlt mir geradezu entgegen. Oder es ist bloß die Sonne.
"Aber nein", winke ich ab. "Es ist Zeit, sich neuen Herausforderungen zu stellen." Ich zitiere unseren Lehrer und ahme dabei seine etwas tiefere Stimme nach. "Trotzdem danke, dass du das für mich tun würdest."
Nathaniel zieht seine Skibrille runter und versperrt mir somit den Blick in sein schönes Augenpaar. "In Ordnung. Pass auf dich auf. Ich mache es auch." Er geht mitsamt seinem Snowboard tiefer in die Menge, wo sie auch schon damit anfangen, sich hintereinander aufzustellen. Kurz lässt er mich in Verwirrung zurück, bis ich verstehe, dass er meinte, er würde auch auf mich aufpassen. Entzückt kann ich mein Lächeln darüber nicht unterdrücken und gehe zu Alexy. Ich bin gerade so glücklich gestimmt, ich könnte ein Liedchen pfeifen aber das wäre auch schon wieder zu viel des Guten. "Aleeexy", trällere ich seinen Namen und strahle mit der Sonne um die Wette.
"Okay", hält er mich mit ausgestreckter Hand an und sieht verblüfft hinter mich. Nachdem er jede Richtung zwei Mal abgesucht hat, fragt er: "Wo ist die Lisa von heute Morgen hin?"
"Weg! Husch!"
"Das sehe ich", lacht er. "Also ist alles wieder beim Alten?"
"Sieht ganz so aus."
Er legt einen Arm um mich. "Das ist doch Musik in meinen Ohren!" Anschließend klopft er mir anerkennend auf die Schulter. "Bist du bereit für den nächsten Showdown?"
"Lass das Show weg, dann ja", antworte ich verzweifelt, mit dem Kopf zum Himmel gerichtet.
"Das habe ich jetzt nicht gehört!"
Er schiebt mich in die Reihe hinein und bis ich dran komme versucht er immer wieder mich mit Motivationssprüchen und Komplimenten, über meine schnelle Lernfähigkeit, aufzubauen. So zuckersüß ich meinen besten Freund auch finde, hilft es mir keineswegs, wie er auf mich einredet. "Alles wird gut, Lisalein", sind seine letzten Worte, bevor ich das Snowboard unter meine Füße setze. "Scheiße", murmle ich zu mir selbst, als ich das Übel, das sich vor mir befindet, anschaue.
"Denk dran, Lisa, neue Herausforderungen!" Mr. Faraize klatscht in die Hände und ich interpretiere das als eine Art Startschuss.
Ich rücke ein wenig weiter nach vorne, gehe mit den Knien leicht in die Hocke und schon brause ich langsam davon. Da fällt mir plötzlich auf, dass ich meine Skibrille noch gar nicht auf habe. Schnell ziehe ich sie mir noch auf und rechne schon jetzt mit dem Scheitern, doch ich schaffe es mich auf dem Snowboard zu halten. Stolz überkommt mich langsam und ich probiere kleine Slaloms einzulegen. Überwältigt von meiner momentanen Fähigkeit fahre ich immer weiter und weiter, mit stur geradem Blick nach vorne. "ACHTUNG", höre ich auf einmal jemanden schreiben und im Augenwinkel erkenne ich eine große Silhouette auf mich zu rasen. Ich gerade in Panik. Ein Zusammenstoß ist nun wirklich das Letzte, was ich gebrauchen kann. "VORSICHT!" Die Person schreit erneut und als sie nicht mehr weit von mir entfernt ist, schaffe ich es glücklicherweise in der letzten Sekunde noch auszuweichen. Ich atme erleichtert auf, doch dann passiert das nächste Unvorhergesehene: Ich stürze nach vorn. Schnell versuche ich die richtige Haltung einzunehmen, die Mrs. Delaney uns am Vortag beigebracht hat, und balle meine Hände zu Fäusten. Nach dem ersten Fall nach vorne ist es aber noch nicht genug. Es passiert ein zweites Mal, ein drittes Mal und ein viertes Mal. Eher komme ich nicht zum Stillstand und dann liege ich auf dem Rücken und starre zum klaren Himmel auf. Mein Atem ist schwer und ich wage kaum mit der Wimper zu zucken. Ich warte ab, dass irgendwo ein Gefühl von Schmerz einsetzt. Ich lebe noch. So viel weiß ich. Auf einmal erscheint ein Kopf über meinem. Und noch einer. Und noch einer. Ganz viele Köpfe sind auf einmal um mich herum versammelt und ein Wirrwarr aus Gesprächen entsteht. Ich komme gar nicht mit, all die fallenden Sätze zu verfolgen. Ich höre nur hin und wieder meinen Namen und die Worte "Notarzt" und "Handy". Ich bringe jedoch alle zum Schweigen, als ich versuche mich aufzurichten. "NICHT", hält meine Lieblingsstimme mich auf. Ich erkenne Nathaniels dunkelblaue Mütze und anschließend sein Gesicht, nachdem er die Skibrille zur Seite schiebt. "Bleib liegen!"
"Machst du jetzt einen auf Arzt?" Castiel macht ihn schief von der Seite an, doch Nathaniel reagiert nicht darauf. "Hast du Schmerzen?", fragt er und ich sehe, wie besorgt er ist.
"Nein", gebe ich leise von mir. "Ich spüre nichts."
Er seufzt erleichtert auf. "Gut. Gut." Er legt eine Denkpause ein. "Armin!"
"Ja?"
"Hilf mir! Entfern das Snowboard unter ihren Füßen!"
Jetzt kommen auch unsere Lehrer heran geeilt. Nathaniel beantwortet ihnen bereits die Fragen, die ihnen im Gesicht stehen. Anschließend lächelt er mich sanft an und zieht mir die Skibrille über den Kopf aus. "Tat das weh?"
"Nein."
"Dann hat dein Nacken wohl nichts abbekommen."
"Sollten wir nicht vorsichtshalber doch einen Arzt rufen?", wendet Melody ein. Sie sieht eher verärgert als beunruhigt aus.
"Ich war jahrelang jeden Winter Snowboardfahren", erklärt Nathaniel, "und ich weiß wie es ist, wenn man sich dabei unglücklich verletzt. Solange sie bis jetzt schmerzfrei ist, sieht es aus, als wäre alles gut gegangen." Er würdigt sie keines Blickes, sondern achtet auf Armins Umgang an meinen Füßen.
"Es stimmt, was er sagt", unterstützt Kentin Nathaniels Aussage. "Anscheinend ist Lisa noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen", lacht er.
"Danke", richtet mein Freund ihm sichtlich überrascht aus.
Ich fühle, wie das dicke Brett sich von meinem Füßen entfernt. "Erledigt", sagt Armin mit einem Grinsen im Gesicht.
"Okay, Lisa", spricht Nathaniel mich an. "Ich werde jetzt versuchen dich hochzuheben, okay? Sobald du spürst, dass etwas weh tut, zögere nicht es zu sagen! Du musst sofort sprechen!"
Ich nicke und schon schiebt er eine Hand unter meine Schultern und eine unter meine Knie. Gleichzeitig höre ich Charlotte Amber fragen: "Hat dein Bruder echt Ahnung davon, was er macht?"
"Wenn er es doch sagt", zischt sie zurück. "Lass ihn mal machen."
Damit habe ich nicht gerechnet. Dass sie ihren Bruder derart verteidigt, gegenüber einer ihrer besten Freundinnen. Nathaniel erhebt mich langsam vom Boden. "Geht es?"
"Ja."
"Leg ruhig deine Arme um meinen Hals. Das gibt dir außerdem mehr das Gefühl von Sicherheit."
Oh, wenn du wüsstest, Nathaniel, wie sicher ich mich gerade fühle. Ich lächle ihn an und er gibt mir ein noch wärmeres zurück. Ich erhebe meine Arme, um seinen Rat zu befolgen und unmittelbar darauf empfinde ich es. Schmerz. "Au", quietsche ich und er reißt seine Augen schockiert auf. Er will mich gerade wieder absetzen, da halte ich ihn auf: "Nein, nein, nein! Es ist mein linkes Handgelenk. Das tut weh."
"Okay, ich bringe dich erstmal in die Lobby und dann gucke ich mir das an."
Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass er als späteren Beruf Arzt in Erwägung zieht, finde ich die Vorstellung ganz schön attratiktiv. Er beginnt loszumaschieren. "Ich nehme dein Board mit", höre ich Armin hinter uns her rufen und Nathaniel gibt ein genauso lautes "Danke" zurück. Ich kann noch Mr. Faraizes Ansprache vernehmen, die sich darum dreht, dass das soeben Geschehne aufwühlend war aber er trotzdem nicht vorhat, die heutige Skisession abzubrechen. "Was für eine Art von Schmerz ist das, den du spürst?" Nathaniel lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er sieht mich traurig an. Ich lächle und antworte: "Eine Mischung aus drücken und ziehen, ich kann es nur schlecht beschreiben. Guck mich bitte nicht so an, ansonsten geht es mir gut."
"Du kannst einem einen heiden Schreck einjagen!"
"Das habe ich klar und deutlich gemerkt."
Seine Mundwinkel zucken und dann wandern sie langsam weiter nach oben. "Hatte ich nicht gesagt, dass du auf dich aufpassen sollst?"
"Hast du", bestätige ich nickend, "aber du hast auch gesagt, dass du auf mich aufpassen wirst. Manche machen ihren Job eben besser als andere."
Er lacht kopfschüttelnd. "Ach, Lisa ..."
"Ich bin froh, dass du es bist, der mich zurück trägt."
"Ich auch." Seine Wangen färben sich rosa und ich bemerke, dass es mir nicht anders ergeht. Gerade muss es mehr als offensichtlich sein, wie wir füreinander empfinden aber zum Glück bekommt es keiner, aus unserem näheren Umfeld, mit. Nur die fremden Urlauber hier.
In der Lobby lässt er mich auf einem der Sofas, die um den Kamin stehen, nieder. Er behandelt mich wie ein Porzellanpüppchen. Hinterher zieht er sich seine Skikleidung schnell aus, um sich dann wieder mir zuzuwenden. Langsam öffnet er meine Jacke. "Ich denke nicht, dass das hier der richtige Moment ist, um mich auszuziehen", necke ich ihn. Er zeigt mir nur sein breitestes Grinsen darauf. Nach dem aufwändigen Akt, mir die Jacke über den rechten Arm auszuziehen, hält er vor dem linken noch inne. "Willst du dir selbst den Handschuh ausziehen oder soll ich das machen?"
"Ich mache es am besten selbst", antworte ich ehrlich und merke schnell, dass das die bessere Entscheidung war. Es tut weh und ich verziehe dementsprechend mein Gesicht. Unter dem weißen dicken Handschuh kommt ein leicht angeschwollenes Handgelenk hervor. Nathaniel greift behutsam nach meiner Hand, um sie sich näher anzuschauen. "Kannst du sie bewegen?" Ich demonstriere es ihm, indem ich sie ein bisschen auf und ab bewege. Beschwerdenfrei ist jedoch was anderes. "Super", meint er lächelnd, "sie ist nicht gebrochen."
"Aber es tut ziemlich weh ..."
"Das ist normal. Sie ist geprellt. Hast du etwas dabei, was dagegen helfen könnte?"
"Nein", gestehe ich mit zusammengepressten Lippen.
"Macht nichts", besänftigt er mich. "Bleib schön hier liegen."
Ich komme nicht dazu, noch etwas darauf zu sagen, da ist er auch schon verschwunden. Ich sehe auf das Feuer, das lichterloh im Kamin vor sich hin brennt. Mir ist klar, dass durch das gestrige Ereignis und dem heutigen die Diskretion zwischen Nathaniel und mir ziemlich mangelhaft ist aber ich kann da gerade sehr gut drüber hinwegsehen. Er offensichtlich auch. Zudem darf ich nicht vergessen, dass eine wichtige Person von gestern nichts mitbekommen hat: Seine Schwester. Vorhin hat sie auch kein Wort darüber verloren, dass Nathaniel mich davon getragen hat. Zum Glück. Ein Gefühl von Erleichterung breitet sich in mir aus. Es ist Balsam für meine Seele. Der heutige Tag verläuft wirklich gut, wenn man von der Prellung meines Handgelenks absieht. Darum wird sich aber ja bereits gekümmert. Aufs Stichwort kommt Nathaniel zurück zu mir gelaufen und ich lächle ihn willkommen an. "Da bist du ja wieder", freue ich mich und entdecke dann die Salbe sowie eine Mullbinde in seiner Hand.
"Das sollte dir helfen", versichert er mir und fackelt nicht länger, mir vorsichtig die Jacke komplett auszuziehen. Mit leichten Aufstöhnern des Schmerzes überlebe ich diese Durchführung. Infolgedessen reibt er mit kreisenden Bewegungen mein Handgelenk ein. Die Salbe erweist sich als äußerst kühl aber nicht unangenehm. Immer wieder blinzelt er zu mir rauf, um mein Gesicht zu mustern. "Wie fühlt sich das an?"
"Wie jede deiner Berührungen ... Schön." Ich bringe ihn mit dieser Rückmeldung erneut zum erröten. Sein Lächeln, das daraufhin folgt, hört nicht auf. Nach einer Weile hört er auf und ich spinkse auf meine rote, langsam lila werdende, Haut. Hübsch sieht es nicht aus, obwohl ich Lila normalerweise als sehr schöne Farbe empfinde. Er öffnet die Plastikverpackung der Mullbinde und rollt sie ein wenig auf, um im Anschluss das Anfangsstück auf meiner Haut abzulegen. Langsam wickelt er mein Handgelenk vollständig ein, sodass es als Körperteil einer Mumie identifiziert werden könnte. Bei dem Gedanken muss ich anfangen zu kichern. "Was ist so komisch?" Nathaniel sieht mich an und lässt sich, obwohl er keine Ahnung hat, weswegen ich lache, zu einem Grinsen verleiten.
"Ich habe gerade nur daran gedacht, dass mein Handgelenk das einer Mumie sein könnte."
"Deine Gedanken überraschen mich immer wieder", lacht er herzlich. "So. Fertig!" Er befestigt das Ende mit einer Klammer. Ich ziehe meine Hand näher an mich und begutachte sein Werk. "Vielen Dank, Herr Doktor!"
"Fang du nicht auch noch an!" Er verdreht die Augen und belächelt meine Anmerkung. Dabei steckt er den Müll in seine Hosentasche. "Ich werfe das später weg", erläutert er. "Soll ich dir etwas zu trinken bringen?"
"Nein, danke."
"Okay."
"Bleib einfach bei mir, dann bin ich zufrieden."
Er zieht mir meine Mütze aus, um daraufhin meine Haare wieder glatt zu streichen. Ich hasse es ja eigentlich, wenn meine Haare von jemand anderes, als mir selbst, in die Griffe genommen werden aber er dürfte alles mögliche mit ihnen anstellen. Okay, schneiden dürfte er sie nicht aber sonst ... Alles. "Mache ich", lässt er mich beseligend wissen. Er streicht mir noch einzelne Strähnen hinter mein linkes Ohr, ehe er sich langsam zu mir runter beugt. Es mag kitschig klingen aber in diesem Moment komme ich mir glatt wie Dornröschen vor, die kurz davor ist von ihrem Prinzen, durch den langersehnten Kuss, gerettet zu werden. Vor allem passt es, da er mir schonmal gesagt hat, dass ich ihn an Dornröschen erinnere. Er gibt mir einen begehrlichen Kuss auf den Mund, der mich meinen drückenden Schmerz im Handgelenk im Fluge vergessen lässt. Dieser verweilt allerdings nicht lange. Schmollend sehe ich an und bin kurz davor ihn aufzufordern, dass er weitermachen soll. Er strahlt und raunt: "Ich stelle fest, dass dein Sturz nicht nur schlechte Seiten hat."
"Stimmt aber jetzt sei still und küss mich!"
Das lässt er sich nicht zweimal sagen. Er küsst mich mit solch einer Leidenschaft, dass ich ihn am liebsten gleich auf mich drauf ziehen würde aber wir sind schließlich immer noch in der Lobby. Dem Himmel sei Dank ist gerade niemand hier, nichtmal die Dame am Empfang war vorhin zu sehen, sodass wir uns wenigstens hemmungslos weiterküssen können.
"AHA! Ich wusste es!"
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