-33- ➳Meer und Schaumkronen
„Mr. Payne wünscht sich wieder eine Tasse Tee."
Ich bekam innerlich einen Herzkollaps als ich die Worte von einer Angestellten hörte, die sich schon gleich an mich gerichtet hatte, da sie bereits wusste, dass ich inoffiziell den Job als Teemädchen übernommen hatte.
Äußerlich jedoch nickte ich nur und mein Blick schweifte zu Margarete, die uns schon leicht Augenverdrehend musterte. Ich hoffte, dass sie heute zumindest jemand anderes hinschicken würde, meinetwegen auch Justice, die mich schon wieder mit ihren Blicken töten wollte, doch ich wurde enttäuscht.
„Beeile dich, Sophia. Wir haben noch viel vor und Avaria wollte nachher noch eine Ankündigung machen..."
Ich nickte schweigsam und setzte den Wasserkocher auf. Meine zitternden Hände konnte man jedoch nicht unbeachtet lassen.
Als Megs mich am gestrigen Abend wieder durch ihre Schleichwege nach Hause gebracht hatte, waren wir zum Glück keinen Mason begegnet, aber die Tatsache, dass Mum sich nichts von dem Geschehen, das nur ein paar Stunden vorher geschehen war, anmerken ließ, ließ mich eine Gänsehaut kriegen. Sam und Clovy lagen im Bett und als ich mich an den kleinen Körper meiner Schwester drückte, gab ich mich den naiven Illusionen hin, dass der morgige Tag besser werden würde.
Die Tatsache, dass ich erst viel zu spät einschlief und viel zu früh aufwachte, sprach aber für sich, dass ich mich in dieser Hinsicht nicht mehr selbst belügen konnte.
Als auch Clovy mit Dads Abwesenheit anfing, hätte ich den Tag am liebsten übersprungen.
Irgendwie hatte ich es schließlich hinbekommen meinen kleinen Geschwistern zu erklären, dass Dad für eine Weile wegen seiner neuen Arbeit wegbleiben müsste und ich nicht wusste, wann er wiederkommen würde.
An Sams versteinerter Miene konnte ich aber erkennen, dass er sich seinen Teil dazu dachte. Vielleicht wusste er auch etwas von Niall...
Und als ich schließlich, bekannt wie eh und je, mit dem Teeservice vor Liams Tür stand und zittrig meine Faust hob, um anzuklopfen, würde ich am liebsten die gesamten letzten Wochen aus meinem Kalender streichen.
Liams Stimme bat mich herein und einmal holte ich tief Luft, straffte meine Schultern und öffnete die Tür. Mir jetzt noch irgendetwas einzureden, von wegen alles wäre gut, wäre Schwachsinn.
Liam stand an dem simulierten Fenster, mit dem Rücken zu mir gewandt, und starrte auf die breiten Dünen und das kristallklare Meer, das der Simulator gerade als Bild projektierte.
Mit schnellen Schritten ging ich auf die Sitzecke zu, behielt ihn aber die gesamte Zeit im Auge. Leise setzte ich das Tablett auf den Tisch ab und richtete eine Tasse mit Tee an. Mit flinken Fingern schob ich das Gebäck auch wieder in die richtige Position. Schlussendlich versuchte ich aber dennoch mich zu beruhigen.
Und von Sekunde zu Sekunde stieg meine Hoffnung, dass Liam dieses Mal wirklich vielleicht nur den Tee wollte und mich ohne jegliche Bemerkung gehen ließ.
Als ich mich aber aufrichtete und gerade sagen wollte, dass ich nun wieder gehen würde, ergriff Liam das Wort, ohne sich zu mir umzudrehen:
„Ist es nicht komisch, dass wir diesen simulierten Ausblick haben, uns manchmal tagelang darüber keine Gedanken machen, einfach dran vorbeileben und an manchen Tagen aber stundenlang auf diese Umgebung schauen könnte?"
Er drehte sich zu mir um und unsere Blicke verhakten sich.
„Ich meine, wer weiß schon, ob das Meer wirklich so ausgesehen hat? Die letzten Aufnahmen sind katastrophal, statt klarem Wasser gibt es Ölteppiche... Weißt du was ich meine?"
Mein Hals schnürte sich zusammen und unter seinem scharfen Blick wurde ich nervös. Ich fing wieder damit an von einem Fuß auf das andere zu tapsen, während ich schnell den Kopf schüttelte. Ich konnte Liams Gesichtsausdruck nicht deuten, aber wüsste ich es nicht besser, würde ich vermuten, dass er sich ehrlich darüber Gedanken machte...
Schweigsam sah er mich an, schüttelte leicht den Kopf und im nächsten Moment schlich sich sein altbekanntes Grinsen aufs Gesicht.
„Eigentlich wollte ich aber etwas ganz anderes sagen, Sophia, Sophia Smith."
Sofort überkam mich eine Gänsehaut und meine Gedanken rasten. „Soll ich Ihr Zimmer noch durchputzen oder eine weitere Teetasse holen?" fragte ich leicht nervös und mein Blick huschte zum Teeservice.
Meine Hoffnung, dass es ein einfacher, leichter Arbeitsauftrag war, zerschellte auf dem Grund der Tatsachen, als Liam immer noch grinsend den Kopf schüttelte und ganz langsam zu dem Couchtisch lief. Während er die Teetasse anhob, sie prüfend in seinen Händen drehte, meinte er: „Sophia, Sophia Smith, du hast etwas was mir gehört."
Mein Herz gefror augenblicklich zu Eis und als sich seine Augen in meine bohrten, konnte ich nicht mehr atmen.
„Ich-ich weiß nicht wovon sie sprechen, Mr. Payne." Stotterte ich und krallte meine Fingernägel in die weiche Haut meiner Handflächen.
Ich log.
Und Liam wusste es.
Ich hätte die Papiere einfach liegen lassen sollen.
Ich hätte sie mir sonst dort anschauen können, aber wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, dass es ihm nicht auffallen würde.
Er war wohl der gleichen Meinung, denn mit einem Kopfschütteln sprach er: „Du weißt genau, dass ich von en Dokumenten spreche, Sophia, Sophia Smith. Sie werden sich wohl kaum von selbst aufgelöst haben...."
„Ich habe sie in in den Sammelmüll der Putzwagen geschmissen..." versuchte ich mich herauszureden und als er eine Augenbraue anhob, hob ich mein Kinn etwas an und setzte hinzu: „Die Dokumente waren doch vollkommen zerstört... Und ich dachte, dass diese wohl kaum Einzelexemplare wären..."
Liam, der immer noch die Teetasse in der Hand hielt, lächelte leicht, während er nachdenklich nickte. „Dann werde ich doch Bellamy bitten den Papiermüll des gestrigen Abends zu bringen..."
Seine Stimme klang ruhig, doch ich hörte die versteckte Drohung hinter den Worten. Sofort lief ein weiterer Schauer über meinen Rücken.
„Tun Sie dies, Mr. Payne." Meinte ich mit fester Stimme, obwohl ich am liebsten meine Beine in die Hand nehmen würde.
„Das werde ich auch, Sophia, Sophia Smith." Erneut starrten mich seine braunen Augen an, das charmante Lächeln war verschwunden und ruckartig setzte er die Teetasse wieder auf dem Tisch ab.
Vor Schreck zuckte ich zusammen und wurde noch eine Spur nervöser, als er auf mich zu kam. „Mr. Payne, ich denke, Margarete erwartet mich in der Küche. Das Abendbrot befindet sich gerade in voller Vorbe-"
„Erzähl mir nichts von Vorbereitungen, während du ängstlich nach weiteren Ausreden suchst." Unterbrach er mich und war mir nun so nahe, dass wir uns hätten berühren können, würden wir nur einen Arm ausstrecken.
Ich geriet wieder in meine Schockstarre und der gestrige Vorfall schoss an meinem inneren Auge wie ein Sekundenfilm vorbei. Doch zum Glück wendete sich Liam im gleichen Moment wieder zum Fenster und meinte: „Schau dir die Aussicht an." Als ich mich nicht bewegte, forderte er mich mit einer Kopfbewegung dazu auf, an di Glasscheibe ranzutreten.
Mit zögerlichen Schritten ging ich an ihm vorbei, zum Fenster und starrte auf die wunderschöne Landschaft. Sofort wurde mein Blick von dieser atemberaubenden Perfektion gefangen gehalten und mir mein Atem beraubt.
Selbst auf den Bildern sah es nicht so schön aus wie hier, wo es so real, so nah dran wirkte.
Und für diesen Moment hatte ich vergessen, dass hinter dieser Glasscheibe nicht wirklich das glasklare Meer lag, oder dass Liam, in dessen Falle ich getappt war, hinter mir stand.
Seine Stimme durchbrach die Ruhe: „Manchmal bekommt man ein Ziehen in der Brust, wenn man es sich anschaut, oder? So, als hätte man Heimweh. Aber ist es nicht komisch, dass man nach etwas Sehnsucht hat, dass man noch nie im Leben gesehen hat?"
Leicht nickte ich meinen Kopf, bemerkte in Gedanken versunken, dass Liam genau hinter mir stand und über meine Schulter hinweg die Aussicht betrachtete. Gerade, als ich mir Gedanken darüber machen wollte, was für einen Sinneswandel bei Liam vonstattengegangen war, da er so offen sprach, füllte seine samtig weiche Stimme erneut den Raum: „Und nun, Sophia, Sophia Smith, schau sie dir alles genau an, okay?" Verwirrt nickte ich und mein Blick huschte über die Dünen, die in sanften Schwüngen sich bis ans Ende meiner Sichtweite schwingen, über die Schaumkronen, die von Welle zu Welle hüpfen zu scheinen und über den wolkenlosen Himmel. Würde ich die Augen schließen, könnte ich mir vielleicht einbilden, die Geräusche zu hören, die das Meer wahrscheinlich machen würde. Es würde sicherlich etwas anders klingen, als das Wasser in unserer kleinen Badewanne, wenn man zu sehr herumplantschte und das Wasser über den Rand Sinnflutartig schoss, doch es müsste wunderschön sein. Einfach dort unten stehen, Arme ausbreiten, den Wind, die Luft, das Meer um sich herum und die richtigen Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren.
„Und nun..." flüsterte Liam. „werde dir bewusst, dass du dies nie sehen wirst."
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, zuckte ich zusammen.
„Vielleicht wirst du ins Exil geschickt, wenn ich mich an meinen Vater wende, und du wirst dort draußen sein, aber dir muss klar sein, dass es nie wieder so auf dieser Erde aussehen wird. Diese Jahre sind schon längst vergangen und wir sollten es alle akzeptieren."
So schnell es ging machte ich ein paar Schritte zur Seite, um so viel Entfernung wie möglich zwischen uns zu legen. Liam hatte wieder seinen altbekannten Ausdruck auf dem Gesicht und leicht fuhr er sich über seine Jackettärmel, als er weitersprach und dabei meinen entgeisterten Blick nicht beachtete: „Selbst wenn du die Informationen auf den Dokumenten gelesen hast, werden sie dir nichts nützen, Sophia, Sophia Smith. Wen würden sie wohl eher glauben? Einem mittellosen Mädchen aus 2b oder einem hoch angesehenen Sohn aus einer Regierungsfamilie, der in ein paar Jahren den Sitz des Vaters im hohen Rat übernehmen wird? Der hohe Rat ist sehr überzeugt von mir und legt viel Wert auf meine Meinung, also sei vorsichtig, sonst verschone ich dich nicht mehr...."
Ich fragte mich, wie viele Schauer einer Person pro Sekunde überlaufen könnte, denn ich hatte sicherlich gerade den Rekord gebrochen. Vollkommen erstarrt konnte ich ihn nur mit offenem Mund ansehen.
„Sophia, Sophia Smith, vielleicht hast du keinerlei Ahnung, aber dein Fall könnte nicht nur bis zum Ministerrat der nördlichen Skyscraper gebracht werden, sondern auch bis hin zum Imperatorenzirkel...."
Ministerrat.
Imperatorenzirkel...
Wörter, die man eher selten in den unteren Sektoren hörte.
Denn diese Worte jagten jedem Angst ein. Außerplanmäßig wurden sie nie einberufen und wenn doch, dann nur in den schlimmsten Fällen.
Das letzte Mal war es vor einigen Jahren, als es in den südlichen Skycrapern ein Serienmörder gab. Er wurde gefasst und die vier Imperatoren, einer jeweils zuständig für die Skyscraper einer Himmelsrichtung, beschlossen sein Urteil.
Sie waren nicht sonderlich für ihr Mitgefühl bekannt, nicht ohne Grund waren sie die Imperatoren.
Aber selbst das Ministeramt war schon eine große Nummer.
Jeder Skyscraper hatte einen eigenen hohen Rat, um interne Sachen zu klären. Ein Mitglied hielt auch das Ministeramt inne, und stand mit den anderen Ministern der nördlichen Skyscraper in Kontakt. Und jeder Skyscraperbereich einer Himmelsrichtung besaß einen Imperator, die höchste Stelle, die man überhaupt erreichen konnte.
Etwas, das man sich kaum vorstellen konnte.
Besonders ich nicht, da bis vor kurzem meine Welt in Sektor 8c geendet hatte. Dort, wo die armen Sektoren endeten und der Mittelstand anfing.
Liam lächelte mich immer noch an, doch es war nicht freundlich. Er wusste, dass er mir überlegen war und mir wurde klar, dass er allein deswegen nach mir geschickt hatte. Er wollte mir einen Denkzettel verpassen, mir Angst einjagen und mir noch einmal klar machen, in was für einer brenzlichen Situation ich mich befand.
Ein paar Sekunden verstrichen und nach kurzem Zögern entschied ich mich für eine Antwort: „Ich weiß nicht was Sie meinen, Mr. Payne."
Vielleicht half auf unwissend zu tun doch.
„Das wäre auch besser so, Sophia, Sophia Smith. Doch leider weiß ich, dass dies nicht der Fall ist."
Nun verstand ich, warum Niall immer davon sprach, dass Wissen nicht umsonst sei und gefährlich werden konnte...
Erst wegen dieser verdammten Wahrheit, oder zumindest einem Teil davon, steckte ich in diesem Mist fest...
Durch meine Gedankengänge bemerkte ich erst viel zu spät, dass Liam auf mich zu kam und zuckte zusammen, als er eine Haarsträhne, die sich mal wieder aus meinem Dutt gelöst hatte, hinter mein Ohr.
Reflexartig schlug ich seine Hand weg und bereute es nicht einmal. Er drohte mir, aber dennoch hatte er kein Recht, mich anzufassen.
Liam fing leicht an zu lachen, schüttelte den Kopf und trat ein Schritt nach hinten. Sofort hatte ich das Gefühl, etwas besser durchatmen zu können.
„Nun denn, Sophia, Sophia Smith. Ich muss los, das Sportzentrum wartet auf mich. Den Tee kannst du wieder mitnehmen." Er nickte mir leicht zu und wollte sich gerade abwenden, als ihm noch eine Sache einfiel und sich wieder zu mir umdrehte: „Ach eine Sache noch..."
Bevor ich reagieren konnte, schmeckte ich wieder Kamille und Zimt, kurz darauf, so als würden meine Sinneswahrnehmungen streiken, spürte ich erst die Wärme und den Druck von Liams Lippen auf meine. Überrascht schnappte ich nach Luft, doch bevor ich ihn von mir stoßen konnte, löste er sich von mir und zwinkerte mir zu: „Es ist lustig dich zu küssen und zu wissen, dass deine Existenz nur von mir abhängt, findest du nicht?"
Nein, finde ich nicht.
Und am liebsten würde ich schreiend auf ihn losgehen.
Er sah nicht mehr, wie ich mir über meinen Mund wischte, um diesen widerlichen Geschmack von ihm loszuwerden, da er bereits auf die Tür zu lief.
Kurz bevor er den Raum verließ, stoppte er noch einmal kurz und warf mir in alter Manier einen Blick zu: „Vielleicht sollte ich es öfters tun... - Einfach weil ich es kann..."
Die Tür schloss sich, er verschwand und ich blieb neben dem Fenster stehen.
Immer noch vollkommen geschockt sah ich wieder auf das Meer hinaus, doch es hatte sich etwas verändert.
Wolken zogen auf, die Schaumkrönchen wurden größer und fingen einen tödlichen Tanz mit den Wellen an. Die Wellen schlugen am Strand auf und ich blieb so lange vor dem Fenster stehen, bis das Wasser die Dünen erreichte.
So etwas Schönes konnte so gefährlich und heimtückisch sein.
Insgeheim fing ich an Liam mit dem Meer zu vergleichen.
Mit seinem Lächeln und den charmanten Gesichtsausdruck wirkte er so friedlich, so freundlich und so einladend.
Doch hinter dieser Fassade, wollte er mich wie die Schaumkronen tanzen lassen, immer schneller und schließlich würde er mich mit sich reißen.
Und genau so fühlte es sich gerade an.
So, als würde ich ertrinken.
~
(03.11.2015)
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