4 - Astrid
»Da ist sie ja!«, sagte Raffnuss, nachdem sie mich entdeckt hatte, wie ich auf unsere Freundesgruppe zuging und klopfte mit den anderen aufgeregt auf den Tisch, als ich näherkam. Ich warf theatralisch meine Haare nach hinten und lachte mit ihnen, während ich mich neben Heidrun setzte. Das Stück Apfelkuchen, das sie für mich ergattert hatte, stand bereit, um von mir verzehrt zu werden. Es roch herrlich frisch gebacken und erinnerte mich an schöne Sommertage.
»Und?«, sagte Raffnuss langgezogen. »Wie war dein Gespräch mit dem Niemand?«
Ich nahm einen Bissen vom lang ersehnten Kuchen, bevor ich antwortete. Der Geschmack von Äpfeln und Zuckerguss verteilte sich auf meiner Zunge, was mich leise zufrieden seufzen ließ. »Wir haben unser Land für das Projekt besprochen, wie geplant.«
»Welches habt ihr genommen?«, fragte Heidrun und lehnte sich an ihre Stuhllehne.
»Frankreich. Das war das Einzige, was wir beide gleich hatten. Hoffentlich genehmigt Ms. Donna es, wir haben uns keine Gedanken über einen Plan B gemacht.«
Rotzbakke schnaubte und tunkte eine Pommes in Ketchup. »Keine Sorge, das macht Hicks schon von selbst. Er plant immer voraus und überdenkt so ziemlich alles.«
Ich nickte zustimmend und schluckte den nächsten Bissen hinunter. »Ja, das habe ich gerade eindeutig bemerkt.«
»Oho«, machte Taffnuss und lehnte sich vor, nun interessiert am Gespräch. Sein irres Grinsen passte zu seinem dünnen langen Gesicht. »Worüber habt ihr denn noch gesprochen?«
»Also«, sagte ich mit einem eigenen Grinsen auf den Lippen, das ich nicht zurückhalten konnte, weil es so absurd war, was Hicks von sich gegeben hat. »Nachdem wir das Land geklärt hatten, fragte er mich plötzlich, wieso es mir egal ist, mit ihm gesehen zu werden. Das hatte er schon gestern an der Bushaltestelle erwähnt, wie ich euch in der Gruppe geschrieben habe. Er meinte, mein Image würde dadurch doch kaputt gehen.« Wir lachten. »Total bescheuert. Ich habe ihm dann gesagt, dass es mich nicht interessiert, was andere von mir denken, was größtenteils sogar stimmt. Danach hat er mich gefragt, wieso ich ihn als Partner ausgewählt habe.«
Ich rollte mit den Augen, die anderen lachten leise. »Da konnte ich ihm schlecht sagen, dass ich eintausend Dollar dafür bekomme. Also habe ich ihm erzählt, dass Rotzbakke ihn erwähnt hat und ich deshalb auf ihn aufmerksam wurde und nun wissen will, wer er ist. Ihr wisst schon, eben das, was sich am besten anhört.«
»Hast du dabei liebliche Augen gemacht?«, fragte Raffnuss und blinzelte mehrmals mit einer übertriebenen Mimik, weshalb wir erneut lachten.
»Oder seine Hand immer mal wieder angefasst?«, fügte Heidrun grinsend hinzu.
»Ihm Schmeicheleien um die Ohren gehauen?« warf Eret in die Runde.
Ich schüttelte lächelnd meinen Kopf. »Nein, nichts davon. Ihr spinnt doch alle. Es ist viel zu früh für sowas. Ich habe ihn die ganze Zeit so nett angelächelt, wie ich konnte, dabei Blickkontakt gehalten und zwischendurch schüchtern weggesehen. Das wird den Grundstein legen. Jetzt muss ich nur öfter mit ihm reden, mich privat mit ihm treffen und die Anzahl an Berührungen jedes Mal erhöhen.«
Rotzbakke sah mich nachdenklich an. »Ich glaube nicht, dass du ihn so leicht knacken kannst, Astrid. Hicks ist sehr zurückhaltend, er redet kaum mit seiner Familie, was ich aus erster Hand bezeugen kann. Wie willst du es dann schaffen, dass er sich bei dir so schnell öffnet, wie du eben beschrieben hast?«
Während ich ein weiteres Stück auf meiner Zunge zergehen ließ, dachte ich darüber nach. Das hier war auf jeden Fall eine Situation, in der es leichter gesagt als getan war. In den letzten beiden Tagen wurde mir klar, dass dieser Deal nicht so einfach und schnell zu beenden sein würde, wie ich auf der Halloween Party gedacht hatte. Hicks war um einiges mehr verschlossen, als mir bewusst gewesen war und all das Gerede über nicht auffallen und dort treffen, wo uns niemand sah, zeigte mir, dass ihn irgendetwas tief geprägt hatte, weshalb er unsichtbar sein wollte. Eine andere Erklärung hatte ich für sein Verhalten nicht. Näher an ihn heranzukommen würde also schwer werden, aber nicht unmöglich. Ich glaubte, dass ich mit meiner Herangehensweise Erfolg haben würde, nur würde es länger dauern, als zuvor angenommen.
Ich sah Rotzbakke an, der seine restlichen Pommes aufaß. »Vielleicht wird es nicht schnell passieren, aber ich versichere dir, dass diese Taktik funktionieren wird. Es ist im Grunde einfache Biologie.«
»So wie bei Leuten, die eine Freundschaft Plus führen und sich einer oder beide am Ende verlieben, weil der Körper ein bestimmtes Hormon beim Sex ausstößt, das zu starken Gefühlen führt«, fügte Heidrun hinzu. Wir starrten sie alle an, sie zuckte nur mit den Schultern. »Wie Astrid gesagt hat, einfache Biologie.«
»Na gut«, sagte Rotzbakke und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er richtete seine blauen Augen auf meine. »Es ist dein Spiel. Spiele es, wie du es willst.«
Das werde ich.
❊
Am Dienstag erwischte ich Hicks am Ende der Mittagspause auf dem Flur, als er gerade auf dem Weg zum Erdkunderaum war.
Ich hatte ihn seit Freitag in Biologie nicht mehr gesehen, wo er mich keineswegs beachtet hatte, obwohl ich zwischendurch versucht hatte, seine Aufmerksamkeit zu ergattern. Meinen Blicken war er gekonnt ausgewichen, das Lächeln ließ ihn kalt. Ich wusste, dass er mich und meine Bemühungen bemerkt hatte, aber er war wirklich gut darin, Leute zu ignorieren.
Am Wochenende hatte ich alle Hände voll zu tun mit meinem privaten Baseballtraining, das mein Vater mit mir durchführte, meinen Nebenjob im Country Club, in dem meine Eltern und die meiner Freunde Mitglieder waren, und damit, die Buchreihe zu Ende zu lesen, die ich vor einem Monat begonnen hatte. Da blieb mir nicht viel Zeit, um an die Verführung von Hicks Haddock zu denken. Außerdem hatten wir abgesprochen, erst richtig mit dem Projekt zu beginnen, wenn wir Frankreich offiziell nehmen konnten. Ich durfte nicht zu auffällig sein und musste es natürlich angehen lassen, damit er keinen Verdacht schöpfte, dass mein plötzliches Interesse auf etwas anderem beruhte als pure Neugierde.
Montag hatte ich ihn gar nicht gesehen, an dem Tag hatten wir auch keine Kurse miteinander. Es war wohl auch einer der beiden AG Tage bei ihm, denn er hatte nicht draußen bei den Schülern gestanden, die auf den Schulbus gewartet hatten, als ich nach der letzten Schulstunde zu meinem Auto gelaufen war. Möglicherweise hatte er sich auch nur ziemlich gut versteckt, immerhin hatte er mir gesagt, dass er das tun würde, was ich immer noch für absurd hielt. Daran müsste ich mich erst einmal gewöhnen, wenn ich näher an ihn herankommen wollte.
Er war in der Mitte des Ganges, weshalb ich ein Ticken schneller lief, um zu ihm aufzuholen. An seiner Seite lächelte ich ihn breit an. »Halli, hallo, hallöchen.«
Sein Kopf drehte sich ruckartig zu mir, wie an der Bushaltestelle letzte Woche. Er zog die Augenbrauen bei meinem Anblick zusammen. »Was machst du hier?«
Kein nettes Hallo zurück, nur wieder dieselbe Frage, weil er nicht verstand, weshalb ich außerhalb unserer Projektzeit mit ihm sprach. Ich ließ mich davon nicht beirren und lächelte ihn weiterhin lieblich an. »Zum Erdkunderaum laufen. Wir haben den Kurs zusammen, falls du dich erinnerst.«
Sein Gesichtsausdruck wandelte sich zu genervt, denn natürlich wusste er das, wir waren Projektpartner. Ihm war ebenfalls bewusst, dass ich ihn damit nur ärgern wollte. »Das weiß ich. Ich meine, was machst du hier jetzt? Du kommst eigentlich erst später mit den anderen.« Er verlangsamte sein Tempo, als er bemerkte, dass ich mit seinen weiten Schritten nicht mitkam.
»Hast du etwa einen Zeitplan über mich erstellt?«
Er zuckte ein wenig zurück. »Nein. Es ist nur etwas, was ich über die Jahre beobachtet und gemerkt habe.«
»Das klingt, als wärst du ein Stalker.«
Er sah mich mit gekrauster Stirn an. »Nein, tut es nicht. Ein Stalker verfolgt eine Person regelmäßig, merkt sich deren Angewohnheiten und macht in vielen Fällen ungewollte Geschenke und schreibt verrückte Briefe.«
Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. »Du weißt schon, dass deine Kenntnis darüber eher dafürspricht, oder?«
Er seufzte. »Ich bin einfach in vielen Bereichen belesen und kann logisch denken.«
»Und deshalb weißt du, wann und mit wem ich in die Kursräume komme?«
Hicks richtete seinen Blick wieder nach vorne. »Wie gesagt, ich habe es über die Jahre bemerkt. So ist das, wenn man für sich allein ist.«
Das ergab Sinn. Wenn man immer ganz hinten saß und mit niemandem etwas zu tun hatte und nur zuschaute, konnte man einige Dinge feststellen und erkennen. Zum Beispiel, wann wer in die Räume strömte. Außerdem glaubte ich, dass er ein gutes Gedächtnis hatte und ziemlich intelligent war. Die Bemerkung mit dem Stalker hatte ich sowieso nur gemacht, um ihn ein wenig zum Reden zu kriegen. Irgendwie musste ich ihn aus sich herauskitzeln.
Ich musterte ihn von der Seite, wie er stur geradeaus sah und mich zwar tolerierte, weil er wusste, dass ich hartnäckig war und nicht gehen würde, aber es wahrscheinlich lieber hätte, wenn ich nicht da war. Seine Haare hingen ihm ein Stück über die Stirn, seine Nase knobelte sich unten ein wenig, die scharfe Kieferpartie. Selbst von der Seite konnte man erkennen, was für perfekte Augenbrauen und volle Lippen er hatte. Im Grunde war er recht gut aussehend. Ihm würde ein Anzug bestimmt toll stehen.
»Ich wette«, sagte ich, um die Stille zu brechen und von den seltsamen Gedanken an sein Aussehen zu fliehen, »du würdest gerade liebend gerne Kopfhörer einstecken und mich ignorieren. Oder mir sogar sagen, dass ich weggehen soll.«
Seine Iren wanderten zu mir, sodass er mich nun im Augenwinkel ansah und mein Lächeln erkennen konnte. »Aber dafür bist du zu höflich. Darum tolerierst du meine Anwesenheit und lässt es über dich ergehen. Ich glaube jedoch, dass du geselliger bist, als du zugeben willst.«
Er summte zustimmend, auch wenn es sich sarkastisch anhörte, und richtete seine Augen wieder auf den Flur vor sich. Schließlich wandte ich meinen Blick ebenfalls von ihm ab und ließ die erneute Stille über uns gehen. Das hier war zwar alles nur für einen Deal, aber es war recht lustig ihn zu beobachten, wie er versuchte sich auf nichts einzulassen. Er wehrte sich buchstäblich dagegen. So wenig sagen wie möglich, sich versteckt halten, mich ignorieren.
Vor uns kam jemand um die Ecke gelaufen, wobei sich Hicks neben mir direkt anspannte. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es Betty Linsy war, eine aus dem Cheerleader Team, die ich durch Raffnuss und Heidrun kannte. Als sie von ihrem Handy aufsah und mich entdeckte, winkte sie mir und ich winkte ihr lächelnd zurück.
»Hey, Astrid. Heute nicht in der Cafeteria?«, sagte sie, als sie vor mir stehen blieb. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der trotzdem noch zur Mitte ihres Rückens reichte. Ein paar Strähnen rahmten ihr Gesicht ein und hoben ihre helle Haut hervor.
»War ich bis gerade eben«, antwortete ich. »Ich wollte noch etwas für den Kurs erledigen, bevor er anfängt, darum bin ich früher gegangen.«
Sie nickte verständnisvoll. »Mit dem Jungen, mit dem du gelaufen bist?«
»Ja, genau. Das ist ...«, sagte ich, aber stoppte, als ich merkte, dass Hicks gar nicht neben mir stand. Ich blinzelte ein paar Mal verwirrt. Seit wann war er weg?
Betty lachte leise. »Er ist schnurstracks weitergelaufen, als wir stehen geblieben sind. Hat mich nicht einmal angesehen.«
Ich rollte mit den Augen. »So ist er. Dass er mit mir redet, ist ein Wunder.« Sie lachte nochmal. »War schön dich zu sehen, Betty. Ich muss meinen Projektpartner einholen.«
Sie lief an mir vorbei, als ich mich zum Erdkunderaum aufmachte, der nicht mehr weit entfernt war. Die Wandfarbe änderte sich von gelb zu grün, nachdem ich die Ecke umrundet hatte. Poster zierten die freien Wandstücke zwischen den Spinden und erzählten vom Klimawandel, Zusammenhalt und wie wir unseren Plastikverbrauch senken konnten. Erst da bemerkte ich, dass ich Betty unfreiwillig vom Projekt und meinem Partner erzählt hatte. Jetzt würde die Gerüchteküche anfangen zu brodeln, die Cheerleader waren schlimm, wenn es um Gossip ging. Was sie herausfanden, wusste am nächsten Tag jeder. Hicks würde bei der Aufmerksamkeit durchdrehen und ich müsste meinen Plan umkrempeln. Ich hätte mich selbst gerne geohrfeigt für meine Achtlosigkeit, aber jetzt war es zu spät und ich konnte nur hoffen, dass es nicht allzu sehr ausarten würde.
Er saß auf seinem gewohnten Sitzplatz ganz hinten im Raum. Sein Blick wanderte an mir hoch, als ich an seinem Tisch stehen blieb. »Hast du mich gerade ernsthaft im Flur stehen lassen?«
Seine Miene verriet keinerlei Emotionen. »Ich wollte euer Gespräch nicht stören.«
»Klar, das war der Grund.« Wir sahen einander mit hochgezogenen Augenbrauen an, bis ich schließlich nachgab und schnaubte. »Und das alles, nachdem ich gesagt habe, dass du zu höflich dafür bist. Unglaublich.«
Ich ging zu meinem Stuhl und kramte meine Sachen heraus, die ich ordentlich auf den Tisch legte. Hicks sagte nichts mehr, aber ich konnte hören, wie auch er etwas aus seinem Rucksack holte. Für einige Minuten war es so leise, dass ich nur das Kratzen seines Stiftes über Papier hören konnte.
Die Wahrheit, weshalb ich früher aus der Cafeteria gegangen war, ist, dass ich gehofft hatte, auf ihn zu treffen. Ich hatte nicht erwartet, dass es so ablaufen würde. Am Anfang war es sogar in Ordnung, er hat mich zwar nicht viel angesehen, jedoch mit mir geredet und meine Anwesenheit wahrgenommen. Das war ein guter Schritt vorwärts gewesen, um sein Vertrauen zu gewinnen. Als Betty dann kam, sind wir drei Schritte rückwärts gelaufen.
Er mochte es wirklich nicht mit mir zusammen gesehen zu werden. Obwohl ich eher glaubte, dass er generell nicht von anderen gesehen werden wollte und es nicht an mir lag. Das hatte er auch an der Bushaltestelle gesagt. Dabei war Betty eine ganz liebe, die ehrenamtlich im Tierheim arbeitete und mit hunderten Pins an ihrem Rucksack herumlief, die zeigten, was sie liebte und unterstütze. Das konnte Hicks zwar nicht wissen, weil er sie nicht kannte, aber wie sollte er es herausfinden, wenn er bei jedem Anzeichen von sozialem Kontakt davonrannte?
Ich seufzte in mich hinein. Rotzbakke hatte recht, er würde nicht leicht zu knacken sein. An meinen Plan glaubte ich trotzdem noch, so anstrengend er auch langsam war, aber ich versuchte mein Bestes. Hicks musste nur sehen, dass ich vertrauenswürdig war und keine bösen Absichten hegte. Zumindest in seinem Wissen. Wenn der Deal endete, würde er wahrscheinlich sogar glücklich darüber sein, dass es nichts Ernstes war, weil er dann wieder sein altbekanntes Alleingänger Dasein zurückhätte. Das hier konnte nur eine win-win Situation werden.
Ich drehte mich auf meinem Stuhl zu ihm nach hinten um und legte mein Kinn auf meine Handfläche. Hicks ließ sich mal wieder nicht anmerken, dass er es bemerkte. Ich konnte seine Hand kurz zögern sehen, wonach er unbeirrt weiterzeichnete.
»Was machst du da?«, fragte ich. In Gedanken rollte er bestimmt mit den Augen, weil er es für eine dumme Frage hielt. Es war offensichtlich, was er tat, nur musste ich mit irgendetwas anfangen, sonst würden wir uns weiterhin ignorieren und das war kontraproduktiv für meinen Plan.
»Zeichnen«, war seine knappe Antwort. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet.
»Was zeichnest du?«
»Etwas.«
»Etwas was?«
Er stoppte und hob seinen Kopf. Seine Miene war ein Misch aus Verwirrung und Vorsicht, mit seinen zusammengezogenen Augenbrauen und verengten Lidern. »Wieso interessiert dich das?«
»Weil mir langweilig ist und du sonst nicht mit mir sprichst.« Das war nicht einmal gelogen, ich ließ nur einen Teil aus, von dem er noch nichts wissen musste.
»Ich dachte, du bist sauer auf mich.«
Ich senkte meine Hand, um damit gestikulieren zu können. »Wieso denkst du, ich wäre sauer auf dich?«
»Wegen gerade.«
Nun war ich es, die verwirrt dreinschaute. »Das hat mich nicht sauer gemacht. Ich habe es nur nicht erwartet.«
Er sah mich eindringlich an. »Wieso nicht? Ich habe dir in jedem unserer bisherigen Gespräche gesagt, dass ich nicht auffallen möchte in der Schule. Dazu gehört mit anderen Schülern zu sprechen.«
Guter Punkt. »Stimmt schon. Ich hatte es nur nicht kommen sehen, dass du wortwörtlich vor ihnen davonläufst.«
Er zuckte mit den Schultern und schaute wieder auf seinen Block. »So mache ich es seit drei Jahren und es funktioniert.«
Also seit Beginn der High School. Hieß das, er war davor anders? Hatte er vielleicht sogar mal Freunde gehabt? Das konnte ich mir schwer vorstellen, so verschlossen und wenig redegewandt wie er war. Vielleicht hatten ihn auch alle in der Middle School von selbst in Ruhe gelassen, weshalb er erst in der High School davonlaufen musste. Teenager waren immerhin bekanntlich schlimmer.
Die Schulglocke läutete und unterbrach somit unsere Stille, in der mal wieder nur sein Stift zu hören gewesen war. In fünf Minuten würde der Unterricht beginnen und jeden Moment kamen unsere Mitschüler in den Raum geschlendert. Hicks könnte mir wahrscheinlich sagen, wer wann ankommen würde ohne aufzublicken.
Einen letzten kleinen Versuch wagte ich noch. »Du wirst mich die gesamte Stunde ignorieren, außer wir müssen etwas zusammen machen, oder?«
Er nickte als Antwort. Seine Redezeit hatte sich wohl dem Ende zugeneigt.
»Okay«, sagte ich zum Abschluss und drehte mich nach vorne.
Mit einem Ja hatte ich gerechnet. Es würde sicherlich wie in Biologie am Freitag ablaufen, wenn ich versuchen würde, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Daher beschloss ich, es gar nicht erst zu versuchen. Es war noch nicht die Zeit dafür, zuerst musste ich sein Vertrauen gewinnen und es schaffen, dass er sich ein wenig mehr öffnete. Berührungen und liebe Worte werden bei ihm nichts bringen, ich musste mir etwas anderes überlegen.
Daran dachte ich, bis unsere Mitschüler den Raum langsam füllten und Heidrun und Raffnuss sich zu meinen beiden Seiten niederließen, Eret und Rotzbakke am Tisch vor uns. Ich erzählte ihnen eine Kurzfassung von dem, was passiert war, woraufhin Raffnuss die Augen rollte, Eret leise lachte und Rotzbakke mich mit einem Blick ansah, der besagte Ich habe es dir ja gesagt.
Dann kam Ms. Donna herein und brachte uns alle zum Schweigen. »Guten Tag euch allen.«
»Guten Tag, Ms. Donna«, sagten wir zusammen.
Sie legte ihre Sachen auf dem Pult ab, setzte sich und holte ihren Notizzettel von letzter Woche hervor. »Fangen wir mit den Länderverteilungen an, damit wir das vom Tisch haben. Somit habe ich auch gleichzeitig eure Anwesenheit geprüft.« Sie sah einmal zwischen Hicks und mir hin und her. »Astrid, Hicks, ihr seid die ersten auf meiner Liste. Welches Land habt ihr euch ausgesucht?«
»Frankreich«, antwortete ich, weil ich wusste, dass Hicks es nicht tun würde. Mit einem kurzen Blick nach hinten, bestätigte ich meine Vermutung. Er war immer noch am zeichnen und schien nicht aufzupassen.
Ms. Donna schrieb es neben unsere Namen. »Schöne Wahl. Als nächstes haben wir Sully und Kathy.«
Heidrun und Stacy bekamen ihr geliebtes Japan, Raffnuss und Taffnuss Norwegen und Rotzbakke und Eret die Niederlande. Es gab ein paar Meinungsverschiedenheiten über Südkorea und Italien, die Ms. Donna schnell klären konnte, sodass alle zufrieden waren. Nach einer Viertelstunde war sie mit der Verteilung fertig und legte ihren Zettel nieder.
»Kommen wir nun zu eurer genauen Aufgabenstellung«, sagte sie. »Über die Länder, die ihr euch ausgesucht habt, sollt ihr die wichtigsten Informationen raussuchen. Schreibt euch das jetzt auf, ich wiederhole mich nicht, wie ihr wisst.« Sie pausierte kurz, damit wir einen Zettel und Stift hervorkramen konnten. »Dazu zählt die Landesflagge, Einwohnerzahl, Flächengröße in Quadratkilometer, das Datum der Gründung und wie es dazu kam, das politische System und dessen derzeitiges Oberhaupt, sei es ein Präsident, König, Kaiser, was auch immer. Historische Ereignisse, die das Land und die Bevölkerung besonders geprägt haben. Die Kultur, Musik, spezielles Essen, Trinken und Kleidung, Traditionen, berühmte Personen, wichtige Erfindungen. Fällt mir noch etwas ein?« Ms. Donna pausierte erneut, während wir die letzten Punkte aufschrieben, die sie aufgezählt hatte. Meiner Meinung nach musste sie nicht noch mehr hinzufügen, denn das war bereits genug. Allein für die historischen Ereignisse würden wir einiges an Platz brauchen.
»Ich denke, das ist alles«, verkündete sie dann, wonach man einige erleichtert ausatmen hörte. »Es gibt aber noch einen Punkt, den ich mit euch besprechen muss.« Die Anspannung lag sofort wieder in der Luft. War das doch noch nicht alles? Gab es bestimmte Richtlinien?
»Seit letzter Woche«, fing sie an, »gibt es eine kleine Veränderung mit der Organisation. Der Schulrat hat beschlossen, dass diese Länderprojekte eure Abschlussarbeit in diesem Kurs sein werden und wie eine Klausur gewertet werden.« Einige Köpfe schnellten hoch, manche fingen an mit ihren Partnern zu flüstern. Ich wagte einen kurzen Blick nach hinten. Mittlerweile waren Hicks' Augen auf Ms. Donna gerichtet. Gut, er sollte das hier bloß nicht wegen seiner Zurückhaltung verhauen.
»Okay, okay. Bitte, Ruhe. Also, die Note von euren Projekten wäre so oder so in eure Endnote eingeflossen, da diese einen großen Umfang haben und viel Zeit beanspruchen werden. Es ändert sich diesbezüglich nichts, nur, dass ihr nicht noch zusätzlich einen Test schreiben müsst. Deswegen habe ich euch gerade so viele Punkte genannt, zu denen ihr etwas herausfinden solltet. Wenn ihr zu allem davon etwas in eurem Projekt integriert, habt ihr auf jeden Fall eine eins. Das werdet ihr bestimmt bis Ende des Schuljahres hinbekommen.« Sie sah uns einmal der Reihe nach an. Als nichts von unserer Seite kam, fuhr sie fort.
»Der Schulrat hat zudem entschieden, dass eure Präsentationen zusammen mit der Wissenschaftsmesse in der Turnhalle und dem Forum aufgestellt werden sollen.« Erneutes Gemurmel von einigen Schülern, aber als Ms. Donna ihre Hand hob, erstarb es. »Ich werde euch früh genug eine ungefähre Uhrzeit geben, wann ich an eurem Tisch sein werde, damit ihr die Messe mit euren Freunden oder Eltern oder wem auch immer genießen könnt. Eure Bewertung bekommt ihr direkt nach eurer Präsentation. Gibt es noch irgendwelche Fragen oder Unklarheiten?«
Matt hob seine Hand, Ms. Donna nickte ihm zu. »Die Art der Präsentation ist uns frei überlassen, richtig?«
»Genau. Ihr könnt eine Powerpoint erstellen, ein riesiges Plakat zusammenkleben, von mir aus könnt ihr ein Theaterspiel daraus machen. So lange ihr die Informationen bereitstellt, die ich hören will, bin ich zufrieden. Noch weitere Fragen?« Keiner antwortete, ein paar schüttelten den Kopf. »Gut, dann können wir mit dem eigentlichen Unterricht beginnen.«
Während Ms. Donna die Tafel vorbereitete, schaute ich ein weiteres Mal zu Hicks, um einen Einblick zu bekommen, was er von all dem hielt. Den bekam ich aber nicht, da er erneut auf seinem Block zeichnete und nicht einmal in der gesamten Stunde hochsah. Als ich am Ende zu seinem Tisch gehen wollte, um mit ihm zu besprechen, wie es weiterging, war er bereits verschwunden.
———
Astrid wird zu Beginn dieser Geschichte ein wenig arschig sein, wie man in diesem Kapitel gemerkt hat, aber keine Sorge, das wird sich im Verlauf ändern :)
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