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-39- ➳ Die Abendveranstaltung

Am liebsten würde ich einfach schlafen und nie wieder aufwachen. Doch beides war nicht möglich.

An Schlaf war auch die restliche Nacht nicht zu denken und meine wenigen Dämmerzustände wurden nie mit der unendlichen Ruhe gesegnet, sondern mit der Gewissheit, dass heute Abend sehr viel schief gehen könnte, zerstört.

Ich war bereits wach, als ich hörte, wie Mum aufstand, ihren Kopf vorsichtig in unser Zimmer steckte und überrascht die Augenbrauen hochzog, als sie sah, dass ich nicht schlief.

Sie fragte mich, warum ich nicht schlafen konnte und als ich nur die Abendveranstaltung erwähnte, versuchte sie mich damit zu beruhigen, dass es heute ein ganz normaler Arbeitstag werden würde und ich mir deswegen keine Gedanken machen sollte.

Als sie dies sagte, hätte ich vor Qual aufschreien können. Weder war dieser Tag ganz normal, noch könnte ich mir keine Sorgen machen. Doch ich nickte nur und bejahte, auf ihre Frage, ob ich heute Mittag für das Essen sorgen könnte.

Dies tat ich dann schließlich auch.
Ich musste erst gegen 15 Uhr bei Margarete erscheinen, sodass ich den Vormittag damit verbringen konnte auf dem Markt zu Rina und Pietro zu besuchen und günstig einen kleinen Sack Reis ergattern konnte.

Danach war ich damit beschäftigt diesen so zu kochen, dass er einigermaßen genießbar war und nicht so trocken wurde, dass man davon einen Hustanfall bekam.
Mein Schicksal meinte es wohl gut mit mir, denn weder Clovy noch Sam beschwerten sich und aßen brav alles bis auf das letzte Körnchen auf.

Danach war es bereits Zeit für mich, mich fertig zu machen.
Aber erst als ich in unserer kleinen Wanne kniete und meine Haare ausnahmsweise mit dem guten Shampoo behandelte, wurde mir klar, was mich gleich erwarten würde.

Prunk und Luxus.
Hoch angesehene Leute.
Niall und seine Aufgabe.

Es würde die reinste Folter für meine Nerven werden, ich durfte mir bloß keinen einzigen Fehler erlauben, sonst wäre wirklich alles, wofür ich jemals geschuftet habe, weg.

Seufzend stand ich langsam auf, nachdem ich meine Haare ausgespült hatte, und trocknete mich ab. Als ich dann in meine Anziehsachen schlüpfte und mein Flanellhemd zuknüpfte, zitterten meine Hände. Ich versuchte mich zu konzentrieren und wieder die Kontrolle über meinen Körper zu bekommen.
Plötzlich klopfte es gegen die Tür und erschrocken zuckte ich zusammen.
Ich war ein einziges nervliches Wrack.
„Ja?" krächzte ich.
„Du musst dich beeilen, Sophia. Hast du nicht gesagt, dass du um 15 Uhr da sein musst? Das ist in einer halben Stunde..."

Sam entfernte sich wieder von der Tür und mein Blick huschte zu dem fast blinden Spiegel, der über unserer Wange hing. Meine Haare hingen mir in nassen Strähnen bis auf meine Brust, drückten sich platt gegen meine Wangen und ließen meine Haut durch den dunklen braun Ton nur noch blasser erscheinen. Ich hatte tiefschwarze Augenringe und meine Lippen waren fast schon blau. Ich sah wie eine Leiche aus.
Stöhnend rubbelte ich mir meine Haare mit einem Handtuch soweit es ging trocken und band sie mir dann locker im Nacken zusammen. Mit einem letzten Blick in mein geisterhaftes Gesicht schlüpfte ich durch die Badezimmertür und suchte meine restlichen Sachen zusammen. Ich musste wohl oder übel darauf hoffen, dass Leo sich auch noch dazu bereit erklären ließ, mein Makeup zu übernehmen...

Zwar war ich schon mehr als spät dran, als ich schließlich in meine Stiefel schlüpfte und meine Jacke vom Nagel nahm, doch ich konnte nicht aus unserer kleinen Wohnung verschwinden, ohne mich vorher von meinen kleinen Geschwistern zu verabschieden.
Ich fand die beiden auf dem Bett liegend vor. Sam war gerade dabei, Clovy eine Geschichte zu erzählen und für einen kurzen Moment stand ich nur im Türrahmen und lauschte den beiden.

„Es war ein großes Haus..."
„So groß wie unsere Wohnung?" unterbrach Clovy ihn und für einen kurzen Moment schien mein Bruder zu überlegen, bevor er meinte: „Nein, sogar noch viel größer... Und dort lebte eine Prinzessin, sie hatte ein ganzes Zimmer voller Puppen, aber leider keinen zum Spielen. Sie war ganz allein-"

„Ganz allein?" quiekte Clovy überrascht auf und in diesem Moment konnte ich mir ein trauriges Lächeln nicht verkneifen. Wie schön und einfach diese Welt doch aus den Augen einer Fünfjährigen zu sein schien....

Als ich mein Gewicht verlagerte, stieß ich gegen den Türrahmen und zog somit die Aufmerksamkeit meiner Geschwister auf mich.

„Ich muss los." Sagte ich nur und versuchte zu lächeln.
Sam legte leicht den Kopf schief, lächelte mir aber ermutigend zu.
„Dann geh doch."
„Aber nicht ohne eine Verabschiedung." Antwortete ich und überwand diese zwei Schritte. Meine Beine waren wackelig und mein Atem ging fiel zu schnell. Als ich meine beiden kleinen Geschwister schließlich in eine Umarmung zog, hatte ich das Gefühl, dass ich nur nach einen Halt gesucht hatte.
Ich drückte mein Gesicht in die weichen Locken meiner kleinen Schwester, küsste sie auf den Scheitel und flüsterte ihr dann ins Ohr: „Ich liebe dich, Clovy."
Für einen kurzen Moment ließ ich es zu, dass ich meine Augen schloss und einfach nur diesen Moment genoss. Den Geruch nach Heimat und Familie roch und die Ärmchen, die sich um mich schlagen, spürte.
Für diesen Moment ließ ich mich fallen.

„Doch warum fühlt sich das alles so nach ein Abschied an, Soph?" flüsterte mir plötzlich Sam ins Ohr. Einmal strich ich über seine Haare und flüsterte genauso leise zurück: „Es wird keiner sein... Du weißt, dass du hier bleiben musst, ja? Pass auf Clovy auf... Und auf Mum."
Ich spürte wie er nickte und gerade, als ich mich dazu überwunden hatte, mich von ihnen zu lösen, zog Sam mich nochmal so eng an sich, dass ich sein Herz schlagen hören konnte.
„Mach dir keine Sorgen. Es ist Niall... Er schafft alles. Bis nachher..."

Nickend löste ich mich und stand langsam auf. Clovy sah mich nur einmal kurz mit ihren großen Augen an, bevor sie sich wieder abwartend zu Sam umdrehte, damit er mit der Geschichte fortfahren konnte.

„Bis nachher." Antworte ich mit einem traurigen Lächeln und ging rückwärts aus dem Raum.
Bevor ich die Tür unserer Wohnung hinter mir ran zog, hörte ich noch, wie Sam weiter die Geschichte erzählte: „Und deswegen beschloss die Prinzessin ihr riesiges Haus zu erkunden, um vielleicht einen Spielpartner zu finden und-"

Dann stand ich im Korridor, starrte auf unsere Wohnungstür und als ich mich dann zitternd auf den Weg zu den Fahrstühlen machte, flüsterte ich immer wieder als eine Art Mantra Sams letzten Worte vor mir her: „Bis später. Bis später. Bis später..."

Ich bildete mir ein, dass es nur stimmen könnte, wenn ich es oft genug sagen würde.
So musste es einfach sein.
„Bis später." flüsterte ich, als sich die Fahrstuhltüren schlossen und sich der Lift ruckelnd auf den Weg in meinen persönlichen Untergang machte.
„Bis später..."

Der Weg nach oben kam mir deutlich kürzer vor als sonst. Leo stieg nicht beim Sektor 12c hinzu. Dies war nur eine weitere Bestätigung, dass ich mehr als spät dran war.

Ich hatte meine Schwierigkeiten mich durch den ganzen Trubel zur Küche durchzuschlagen, wo Margarete schon mit ihren Nerven am Ende war.
„Sophia, da bist du ja endlich!" Sie schmiss mir eine Schürze zu und wollte sich gerade wieder umdrehen, als sie mich näher betrachtete. „Wie siehst du denn aus? Sorge dafür, dass du nachher passabel aussiehst! Justice benötigt Hilfe beim Brotschneiden!"

Ich nickte nur, band mir die Schürze um und versuchte unbeschadet zu der Theke zu gelangen, da die Küche rappelvoll war und ich das Gefühl hatte, jedem im Weg zu stehen.
Justice schien nicht gerade begeistert davon zu sein, dass ich ihr helfen sollte. Wobei dies wohl eher auf Gegenseitigkeit beruhte.
„Die Scheiben müssen zehn Zentimeter dick, leicht schief, aber sauber geschnitten sein. Wehe du machst etwas falsch, sonst muss ich es ausbaden, du Lieblingsangestelle." Zischte sie mir zu und in Gedanken stolperte ich über ihre letzte Bemerkung.
Lieblingsangestellte?
Meinte sie damit, weil Liam mich sooft zu sich gerufen hatte?
Ich schluckte, versuchte sie aber zu ignorieren und nahm mir das erste, Baguette förmige Brot.

Doch Justice schien noch nicht fertig zu sein: „Wie hast du es überhaupt geschafft, den ganzen Abend dabei zu sein? Etwa ein Bett aufgewärmt? Zumindest siehst du nicht so aus, als hättest du viel Schlaf bekommen..."

Ich biss meine Zähne zusammen und versuchte nicht die Wut die Überhand übernehmen zu lassen. Stattdessen konzentrierte ich mich nur auf das Brot und auf das Messer in meiner Hand. Sie hatte doch keine Ahnung.
Weder von meinem Leben, meinen Absichten und alles, wofür ich mich tagtäglich aufopferte.
Sie lebte in irgendeinen mittleren Sektor, hatte zu jeder Tageszeit genügend Essen, Wasser und Strom, Familienbilder im Flur hängen und hatte diese Ausbildung allein nur aus dem Grund, damit sie sagen konnte, dass sie auf eigenen Beinen stehen würde.

„Ich werde es herausfinden, Sophia, denn irgendwann wirst du-"
Sie wurde durch Clara unterbrochen, die gerade, drei riesige Tabletts mit kleinen Leckereien, auf ihren Händen und Armen balancierte: „Ich unterbreche euch nur ungerne, aber Margarete will, dass einer von euch mir hilft. Daria ist schon wieder abgesprungen und uns fehlt somit eine Besatzung."

Sofort nahm ich ihr ein Tablett ab und meinte, bevor Justice überhaupt ihren Mund aufmachen konnte: „Ich kann dir helfen. Justice kommt sicherlich alleine mit dem Brot zurecht."

Ich konnte sehen, wie sich ihre Miene verdunkelte und ihre Lippen sich zu einem Strich zusammenpressten, doch sie versuchte ihren Verdruss nicht anmerken zu lassen, indem sie ihren perfekt gelockten Zopf nach hinten warf und nach dem nächsten Brot griff.
Jedoch drückte sie mit dem Messer so verbissen gegen das noch warme Brot, dass es eindrückte.
Ein schadenfrohes Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, als ich schließlich Clara in den Kühlraum folgte. Sie zeigte mir, wo ich das Tablett abstellen konnte, hielt dann aber verdutzt inne. „Warum hast du das Messer mitgenommen?"

Vollkommen verwirrt starrte ich auf meine Hand – und tatsächlich, ich hielt noch das Brotmesser in meiner Hand.
„Ich habe es wohl gedankenverloren festgehalten..." meinte ich langsam und schüttelte meinen Kopf.
Clara hingegen war schon mit den Gedanken wieder ganz woanders. „Okay, dann lege es einfach gleich zurück. Würdest du bitte schon einmal die Champagnerflaschen heraus suchen? Es ist noch zu früh, sie zu öffnen, die Gäste kommen erst in zwei Stunden, aber wir können sie ja zumindest vorbereiten und die Tücher um den Flaschenhals binden..."

Ich nickte, während Clara mir zeigte, welche Flaschen es waren. „Ich gehe eben schnell in den Bankettsaal und schaue, ob dort alles soweit fertig ist..."

Und schon war sie verschwunden.
Und ich stand alleine im Kühlungsraum, vor mir waren über vierzig Champagnerflaschen, die darauf warteten, in Reih und Glied aufgestellt zu werden und in meiner Hand hielt ich ein Brotmesser mit der Länge eines Unterarms.

Ehe ich mich versah, hatte ich mir ein feines Tuch, das eigentlich für den Champagner bestimmt war, geschnappt, es um die scharfe Klinge gewunden und es zusammen in die Tasche meiner Schürze gesteckt.

Nachdem ich eine Stunde lang die Champagner, Sekte und Wasserflaschen auf Hochglanz poliert und vorbereitet hatte, damit man sie je nach Bedarf nur schnell herausholen musste, kam Margarete zu mir.
„Sophia, geh in den Waschraum, in einer halben Stunde wird der Empfang so langsam losgehen..." Ich nickte und versuchte so schnell es ging an ihr vorbei zu huschen, aber als sie nach meinen Arm griff, schlug mir mein Herz bis zum Hals.
Was würde passieren, wenn sie das Messer in meiner Schürzentasche finden würde?
Warum war ich überhaupt so doof gewesen und hatte es eingesteckt?

Doch sie bemerkte es nicht, sondern sagte nur: „Leore hat bereits gesagt, dass sie dir helfen wird. Sie wird da sein... Und nun Beeilung, die hohe Gesellschaft wartet nicht gerne..." Nickend machte ich mich auf den Weg.

„Du siehst aus, als hättest du die Nacht zum Tag gemacht, Sophia." War das erste, was ich von Leo zu hören bekam. „Vielen Dank für deine reizende Bemerkung." Merkte ich an, als ich mich von ihr in eine Umarmung ziehen ließ.
„Ach, ich könnte es auch anders ausdrücken... wie wär's mit lebendige Leiche? Aber ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen..."

Stöhnend ließ ich mich auf die Sitzbank fallen, lehnte meinen Kopf gegen die Wand und schloss meine Augen. Ich war total erledigt, selbst meine Beine zitterten nun, wobei dies zum Teil von der Anstrengung kam.

„Kannst du etwas dagegen machen, Leo?"

„Wenn nicht, würde ich sonst Leo sein?" stellte sie die Gegenfrage und sofort schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht.
„Nun richte dich mal gerade auf, als erstes will ich mich um deine armen schönen Haare kümmern, die du jedes Mal wirklich jedes Mals als Vogelnest misshandelst. Wie bekommst du das eigentlich hin?"

„Hatten wir gerade noch über die Ausdrucksweise geredet?" fragte ich und versuchte das Ziepen zu ignorieren, als sie mir gnadenlos die Haare durchkämmte.

„Ja, aber ich habe es doch noch schön verpackt. Ich könnte natürlich auch sagen, dass es wie-"

„Nein, schon okay. Ich hab's verstanden." Unterbrach ich sie und schloss wieder meine Augen. So wie vorhin mit meinen Geschwistern, versuchte ich auch nun diesen Moment mit Leo zu genießen. Und ich merkte nach und nach, dass ich mich etwas entspannte, je länger sie an meinem Haar herumfummelte. Als sie sich schließlich um mein Gesicht kümmerte und ich das Gefühl hatte, unter diesen tausend Tonnen Schminke keine Luft mehr zu bekommen, dämmerte ich so langsam weg.

„Hey, nicht einschlafen." Meinte Leo jedoch nach einer Weile und stupste mich an. „Du bist fertig, musst nur noch das neue Kleid anziehen..."
Sofort öffnete ich meine Augen und starrte in das lächelnde Gesicht von Leo. „Willst du sehen, wie du wieder als lebendige Person aussiehst?" Sie zwinkerte mir zu und leicht grinsend nickte ich. Dann stand ich auf und ging zum Spiegel.
Leo hatte echte Wunder vollbracht.

„Oh wow, Leo!" stieß ich aus und fasste mir vorsichtig mit den Fingern an mein Gesicht.
Meine Haare hatte sie in meine natürliche wellige Form gelassen und nur die vordere Partie nach hinten weggesteckt, sodass mir die Haarsträhnen nicht immer ins Gesicht fielen.
Es war simpel, aber gleichermaßen schön. Genauso wie die Veränderung in meinem Gesicht. Durch die hellen Töne und mehreren Schichten Makeup wurden meine Augenringe in die Flucht geschlagen und meine Augen zum Leuchten gebracht. Selbst meine Wangen sahen rosiger aus.

„Ich hatte überlegt, dass ich dir eine einfache, aber schöne Frisur mache, die auch wirklich den ganzen Abend hält. Und da wir mit einem Dutt nicht ganz so gute Erfahrungen gemacht haben..." merkte Leo an und lächelte mich durch den Spiegel an.

„Du hast es perfekt gemacht." Ich fiel ihr um den Hals und murmelte ein Dankschön. Und wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich diese Stütze in meinem Leben brauchte. Ohne Leo hätte ich es hier keinen Tag lang ausgehalten.

Ein letztes Mal drückten wir uns, bevor Leo mich leicht von sich wegschob und meinte: „Nun komm schon, es ist nichts Besonderes, aber dennoch will ich nicht noch einmal diese Horror-Halbmonde unter deinen Augen überschminken müssen, nur weil du sie verschmiert hast. Dein Kleid liegt übrigens im Fach..."

Und dann war alles wie verschwommen, verwischt.
Ich wusste nicht mehr, was ich danach gemacht hatte, wie ich zu Margarete kam, wie ich plötzlich das silberne filigrane Tablet mit den Sektgläsern in der Hand hielt und neben Leo in der Eingangshalle stand.
Ich blinzelte und plötzlich war ich einfach wieder da. Mir wurde wieder bewusst wo ich war, was gleich passieren würde und automatisch fingen meine Hände an zu zittern.

„Okay, Mädels, die ersten Gäste werden gleich eintreffen, stellt euch in Reih und Glied an die Seite. Vergesst nicht: Keinen Blickkontakt, einfach nett und höflich den Sekt verteilen. Nicht starren!" Margarete ging an jedem von uns vorbei, doch ich konnte keinen Ton der Bestätigung hervorbringen. Viel mehr war ich damit beschäftigt, das Zittern unter Kontrolle zu behalten, bevor mir noch die Gläser herunter fielen.

„Mach dir keinen Kopf, Sophia." Flüsterte Leo neben mir. „Schau einfach in den Spiegel, konzentriere dich auf uns und dann wird alles einfacher."

Wie von selbst glitt mein Blick zu der verglasten Wand gegenüber von uns und leise zog ich die Luft ein. Leo hatte Recht. Wir sahen alle ungewöhnlich schön in den neuen Kleidern aus. Selbst mein Körper sah nicht mehr so dürr aus und die Frisur saß immer noch so perfekt wie vorhin. Ich erkannte Leo im Spiegelbild. Sie hatte die gleiche Frisur wie ich und auf ihren Lippen trug sie ein leichtes Lächeln. Sie stand kerzengerade, wirkte aber dennoch nicht dominant.
Sie wäre die perfekte Angestellte.
Leicht schluckte ich und bevor ich meinen Blick wieder abwenden konnte, kam eins nach dem anderen.
Die Musik, die bereits die ganze Zeit im Hintergrund gelaufen war, wurde etwas lauter aufgedreht und plötzlich stand er einfach dort.
Liam betrat zusammen mit seinem Vater die Eingangshalle und sofort veränderte sich die Atmosphäre. Auf einmal schien alles voller Elektrizität.
Ich kannte Marcus Payne bereits aus den Nachrichten, doch ich sah ihn zum ersten Mal im echten Leben, nur wenige Meter von mir entfernt. Doch genauso wenige Meter von ihm entfernt, stand ein schwarz gekleideter Wächter, der alles mit Adlersaugen zu beobachten schien und sofort bekam ich einen trockenen Hals. Ich dachte an das Brotmesser, das ich mir in den Bund meiner hautfarbene Strumpfhose geschoben hatte, als Leo für einen kurzen Moment auf die Toilette verschwunden war. Besonders jetzt drückte es mir unangenehm kühl gegen mein Bein und ich fragte mich, ob der Wächter mir meinen Verrat an der Nasenspitze ablesen konnte.
Dennoch konnte ich es mir nicht nehmen lassen, noch einen kurzen Blick auf Marcus Payne und Liam zu werfen.
Marcus wirkte genauso gestriegelt wie in den Nachrichten. Sein Gesicht war emotionslos und auf der Stelle wusste ich, von wem Liam diese Gefühlsmauer geerbt hatte.
Als mein Blick weiter nach rechts wanderte, traf er auf den von Liam. Ein Grinsen erschien auf seinen Lippen, als er mir zuzwinkerte, sich dann aber an seinen Vater wendete.
Ertappt wurden meine Wangen leicht rot.

Bevor ich noch einen weiteren Blick wagen konnte, wurden die riesigen Eingangstüren von Wächtern aufgeschlossen und sofort ging alles in einen Trubel und Wirrwarr über.
Als ich all die hohen Gäste, die von der Gästeliste gestrichen wurden, sah, wurde mir schwindelig.

„Showtime, würde ich mal sagen." Flüsterte Leo mir ein letztes Mal hinzu, bevor wir auch schon leicht lächelnd den Sekt verteilten, mehrmals in die Küche zurückhuschen und Nachschub holen mussten.
Doch eine Regel von Margarete konnte ich nicht einhalten.
Denn ich konnte es nicht verhindern, dass ich die Gäste anstarrte.
Einige Persönlichkeiten waren unter ihnen, die ich bereits aus den Nachrichten kannte. Manche Namen fielen mir auf der Stelle ein, manche jedoch waren tief in meinem Kopf vergraben. Eleanor würde hier oben bei all den Stars sterben.
Aber auch ich bekam einen halben Herzkollaps, als mir plötzlich Lucinda Reymond gegenüber stand, das Supermodel aller Skyscrapers schlecht hin, bevor Danielle ihr nun so langsam den Thron streitig machte.
Sie jedoch schien mich nicht einmal zu bemerken, griff einfach nach einen Glas und verzog ihre rot angemalten Lippen zu einem Lachen, als sie mit Liam weiter redete. Ihre Haare fielen ihr in blonden Wellen bis über die Schultern und das rote Kleid sah ziemlich gewagt aus.
Mehrmals blinzelte ich, denn ich konnte es immer noch nicht glauben, auch solchen Superstars gegenüber zu stehen, da ich heute nur mit langweiligen Politikern und deren Begleitungen gerechnet hatte.

„Ich denke, Sie haben einen kleinen Fan, Lucinda. Wollen wir woanders hingehen?"
Zwar war die Lautstärke bei der Menschenanzahl verdammt laut, aber dennoch vernahm ich Liams Stimme, der sich vorgebeugt hatte, um mit ihr zu sprechen. Dann trafen seine Augen wieder auf meine und amüsiert blinzelte er mir zu.

Schnell, bevor Lucinda sich zu mir umdrehen konnte, verschwand ich wieder in die Küche. Meine Wangen waren rot angelaufen und mir war schwindelig.
Was fiel ihm bloß ein?
Warum wollte er mich jetzt schon bloß stellen, wenn er mich erst hier zu eingestellt hatte?

„Tun dir etwa schon deine Beine weh, Sophia?" unterbrach Margarete meine Gedankengänge, als sie mich an der Theke lehnend sah. Erschrocken sprang ich wieder in die aufrechte Haltung zurück und schüttelte meinen Kopf. „Nein, aber..."

„Nichts aber. Hopp, hopp! Du hast doch noch Sekt! Der Empfang wird noch lange genug dauern, es ist erst halb acht!"

Ich nickte, aber als ich mich wieder durch die Menschen wandte, Liam und Lucinda dabei geflissentlich aus dem Weg ging und meinen Sekt verteilte, spukten mir Margaretes Worte immer noch im Kopf umher. Und erst als ich bereits zum fritten Mal Sekt und Champagner nachfüllte, wurde mir klar warum.

Und mein Herz rutschte mir in die nicht vorhandene Hose. Direkt neben das Brotmesser.

Denn es war bereits nach halb acht.
19:30 Uhr.
Niall hatte gesagt, dass genau zu diesem Zeitpunkt der Empfang in den Saal verlegt werden würde.
Doch hier schien keiner in der Stimmung zu sein, sich und sein Glas Sekt oder Champagner zu bewegen.

Ich suchte mir zum vierten und zum fünften Mal einen Weg durch die Reihen der Politiker und Stars, versuchte das Strahlen des Schmuckes und der der Kleider und Anzüge auszublenden.
Doch der Zeiger der Uhr in der Küche wanderte immer weiter zu der acht.
Bis sie diese überschritten hatte.

Mein Kopf brummte und an liebsten würde ich schreiend und weinend zu gleich das Tablett auf den Boden werfen, als ich bereits zum zehnten Mal die Gläser verteilte. Teilweise bekam ich Gesprächsfetzen mit, auch war ich einmal so dicht an Marcus Payne dran, dass ich ihn hören konnte, wie er sagte, dass seine Frau erst zum Essen erscheinen würde, da sie große Auftritte liebte.

Auch die Wächter, die im Hintergrund alles beobachteten, jagten mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken und nun konnte ich nichts gegen das Zittern meiner Hände tun. Ich war geliefert.
Es war bereits viertel nach acht und falls alle nicht im Schnelldurchlauf essen würden, würde ich es nicht rechtzeitig zu Niall und Megs schaffen.
Falls mich nicht die Regierung schnappen würde, würde es Niall tun.

Um halb neun, gerade als ich mit einem neuen Tablet Champagner – der Sekt war bereits leer – mich auf den Weg in die Eingangshalle machen wollte, hielt mich Margarete zurück.

„Nein, wir wollen die Gäste doch nicht betrunken machen, dies hier ist eine Abendveranstaltung und keine Absturzparty eines Jungen. Die Gäste werden nun zum Essen gehen."

Einerseits entgeistert, anderseits erleichtert blinzelte ich ihr hinterher, als sie in Eile verschwand.
Die Gäste sollten nicht betrunken werden?
Das hätte man mir jemand sagen sollen, bevor ich an jedem gefühlte vier Gläser verteilt hatte...

Aber dennoch. Endlich ging es zum zweiten Teil der Zeitplanung über.
Mit einer Stunde Verspätung.
Zwar fiel mir ein Stein vom Herzen, aber gleichzeitig wurde ich nur noch nervöser. Falls dies überhaupt ging.

Denn trotzdem konnte noch alles schief gehen.

Ich sah weder Leo noch Justice wieder. Beide waren nur für den Empfang eingeteilt worden und sofort wurde ich noch nervöser. Mit Leo hatte es sich alles leichter angefühlt, auch wenn ich wusste, dass sie mir nicht helfen könnte, wäre sie eine Unterstützung gewesen.

Und nun stand ich hier mit einem Herzen, das nicht wusste, was es machen sollte, zusammen mit anderen Angestellten, die dies hier bereits gewöhnt waren, vor der Tür, die wir jeden Moment durchqueren würden.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals als Margarete das Zeichen gab. Schnell huschten wir in den Saal, in dem ich noch nie zuvor gewesen war.

Und wäre vor Schock und Faszination gleichermaßen stehen geblieben, wäre hinter mir nicht ein Mädchen, das mich ungeduldig an stupste, damit ich den Abstand zu den anderen Mädchen wieder einholte.

Der Bankettsaal übertraf jegliche meiner Vorstellungen. Und ich konnte es nicht verhindern, dass ich mich wie ein kleines Kind zu jeden Seiten umblickte, um wirklich jedes Detail zu erfassen.
An die Decke wurde ein Sternenhimmel simuliert und selbst die Luft fühlte sich angenehm kühl und frisch an. Ein paar weiß-rote Stoffballen waren als eine Art offenes Zelt von der Decke aus zu Marmorsäulen, an denen sich Blumen entlangranken, gespannt. Sofort musste ich an Flynn und seinen Händchen für Pflanzen denken. Sicherlich waren die Kunstvoll drapierten Blumen sein Werk.
Kronleuchter hingen vereinzelt und deren tausenden Diamanten brachte das Licht zum Brechen. Wenn man ganz genau hinhörte, konnte man sogar zwischen all den Gesprächen und der Musik das Rauschen des Springbrunnen hören, der Wasser in tausend Farben leuchtend in die Luft schoss.

Eine lange Tafel war in der Mitte des Raumes aufgebaut, an der jeder Platz finden würde und im Vorderbereich des riesigen Saals war eine Art Lounge aufgebaut mit niedrigen Couch, Teelichtern und Stoffhockern. Die Gäste schlenderten von einer Gruppe zur nächsten, hielten bereits ein neues Glas in der Hand und schienen sich prächtig zu amüsieren. Mein Blick glitt über die luxuriösen Kleider und Anzüge, die alle perfekt in diesen Raum passen zu schienen, doch ich entdeckte kein Mitglied der Familie Payne.

„Starr nicht so, helfe lieber mit." Zischte mir auf einmal jemand zu und erschrocken zuckte ich zusammen, bevor ich mich zu der Frau, die immer in der Küche arbeitete, umdrehte. Sie drückte mir ein Tablett mit kleinen, bunten Getränken in die Hand und gab mir einen kleinen Schubs in die Richtung der Gäste. Zusammen mit den anderen verteilte ich auch hier wieder die Getränke und sobald diese leer waren, ging es weiter mit kleinen, zu kleinen Kunstwerken aufgetürmten Leckereien.
Die Musik wummerte mir so langsam in den Ohren und meine Beine wurden müde. Auch spürte ich bei jedem Schritt das Gewicht des Messers an meinem Bein und umso unwohler fühlte ich mich, wenn ein Wächter mich ansah.
Auch die kleinen Leckerbissen waren schnell vergriffen und so langsam fragte ich mich, ob jede Abendveranstaltung so verlief.
Das Abendessen hatte noch nicht einmal angefangen, aber alle schienen schon vollkommen gesättigt sowie leicht angeheitert zu sein. Hatte ich vor ein paar Tagen noch erstaunt meine Augen bei der Menge an bestellten Getränke und Lebensmitteln aufgerissen, wurde mir nun klar, dass es von Margarete wirklich genauestens kalkuliert wurde.

Gerade, als ich mein letztes Glas verteilt hatte, wurde es auf einmal sehr ruhig und alle wendeten sich der großen Doppelflügeltür zu. Da ich inmitten der Menge stand und weder relativ hoch gewachsen, noch hohe Schuhe trug, ging ich in der Masse unter.
Ich musste erst wieder zum Rand des Raumes zu einer Marmorsäule huschen, bevor ich sehen konnte, dass Liam und Markus Seite an Seite durch die Tür schritten, gefolgt von einer wunderschönen Frau, gehüllt in einem langen Kleid, das aussah, als würde es aus reinem Gold bestehen. Nach unten hin gingen die goldenen Sprenklern in Seide über und brachte sie nur noch mehr zum schimmern.

Marcus Payne hatte Recht gehabt, als er vorhin gemeint hatte, dass seine Frau beeindruckende Auftritte mochte.
Denn keine andere war es, die mit Stolz erhobenen Hauptes und ein leichten Lächeln auf den Lippen zu ihrem Mann aufschloss. Ihre hellbraunen Haare waren jugendlich zu einer lockigen Hochsteckfrisur weggesteckt worden und zwei einzelne Strähnen perfektionierten ihr makelloses Gesicht.
Sie war die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte.
Ein leises Raunen ging durch die Reihen der Gäste und ich bemerkte nicht nur einen neidischen Blick einer Frau, der der Gastgeberin galt.

Mein Blick wanderte zu ihrem Ehemann, dessen Blick über die Gäste schweifte und dabei so unnahbar wie in den Nachrichten wirkte. Selbst Liam sah in seinem mitternachtsblauen Anzug sehr verschlossen aus, aber als schließlich Marcus Payne das Wort erhob, sah ich an seinem leicht zur Seite geneigtem Kopf, dass auch er gespannt zu hörte.

„Meine Frau, mein Sohn und ich freuen uns sehr, dass wir sie heute Abend hier in unserem Apartment begrüßen dürfen. Nehmen sie doch bitte Platz, das Essen wird gleich serviert."

Sofort setzten sich alle in Bewegung, das Gerede ging wieder los und die Stühle wurden über den Boden gezogen. In all dem Wirrwarr behielt ich nicht den Überblick, doch mit einem Blick auf die Uhr wusste ich, dass ich es unmöglich pünktlich schaffen könnte. Es war bereits 21 Uhr und das Essen sollte bereits vor einer Stunde serviert sein. Ich würde es nie und nimmer schaffen, in einer dreiviertel Stunde an der Müllrutschte zu sein...

Mit jeder Minute die verging, wurde mir wärmer und auch als ich das Essen servierte, verschwand das Gefühl nicht. Als ich die dritte Platte des kunstvoll angerichteten Essen aus der Küche holte, war es bereits zwanzig nach neun.

Noch zwanzig Minuten.

Was sagte Niall noch mal genau? Die Abendveranstaltung sollte eigentlich um 21:15 Uhr in den Bankettsaal verlegt werden... Als mir das entscheidende Detail einfiel, stöhnte ich verzweifelt auf.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Musste das auch noch schief gehen?

Anscheinend hatte Niall nicht gut genug geforscht, denn es gab wohl eine Planänderung, sodass die Abendveranstaltung gleich im Bankettsaal stattfand... Wir waren bereits dort und die Gäste waren erst bei der Vorspeise, einem gemischten Salat mit gerösteten Pinienkerne und Erdbeersoße.

Ich würde mich nicht einfach so drücken können...

Als jeder Gast die Vorspeise serviert bekommen hatte, stellten wir Angestellten uns in den Schatten des Raumes, gleich in der Nähe der Wächter.
sobald jemand aber etwas nachgeschenkt haben wollte, war ein Angestellter zur Stelle.
Ich war froh, dass meist das Mädchen neben mir lief und ich somit nicht in das Blickfeld der Wächter geriet. Mein Herz klopfte bereits nervös genug.

Um halb zehn räumte ich die ersten Schüsseln ab.
Meine Hände waren so rutschig nass, dass ich sie beinahe fallen ließ.
„Pass auf, Sophia, Sophia Smith." Meinte Liam zu mir und hielt schützend seine Hand unter meine, da ich seine, gerade eben erst abgeräumte Schüssel beinahe fallen ließ.

Erschrocken – da ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass er es war – zuckte ich zusammen und murmelte eine Entschuldigung. Doch zum Glück schien keiner außer Liam mich zu beachten.
Dieser musterte mich nun mit einem leichten Grinsen und schüttelte den Kopf. Gerade als er den Mund öffnete und ich die Möglichkeit nach einer Flucht ergreifen wollte, sprach ein älterer Herr, neben dem Liam saß ihn an. Ich verstand nicht, was er sagte, aber an Liams zusammengezogenen Augenbrauen erkannte ich, dass er nicht sehr erfreut über das Gesprochene war. Das Lächeln blieb aber.
Er war der geborene Schauspieler.

„Nein, Danielle ist nicht hier, sie hat heute Abend eine Modenschau in einem östlichen Skyscraper. Falls Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden?"

Bevor er sich wieder an mich wenden konnte, ging ich hastig zum nächsten Platz und räumte das Geschirr ab. Nur aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie Liam aufstand und den Saal verließ.

Es war 21:40 Uhr als ich das nächste Mal das dreckige Geschirr wegbrachte.
Mein Herz jagte meinen Verstand und ließ mich beinahe an einem Herzkollaps sterben.
Während meine Hände und Stirn bereits vor Angst nass waren, zitterte ich vor Kälte im Nacken, während mir mein Kopf glühend heiß vorkam.

Ich würde alles versauen.
Der Minutenzeiger rutschte einen Zentimeter nach vorne und trennte mich somit nur noch um vier Minuten von meinen eigentlichen Auftrag. Schnell legte ich die Schälchen in die Spüle und rubbelte meine Hände an einem Geschirrhandtuch ab.

Ich würde alles, wofür ich jemals gearbeitet hatte, verlieren.

Der Minutenzeiger rutschte noch eine weitere Stelle nach vorne.

Mir überkam ein weiterer Schauer, als ich an all das dachte.
Niall und Megs würden dort warten, doch ich würde nicht kommen.
Was würden sie machen?

Zwei Minuten.

Würden sie auf eigener Faust hereinkommen wollen?
Vielleicht war es besser so, dass sie nicht hier her kommen würden.
Ja, vielleicht wollten sie alles in die Luft sprengen, als ein Zeichen der Rebellen alle wichtigen Persönlichkeiten auf einmal auslöschen...

Eine Minute.

Doch dann sah ich wieder Sam und Clovy.
Niall hatte mir gedroht. Und ich wusste, dass er es nicht aus Spaß gemacht hatte.
Konnte ich wirklich das Leben meiner Geschwister, alles was ich noch liebte, aufs Spiel setzten.

Punkt genau um viertel vor zehn schmiss ich das Geschirrhandtuch in die Spüle und suchte mir mit schnellen Schritten den Weg aus der Küche. Keiner bemerkte mich, alle waren zu sehr in den Vorbereitungen vertieft.
Doch ich hatte meine Entscheidung getroffen.

Mein Körper war bis oben hin mit Adrenalin, Anspannung und Angst gefüllt, als ich mir meinen Weg durch die nur leicht beleuchteten Privatflure suchte. Bisher war ich noch keinem Wächter begegnet und dies ließ meine Hoffnung steigen, dass ich vielleicht doch unbeschadet aus dieser ganzen Sache herauskommen würde.
Es war fünf vor als ich den richtigen Flur erreichte und es brauchte weitere drei Minuten bis ich die richtige Abstellkammer fand. Mein Herz jagte meinen Puls immer weiter in die Höhe und meine Hand zitterte immer noch, als ich auf den Knopf drückte, der die Müllrutschte aktivierte. Mit einem leisen Zischen ging die Klappe auf, aber bereits bei diesem kleinen Geräusch zuckte ich zusammen und starrte für einen kurzen Moment auf die Tür, die zum Flur führte.

Doch es regte sich nichts.
Auch bei der Müllrutschte tat sich nichts und leicht verunsichert blinzelte ich in das schwarze Loch.
Als nach weiteren drei Minuten sich immer noch nichts regte, überflutete mich die Panik.
Was wäre, wenn ich die falsche Müllrutschte erwischt hatte?
Wenn sie schon längst wieder weg wären, auf dem Weg zu Sam und Clovy?

Doch gerade in dem Moment, wo ich wahrscheinlich meinen Kopf verloren hätte und einfach nur nach Hause gestürmt wäre, erschien eine Hand, die sich um die Kante schlang und im nächsten Moment tauchten die dunklen Haare von Megs auf.

„Meine Güte, selbst der Müll der Reichen scheint nach Parfüm zu stinken. Ich fühle mich nun wie eine Parfümerie... Die Werte Dame hat es wohl auch nicht nötig, mir hier heraus zu helfen, oder?"

Auffordernd starrte sie mich an und sofort griff ich nach ihrem Arm, um ihr beim Heraussteigen zu helfen. Danach klopfte sie sich ihre Sachen ab und schnupperte am Ärmel ihres schwarzen Shirts. Dann rümpfte sie ihre Nase.

„Warum hat das so lange gedauert?" fragte ich und versuchte mein Herz zu beruhigen.

„Du kannst gerne das nächste Mal eine fast senkrechte Müllrutsche hochklettern, ich stoppe gerne die Zeit..." meinte sie nur sarkastisch. „Außerdem könnten wir dich das Gleiche fragen... Niall, kommst du auch mal endlich?" rief sie in das Loch und sofort zuckte ich bei ihrer Lautstärke zusammen. „Psst, sie werden uns noch hören." Ermahnte ich sie. Das wars mit der Beruhigung meines Herzens.

Megs verdrehte nur die Augen, doch im nächsten Moment erschien Niall, der sich geradezu mühelos aus dem Loch zog und mir ein kleines Grinsen schenkte.

„Ich dachte schon, du hättest dich für die andere Seite entschieden."
Sofort schüttelte ich den Kopf und ging einen Schritt nach hinten, damit auch er aufrecht stehen konnte. Wir standen zusammengepfercht wie die Hühner in der Kammer.

Niall schob sich seine Lederjacke zu Recht, während er sich durch seine Haare fuhr und meinte: „Ab hier kommen wir alleine zurecht. Geh an deinen Arbeitsplatz zurück und verhalte dich normal..."

Ich hätte gedacht, dass ich bei seinen Worten erleichtert aufatmen würde, doch dies war nicht der Fall.

„Was hast du vor, Niall?" fragte ich noch einmal nach, doch wie so oft, zuckte dieser nur grinsend die Schultern. „Du weißt genug, meine Hübsche. Ach ja... falls ein Tumult ausbrechen würde... einfach genauso hysterisch reagieren, das wirkt so, als würdest du unschuldig sein." Er zwinkerte mir zu, bevor er einfach so die Tür öffnete und auf den Flur trat.

Ich zuckte zusammen.
Tumult. Hysterisch.

Was zur Hölle hatte er vor?

Megs warf mir einen letzten Blick zu, bevor sie Niall folgte und meinte: „Vertraue ihm dieses eine Mal, Sophia." Dann war auch sie verschwunden und stand immer noch wie erstarrt neben der offenen Müllrutschte. Meine Gedanken liefen heiß und erst nach einer weiteren Minute wurde mir klar, dass ich so schnell wie möglich wieder in den Saal zurück musste, um nicht verdächtig zu wirken.

Alles was Niall nun tat, würde allein auf seine Kappe gehen. Nichts davon würde meine Schuld sein. Aber um mich selbst davon überzeugen zu können, musste ich zurück in diesen verdammten Saal, wo fröhliche Musik gespielt, gelacht und gegessen wurde und keiner mitbekam, dass sich zwei Rebellen durch die Gänge schlichen.

„Sophia, Sophia Smith. Müsstest du nicht im Saal sein?"

Erschrocken zuckte ich zusammen und ließ die Tür los, die ich gerade hinter mir schließen wollte. Liam stand hinter mir, mit seinem altbekannten Grinsen und leicht zur Seite geneigtem Kopf.

„Ja..." brachte ich nur stotternd hervor, da ich keine Ahnung hatte, was ich sonst sagen könnte. Er konnte mir sicherlich ansehen, wie ertappt ich mich fühlte. Ich spürte selbst wie mein Herz mir beinahe aus der Brust sprang und meine Augen vor Schreck weit aufgerissen waren.

„Und warum bist du dann hier... in einem Abstellraum?" Er blickte an mir vorbei in die Kammer und auf einen Schlag wurde mir bewusst, dass ich die Müllrutschtklappe aufgelassen hatte.

„Ich habe nur den Müll weggebracht..." antwortete ich hastig und schloss die Tür mit meinem Rücken. Vielleicht war ich etwas zu hastig, denn er hob leicht amüsiert eine Augenbraue hoch. „Ah-a... Den Müll also."

Meine Gedanken rasten und ich überlegte fieberhaft, was ich sagen könnte, um von diesem Thema wegzukommen.

„Was machen Sie eigentlich hier? Sie sind doch der Gastgeber?" fragte ich schließlich und strich mir eine Haarsträhne, die sich doch aus meiner Frisur gelöst hatte, hinters Ohr.

„Mein Vater ist der Gastgeber nicht ich und genau diesen Gastgeber suche ich gerade. Hast du ihn zufällig gesehen?"

Schnell schüttelte ich meinen Kopf.

„Nun gut..." Er lächelte immer noch leicht, „Dann gehe du deiner Arbeit nach und sorge dafür, dass die Gäste gut versorgt sind, während ich Marcus aufsuche. Immerhin wollte er den Gästen gleich etwas präsentieren..."

„Das ist eine sehr gute Idee, Mr. Payne." Murmelte ich und huschte so schnell ich konnte an ihm vorbei. Mit einem Blick über meiner Schulter sah ich, wie er die entgegengesetzte Richtung einschlug.

Vor Schock zitterte ich immer noch und als ich um die erste Ecke gegangen war, musste ich mich erst einmal gegen die Wand lehnen und tief Luft holen.
Nun konnte ich nur noch hoffen, dass er nicht eins und eins nachher zusammen zählen würde, wenn er dies nicht jetzt schon tat.

Hoffentlich würde er einfach seinen Vater finden, ihn holen und die Begegnung mit mir vergessen. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, doch im nächsten riss ich sie geschockt auf.
Niall, der mit jemand ein Hühnchen zu rupfen hatte.
Marcus Payne, der alleine irgendwo in einem privaten Raum war.
Und Liam, der ihn suchen wollte.

Wie von selbst rannte ich den Flur zurück in die Richtung in die Liam gegangen war. Es war mir egal, was er von mir halten würde, doch ich musste ihn aufhalten, bevor alles zu spät war und wir alle im Exil landen würden.

„Liam!" rief ich, als ich ihn am anderen Ende des Flurs sah, die Hand bereits auf einer Türklinke. Verwirrt drehte er sich zu mir um und ich legte einen Endspurt ein, um ihn zu erreichen. „Du darfst da nicht rein!"

„Und warum nicht?" fragte er sofort mit hochgezogener Augenbraue.
Ja, warum nicht?
Soweit hatte ich noch nicht gedacht. Ich konnte ihm nur schlecht sagen, dass es sehr wahrscheinlich war, dass ein Rebell gerade dabei war, seinen Vater umzubringen...

„Sophia, Sophia Smith, ich hatte doch bereits vermutet, dass du nicht mit offenen Karten spielst, aber nun bin ich mir sicher..."
Seine Lippen wurden zu einem geraden Strich und mein Herz rutschte mir nach unten.
Er drückte die Klinke herunter und aus Folge von Panik reagierte ich in einer Kurzschlussreaktion. Ich versuchte ihn wegzuschubsen, doch stattdessen wehrte er meinen Angriff ab, sodass wir zusammen in den Raum stolperten.
Ich konnte mein Gleichgewicht nicht halten, stolperte über meine eigenen Beine und landete schmerzhaft auf der Nase. Aus dieser Perspektive konnte ich zwei Fußpaare erkennen, die sich gegenüberstanden.
Schnell zog ich mich hoch und erkannte Niall und Marcus.
Marcus wirkte verspannt, seine Hände waren zu Fäusten geballt und beachtete Liam und mich gar nicht. Stattdessen war er total auf Niall fixiert, der sich sichtlich gelassen gegen einen Schreibtisch lehnte. Leicht überrascht zog Niall eine Augenbraue hoch, sah zuerst mich an, bevor sein Blick zu Liam wanderte, der immer noch um sein Gleichgewicht kämpfte.
Sofort verzerrten sich seine Lippen zu dem altbekannten Lächeln und gerade als Liam hochblickte, Niall entdeckte und verdattert den Mund aufmachte, sprach Niall:

„Hallo kleiner Bruder."

Es fing alles an sich zu drehen und beinahe verlor ich schon wieder das Gleichgewicht.
Kleiner Bruder.
Niall.
Liam.

Mein Blick huschte zwischen Marcus, Liam und Niall hin und her, doch Liam schien genauso geschockt über das Auftauchen wie über das Geäußerte von Niall zu sein.

„Marcus, was macht einer den niedrigen Sektoren hier?" Er sprach langsam und betrachtete Niall musternd.

„Na na na, ich bin ein paar Tage älter als du, also rede nicht so mit mir. Wollt ihr denn kein Geburtstagslied singen, so wie es sich für einen Bruder und Vater gehört?"

„Was redest du da für ein-"

„Stimmt ja, tut mir Leid, Halbbruder, ich wusste nicht, dass du es so ernst nimmst." Unterbrach Niall ihn und sein immer breiter werdendes Lächeln zeugte davon, dass er sich prächtig amüsierte.
Was zur Hölle war hier los?
Doch ich war wohl nicht die einzige, die verwirrt und geschockt zu gleich war. Liams Mund stand etwas auf und mehrmals blinzelte er, so als könnte er nicht fassen, was Niall da sagte.

„Hör auf, solch einen Unsinn zu erzählen, sonst-"

„Sonst was?" unterbrach Niall in provokant und lehnte sich noch weiter an den Schreibtisch an. „Willst du sonst dein Politiker-Lächeln herausholen und mir mit dem Exil drohen? Mach dir darum keine Sorgen-"

Bevor Niall zu Ende reden konnte, schrie Liam schon wutentbrannt auf und rannte auf ihn zu. Innerhalb einer Millisekunde stieß ich einen kleinen Schrei aus, während Niall in eine aufrechte Position sprang, sich unter Liams Schlag hinwegbückte und selbst mit der Faust von unten ausholte. Er traf Liam unterhalb des Kinns und ein ekelerregendes Geräusch erfüllte die Luft.

„Das ist aber ein Geburtstagsgeschenk, das von Herzen kommt, Bruder." spukte Niall aus und gerade als Liam zum neuen Schlag wutentbrannt ansetzen wollte, rief Marcus: „Das reicht! Auseinander! Sofort!"

Komischerweise gehorchten beide, doch Niall grinste noch immer sein tückisches Grinsen, während er seine Hände an seinem Jeansbein abwischte.

„Marcus, dieser Rebell und Lügner gehört sofort nach draußen..." Sein Blick war immer noch auf Niall fixiert, doch als plötzlich Marcus meinte: „Er ist kein Lügner." Zuckte sein Kopf in die Richtung seines Vaters.
Auch ich war der Schockstarre vollkommen erlegen und konnte nur geschockt Marcus anblinzeln.

„Liam, er sagt die Wahrheit, er ist dein Halbbruder."

„Halleluja und ich dachte schon das endet alles in einem Familiendrama." Meinte Niall. Liam ignorierte ihn.

„Wie ist das möglich?" setzte Liam langsam an und seine Miene wurde wieder undurchdringlich.

„Hast du noch nie etwas von kleinen Affären gehört, oder lebst du deiner perfekten Welt?" antwortete Niall anstatt Marcus und sofort zischte Liam wütend: „Dich hat keiner gefragt, sonst bringe ich dich hier auf der Stelle um!"

„Ach ja?" Nialls Gesicht hatte sich verändert. Das amüsierte Grinsen war verschwunden, dafür waren seine Gesichtszüge voller Hass verzogen und drohend ging er ein paar Schritte auf Liam zu. „Ach ja? Denkst du, du hast eine Chance? Denkst du das wirklich?" Er lachte freudlos auf, während er Liam einmal nach hinten schubste. „Denkst du ich habe nicht allen Grund euer gesamtes Pack umzulegen? Dein, oder besser gesagt unser beschissener Vater hat meine Mutter umgebracht!" Nun schrie er und ich zuckte zusammen.

Meine Gedanken rasten, doch ich konnte immer noch nichts machen. Ich hatte keine Ahnung, was ich unternehmen sollte, damit dies hier nicht alles in eine Katastrophe enden würde und all die neuen Informationen sickerten nur schwer zu meinem Gehirn durch.

Liam und Niall waren Gebrüder. Marcus ihr Vater.
Erinnerungen überfielen mich. Die Art und Weise wie beide ihren Kopf schief legten und grinsten. Ihr Charakter... ich bekam einen Zitteranfall als mir all die kleinen Gemeinsamkeiten einfielen.

„Ich habe niemanden umgebracht, weder Zelda, noch jemand anderen-"
Fuchsteufelswild ließ Niall nun von Liam los, war innerhalb weniger Schritte bei Marcus angelangt und drückte diesen gegen ein Regal.

„Sprich ihren Namen nicht so aus, als würdest du sie kennen!" Er spukte die Wörter beinahe aus und sein Griff um das Hemd von Marcus verstärkte sich. Dieser hatte keine Chance.
Niall hatte den Vorteil des Straßenlebens. „Und du hast sie umgebracht. Sie war eine Auszubildende, kannst du dich noch daran erinnern? Du hast sie erpresst, entweder sie macht mit oder wird sofort gefeuert... Nur damit du deinen Spaß hast, aber dann als sie schwanger war, da hast du auf einmal Schiss bekommen, oder? Immerhin hast du zwei kleine Töchter hier sitzen gehabt... Du hast sie gefeuert und das war ihr Todesurteil. Wer findet, wenn man schwanger ist, einen neuen Job? Nur wegen dir ist sie vom Sektor 3c in Sektor 1c und schließlich in Sektor 1a abgerutscht, nur wegen dir hatte sie all ihr Geld für eine nichts bringende Ausbildung verloren, nur wegen dir bin ich hier und nur wegen mir und dir hat sie sich zu Tode geschuftet. Sie hat Husten bekommen, kannst du das glauben, kannst du das glauben?" Seine Stimme steigerte sich zum Geschrei, während er Marcus immer wieder an seinem Hemd nach vorne und hinten schleuderte. „Kannst du glauben, dass sie an fucking Husten gestorben ist? Ihr nehmt dagegen ein, zwei Pillen, aber Mum hat verdammte fünf Monate Blut gehustet, bis sie elendig verreckt ist! Sie ist nicht gestorben, sie ist verreckt wie ein scheiß Tier!" Mit einem letzten Stoß ließ er Marcus los, entfernte sich ein paar Meter und fuhr sich durch die Haare. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich bekam kaum Luft. Auch bei Marcus saß der Schock tief, da er sich sofort an den Hals und an die Krawatte fasste.

Doch plötzlich drehte Niall sich wieder um und kam wutentbrannt ein paar Schritte auf Marcus zu. „Aber weißt du was das schlimmste ist? Wofür ich dich am meisten verabscheue?" Er spuckte vor Marcus Füße, als er weiter sprach: „Ich hasse dich dafür, dass Mum mir jeden Abend von dort oben, von dir und diesem scheiß Luxus erzählt, ja sogar geschwärmt hat. Sie klang beinahe so, als würde sie dir verzeihen, dich verstehen. Du hast sie umgebracht, Vater."

Selbst ich hatte es nicht kommen sehen. Doch plötzlich rannte Liam Niall mit einem wütenden Schrei um, sodass beide zu Boden fielen. Innerhalb weniger Sekunden fand auch Marcus seine Fähigkeiten des Bewegens wieder. Doch anstatt dazwischen zu gehen, rannte er zu dem Schreibtisch und zerrte eine Schublade auf.
Liam und Niall lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch, doch man konnte deutlich erkennen, dass Liam wieder den Kürzeren ziehen würde.

Bis ich das Klicken einer Pistole hörte.

„Geh sofort von meinem Sohn weg." Knurrte Marcus und es dauerte ein paar Sekunden, bis Niall sich langsam aufrichtete. Grinsend wischte er sich das Blut, das aus seiner Nase kam, ab und blickte ohne jegliche Angst in den Lauf der Pistole, die Marcus auf seine Brust gerichtet hielt.

„Welchen Sohn hast du denn angesprochen?" fragte Niall spöttisch und erneut machte sich Panik in mir breit.

Verdammte Scheiße, Marcus würde Niall erschießen!

„Ich habe nur einen Sohn." Knurrte Marcus, woraufhin Niall leicht den Kopf schief legte. Das Grinsen verschwand jedoch nicht. „Wie gut das wir uns da einig sind, denn ich habe auch keinen Vater... Aber selbst wenn, du würdest sicherlich keine Scheu zeigen, deinen eigenen, nicht akzeptieren Sohn zu erschießen, habe ich Recht?"

Mein Herz setzte ein Schlag aus und ich wollte irgendetwas tun.
Irgendwas unternehmen, damit dies hier alles nicht in einem Blutbad endete. Doch mein Körper reagierte nicht, egal wie laut die Sirenen in meinem Kopf schrillten.

„Da hast du Recht." Antwortete Marcus, während Liam sich langsam aufrichtete. Er hielt sich sein rechtes Auge zu und beugte sich etwas vor.
Doch dann ertönte plötzlich ein weiteres Klicken.

„Und wie gut, dass ich kein Problem damit habe, beschissene Politiker umzulegen."

Megs hielt Marcus eine Pistole an den Hinterkopf und ließ verbissen den Blick über das ganze Szenario gleiten. „Da soll man einmal Freiraum geben, um der Familie beim glücklichen Zusammentreffen nicht zu stören und dann passiert das hier!"

Marcus verharrte still, senkte jedoch nicht die Pistole, die immer noch auf Niall gerichtet war. Liam stand mit dem Rücken zu mir, sodass ich sehen konnte, wie seine Hand langsam unter sein Jackett glitt. Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, riss ich mein Kleid hoch und zerrte das Brotmesser aus meiner Strumpfhose. „Ich warne dich!" rief ich und war froh, dass ich das Zittern in meiner Stimme unterdrücken konnte. Das Brotmesser, das ich mit beiden Händen umklammert auf Liam richtete, schwang jedoch mit dem Zittern meiner Hände mit. Leicht verwirrt drehten sich alle für einen kurzen Moment zu mir um, ihre Blicke wanderten von dem Brotmesser zu mir und dann wieder zum Messer, dessen Spitze nun auch auf Liams Brust gerichtet war.
Es schien, als hätten sie alle vergessen, dass ich auch noch da war.

Für einen kurzen Augenblick traf mein Blick auf den von Liam, doch ich biss meine Zähne aufeinander, um keinen schwachen Moment zu zulassen. Ich war so oder so im Arsch.
Und somit konnte ich mich zumindest etwas an Liam rächen.

„Was macht dieses Mädel hier eigentlich?" knurrte Marcus langsam und ich fühlte mich seltsam beobachtet. Meine Hände zitterten immer noch, doch ich dachte gar nicht erst daran, das Messer zu senken.

„Sie ist hier, weil ich ihr das Leben gerettet habe..." antwortete Liam sachlich, ohne jegliche Angst in seiner Stimme. Er hielt den Blickkontakt mit mir aufrecht, doch ich verzog nur wütend meine Stirn.

„Womit hast du mir denn mein Leben gerettet?" fragte ich, doch bevor er mir antworten konnte, sprach Marcus: „Dies hier ist alles überflüssig, früher oder später werden wir euch fassen und ins Exil schmeißen..."

„Vielleicht haben wir davor aber noch die Gelegenheit dem hohen Rat den Mittelfinger zu zeigen, indem wir ein paar hübsche Politiker-Köpfchen wegpusten..." unterbrach Megs ihn und drückte den Lauf er Pistole noch etwas fester an seinen Hinterkopf. Ich bemerkte, wie Liam etwas zusammenzuckte, Niall jedoch biss auf seine Lippe und legte leicht den Kopf schief. Er wirkte angespannt.

„Ich habe dich gefragt, ob du dein Leben weiterleben willst, Sophia, Sophia Smith. Du sagtest ja und genau deswegen habe ich dir die Erlaubnis gegeben, der ganzen Abendveranstaltung beizuwohnen. Ich habe dich damit gerettet!" meinte nun Liam an mich gerichtet.

„Wovor verdammt noch mal hast du mich gerettet?" schrie ich nun. Ich hatte meine Gefühle, all das Adrenalin und das Zittern nicht mehr unter Kontrolle.
Wovon zur Hölle sprach er?

Doch bevor Liam mir eine Antwort geben konnte, meinte Niall: „Er spricht von den gezielten Tierangriffen heute Abend. Sie wollen den gesamten ersten Sektor befallen lassen, um einen Grund zu haben, um die Stromverbindung kappen zu können."

Er sah mich nicht an. Sondern sprach nur emotionslos direkt in Marcus' Gesicht.
Ich kam hingegen nicht ganz mit.

Die Wörter sprangen in meinem Kopf hin und her, ließen die Alarmglocken in meinem Kopf erneut zum Schrillen bringen.

Tierangriffe.
Sektor eins.
Stromversorgung.
Gezielt.

Als ich so langsam verstand, was das bedeutete, kam die Panik wieder.

„Niall, was hat das zu bedeuten?" fragte Megs vorsichtig und als ich ihr ins Gesicht sah, wusste ich, dass sie davon nichts wusste.
Diesmal übernahm Liam das Reden: „Es bedeutet, dass die Regierung die Tiere gezielt im ersten Sektor eindringen lässt, um Strom zu sparen. Das Wasserkraftwerk wurde aus einem nicht definierbaren Grund lahm gelegt und eins reicht kaum für zwei Skyscraper..."

Die Gedanken rasten in meinem Kopf.
Dad, der im Pub sich mit den Wächtern anlegte, verhaftet wurde, vollkommen verändert wiederkam und zum Wasserkraftwerk geschickt worden war.
Die immer höher werdenden Strompreise.
Der Stromausfall.

„Nein... nein, oh Gott, Jenia..." Megs Hand fing an zu zittern, doch Niall starrte immer noch emotionslos zu Marcus, der genauso zurück starrte.
„Aber all die Arbeiter..." stotterte Megs weiter, wurde von Liam, der mit ruhiger Stimme erklärte, unterbrochen: „Wir haben Maschinen, die keine Arbeiter mehr benötigen. Ihr seid überflüssig, wir brauchen euch nicht mehr..."

Eleanor, die mir von der Arbeitsstelle ihres Vaters erzählte. Von den Maschinen, die neu eingesetzt wurden.

Und dann machte mein Herz ein Aussetzer.
Eleanor.
Sektor eins.
Tierangriffe.

„Oh mein Gott..." hauchte ich im gleichen Moment, in dem ich das Messer fallen ließ.
Mit einem Klirren kam es auf dem Boden an, doch ich nahm es kaum wahr.

Eleanor, die mich fragte, ob ich am Samstagabend zum Essen zu Louis mitkommen wollte.
Zu Louis in Sektor 1b.
Die Tierangriffe.

Und im nächsten Moment schien mein Herz zu explodieren.

„Niall, du wusstest davon?" Megs Stimme zitterte und nur am Rande bekam ich mit, wie Niall sich mit harter Miene zu ihr umdrehe und meinte: „Gib nicht mir die Schuld! Ich habe dich gerettet, ich habe dich gerettet, indem ich dich mitgenommen habe!"

Eleanor.
Louis.
Seine Geschwister

„Du hast nichts erzählt..."

Clovy.
Sam.
Mum.

„Wissen ist nicht umsonst..."

Mit einem Mal stellten sich meine Ohren auf Durchrausch, das einzige woran ich denken konnte, ist, dass ich es verhindern musste. Ich musste zu Eleanor, zu Louis und zu meinen Geschwistern.

Alles verschwamm, als Marcus sich blitzschnell zu Megs umdrehte, ihr die Pistole aus der Hand schlug, ein Schuss auf Niall abfeuerte und dieser schreiend zu Boden ging.

Das einzige was ich dann noch Tat war rennen.
Ich rannte durch den privaten Flur, hörte meinen eigenen schweren keuchenden Atem, hörte wie das Blut durch meine Ohren rauschte. Mehrmals rutschten meine Füße unter mir auf dem Boden weg und ich landete schmerzhaft auf meine Handgelenke. Doch jedes Mal zerrte ich mich selbst wieder hoch. Ich sah nur noch im Tunnelblick.

Eleanors Armband.
Es funkelte, wenn Licht drauf fiel.

Kurz bevor ich den Bediensteten Flügel erreichte, wurde ich jedoch am Arm zurück gerissen. Liam drückte mich gegen die Wand, doch ich konnte den Blickkontakt nicht halten. Ich musste hier weg. Liam würde mich ins Exil schmeißen.
Er schrie auf mich ein, doch ich verstand nichts. Kein einziges Wort.

Eleanor...

Erst als seine flache Hand auf meiner Wange landete, stellte sich mein Blick wieder scharf und meine Ohren wurden von der lauten Musik der Hintergrundkulisse der Abendveranstaltung überflutet.

„Lass mich, Liam. Lass mich!" schrie ich und versuchte mich aus seinem Griff zu winden. „Ich muss sie retten, ich muss sie retten!"

Er starrte mich ein paar Sekunden an, in denen ich schreiend um mich schlug und versuchte sein Gesicht zu zerkratzen, um einfach nur nach unten in die unteren Sektoren zu gelangen.

Dies waren die Pläne. Sie wollten einen Teil der Bevölkerung auslöschen, um Strom zu sparen.
Sie wollten Eleanor umbringen.
Sie wollten sie alle umbringen, während sie hier hoben eine Party feierten.

„Ich kenne eine Abkürzung." Meinte Liam plötzlich und zerrte mich hinter sich her. Ich jedoch stemmte mich gegen ihn, riss an seinem Griff. „Warum sollte ich dir vertrauen?" fragte ich und konnte den leicht wimmernden Unterton nicht verbergen.
Vor einer Tür, die ich bisher noch nie gesehen hatte, blieben wir stehen. Er umfasste meine Schultern und seine braunen Augen bohrten sich in meine.
Es schien, als würden sich die Sekunden ins Unendliche ziehen, bevor er meinte:

„Genau aus demselben Grund, warum ich dich retten wollte... Sie wissen aber schon Bescheid."

Ich presste meine Lippen zusammen und starrte ihn an. Warum sollte er mich genau jetzt belügen? Warum würde er mich nach unten gehen lassen, wenn er mich verhaften lassen könnte?
Nach und nach kapierte ich, was er meinte.

Sie wussten Bescheid.
Ich würde es vielleicht nach unten schaffen, doch ich würde so oder so ins Exil geschickt werden.

„Du bist ein Mörder, Liam. Ihr seid alle Mörder!" zischte ich und konnte es nicht verhindern, dass sich eine Träne aus meinen Augenwinkel löste. Denn vielleicht könnte ich Eleanor retten, aber nicht alle Bewohner des ersten Sektors.

Ich öffnete die Tür, doch als Liam „Sophia, Sophia Smith..." sprach, verharrte ich einen Augenblick. Seine Augen bohrten sich wieder in meine, als er kurz darauf den Kopf schüttelte.
„Es war nie die Lösung, die ich vorgesehen hatte..."
Ich antwortete nichts darauf, denn er hatte auch nichts gegen diese Lösung getan.
Zwar würde er sich nicht die Hände dreckig machen, aber das Blut würde dennoch an seinen kleben...

Danach war alles nur noch ein verschwommenes Wirrwarr aus Treppen, instabilen Feuerleitern und separaten Fahrstühlen. Vage erinnerte ich mich an einer Erzählung über die alten Angestelltenwege, die ich in meiner ersten Ausbildung durchgenommen hatte.
Ich spürte, wie mein ganzer Körper von Adrenalinschüben gejagt wurde, ich aber dennoch nasse Tränen auf den Wangen spürte.
Als ich schließlich im Sektor 1b angekommen war, rannte ich sofort los.

Mir fielen sofort die riesigen Sperrzäune auf, die um die Fahrstühle aufgestellt wurden, die Wächter, die angriffsbereit in einem Halbkreis standen und ich hörte es.

Es war eine Mischung aus menschlichen Schreien und tierischen Fauchen.

Eleanor.
Ich rannte los, auf die Absperrung zu und dachte einfach nur daran, dass ich sie dort herausholen musste.

Ein anderes Mal, hatten wir ausgemacht.
Ein anderes Mal wollten wir zusammen essen.

Ich wollte zu meiner besten Freundin, ich musste zu ihr. Sie retten.

Ich war nur nach wenige Meter von der Absperrung entfernt, als ich die Rufe der Wächter hörte, die schweren Schritte hinter mir, neben mir und die auffordernde Stimme.
Doch ich blendete alles aus.
Alles außer Eleanor.

Im nächsten Moment riss mich jemand zu Boden, das letzte, was ich wusste, war, dass ich mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, bevor alles schwarz wurde.

Nur Eleanors Armband, ein Herz mit goldenen Verzierungen geisterte in meinem Kopf, inmitten der Schwärze herum.

~

(06.12.2015)

Bitte bitte tötet mich nicht, ich wollte euch noch einen schönen zweiten Advent und Nikolaustag wünschen!

Und nun ist hier das Bombenkapitel... ich habe bis vier Uhr in der Nacht dran geschrieben und begebe mich nun selbst ins Exil... nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Denn um ehrlich zu sein, habe ich gar keine Vorstellung, wie das bei euch ankommen wird.

Dies alles....

Eigentlich habe ich mir überlegt, gar nichts zu diesem Kapitel zu schreiben, aber da es fast 10k Wörter und das wichtigste Kapitel überhaupt ist, habe ich es mir anders überlegt.

Viele Sachen, die hier vorkommen, sind schon seit dem ersten Kapitel geplant, seit Monaten habe ich auf dieses Kapitel hingefiebert und nun - sind alle Geheimnisse auf einmal in die Luft gegangen...

Ihr wisst nun was es mit Liam und Niall auf sich hat, auch wenn eigentlich alle eher damit gerechnet haben, dass sie Verbündete sind. Ihr wisst über Nialls Vergangenheit, den Wasserkraftwerken und den Grund von Liams Neugier Bescheid.

Ein paar kleine Ungereimtheiten gibt es noch, die sich aber auch noch klären werden.

Ich hoffe, ihr werdet mich nicht steinigen für das Ende. Weihnachtszeit ist die Zeit der Liebe.

Ich hoffe, ihr bleibt weiterhin dabei.

Danke fürs Lesen,

Alles Liebe.



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