-30- ➳ Brennende Asche
Ich wusste nicht genau, wie lange ich dort, immer och gegen das Bücherregal lehnend, wie erstarrt stand.
Zuerst fingen meine Füße an zu kribbeln, dann meine Finger und schließlich mein Mund.
Vorsichtig betastete ich meine Lippen und schüttelte harsch den Kopf, als mir klar wurde, dass bis vor wenigen Minuten dort noch Liams Lippen gelegen hatten...
Und erst jetzt wurde mir bewusst, welche Macht er sich damit über mich angeeignet hat.
Allein bei den Gedanken daran wurde mir übel.
Er könnte wirklich alles von mir fordern und wenn ich meine Ausbildung weiterführen wollte, müsste ich ihm gehorchen...
Meine Beine fingen an zu zittern und ich erlaubte mir, in die Hocke zu fahren. Einmal holte ich tief Luft und versuchte meine Gedanken von dem Gefühl des Kusses zu verdrängen.
Warum hatte ich mich nur so gehen lassen!
Ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass das ein Fehler war. Ich hätte einfach, sobald ich Liam am Kamin bemerkt hatte, ein andere Zimmer putzen sollen...
Beim nächsten großen Atemzug schloss ich meine Augen und massierte meine Schläfen. Denn in meinen Kopf schien ein Feuerwerk explodiert zu sein. Er dröhnte und ließ immer wieder Liams Hände auf meinen Körper zum Vorscheinen kommen...
Aber auch all die Intrigen, in die ich wohl reingezogen wurde, seitdem ich beschlossen hatte, zusammen mit Eleanor zu Christopher zu gehen. Ich gab ihn all mein Erspartes um meiner Familie zu helfen, um Probleme zu lösen...
Stattdessen bekam ich nur noch mehr, ich stehe zwischen zwei Fronten und hab keine Ahnung wer die bessere Seite war.
Weder Liam noch Niall schienen mit offenen Karten zu spielen.
Regierung und Rebellen.
Und ich genau dazwischen...
Als ich, immer noch mit klopfendem Herzen, meine Augen wieder aufmachte, starrte ich auf die Wunde in meiner Handfläche. Sie hatte wieder zu bluten angefangen und Gedanken verloren wischte ich die rubinrote Flüssigkeit in meine Schürze.
Es konnte eh nicht viel schlimmer kommen...
Denn nun war ich Niall und Liam ausgeliefert.
Meine Augen wanderten seufzend durch das Zimmer, blieben kurz an dem Fenster hängen, wo die simulierten Fische entlang schwammen, doch fanden ihren Weg schnell zu dem Chaos auf dem Teppichboden.
Die Zettel lagen immer noch im Kamillentee ertränkt da und wie vom Blitz getroffen sprang ich auf.
Wie konnte Liam nur so unvorsichtig sein und sie auch noch hier liegen lassen?
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich mich neben die Zettel hinhockte.
Der süßliche Geruch von Kamille stieg mir in die Nase und haute mir erneut brutal die Erinnerung vom Geschmack seiner Lippen entgegen.
Sanft tupfte ich die Blätter mit meiner Schürze ab und fühlte mich seltsam beobachtet, als ich alle schließlich zu einem kleinen Quadrat zusammenfaltete.
Vielleicht wollte Niall mich für seine Zwecke benutzen und Liam mich erpressen, doch in dieser Hinsicht ging es allein um mich.
Um mich und die Antworten, die mir vielleicht diese Blätter geben würden.
Auch wenn ich wusste, dass ich dennoch alles verlieren, höchstwahrscheinlich ins Exil verbannt würde, schob ich mir die klein gefalteten Zettel in den Ausschnitt.
Und dies geschah nicht zu früh, denn im nächsten Moment ging die Tür auf und eine verwirrte Bellamy streckte ihren Kopf ins Zimmer.
Als sie das Chaos sah, wurde ihr Gesicht aschfahl und langsam öffnete sie den Mund.
„Es tut mir Leid, wirklich, Bellamy... Die Tasse war noch heiß und..." Ich ließ die Begegnung mit Liam ganz weg.
Langsam fing sie an zu nicken und kam auf mich zu.
„Ich werde dir schnell helfen, damit wir beide zumindest noch ein bisschen Pause haben..."
Bevor ich ihr danken konnte, schüttelte sie den Kopf und flüsterte, wohl eher zu sich selbst gerichtet: „Eine halbe Stunde... Eine halbe Stunde alleine hat es nur gebraucht, einen zehntausend Münzen Teppich zu ruinieren..."
Da schloss ich lieber wieder meinen Mund und starrte beschämt auf die Porzellanscherben.
Den ganzen restlichen Tag war ich für nichts zu gebrauchen. Die Nässe der Blätter ließ mich wissen, dass ich vielleicht bald Antworten bekommen könnte... Und dann war da noch Liam, den ich liebend gerne verdrängen würde, der sich aber immer wieder in meinen Kopf schlich.
Ich nahm mir vor, ihm aus dem Weg gehen, damit er mich nicht in irgendeiner Art und Weise erpressen könnte, wobei er dies ja schon tat.
Ich wusste nicht, was genau vor sich ging, was es mit den Wasserkraftwerken auf sich hatte und was Niall plante, aber eines wusste ich.
Nämlich, dass mein Vater wegen genau diesen Stromwerken nach draußen geschickt werden würde, weil er etwas wusste, dass kein andere wissen dürfte.
Ich glaubte ihm nicht mehr, dass damals nur der Alkohol sprach. Denn wenn er trank, war es sein wahres Ich.
Jedes Mal wenn ich die blauen Flecken sah oder die lauten Stimmen hörte, wurde es mir wieder bewusst.
Nicht umsonst würden sie ihn sonst dorthin schicken und Liam wusste es.
Selbst als ich mich umzog war ich noch unruhig und auch Leo schien das zu bemerken. Stumm ließ sie ihren Mund geschlossen und verabschiedete sich mit den Worten, dass sie Syra von mir grüßen würde.
Ich nickte und als sie verschwand lehnte ich mich aufseufzend gegen die Aufzugswand. Ich schloss meine Augen und sofort schossen die Erinnerungen an den Kuss wieder vor mein inneres Auge. Augenblicklich zuckte ich zusammen und öffnete schnell meine Augen.
Ich bemerkte wie eine ältere Frau mich missbilligend musterte und dann arrogant den Blick abwendete.
Die Frau war mir in diesem Moment ziemlich egal, aber langsam verwandelte sich das peinliche Gefühl und der Demütigung in Wut um.
Auf mich selbst und allen denen ich Schuld an dieser Situation zu schob.
Niall, Christopher, Liam, ja sogar meinem Dad.
Ich wusste, dass es nicht richtig von mir war, aber genau jetzt fühlte es sich befreiend an. Die Wut lag nicht so schwer auf den Schultern wie der Fakt, dass ich mich in den Kuss hatte fallen gelassen hatte, geradewegs in die Falle getappt war.
Liam wusste jetzt, dass er mich hin und her schieben konnte wie eine Schachfigur. Auch wenn er, kurz nachdem er sich von mir gestoßen hatte, nicht wie der aufgesetzte, gefährlich charismatische Liam gewirkt hatte, konnte ich mit seinem Gesichtsausdruck nicht viel anfangen.
Und von Niall brauchten wir erst gar nicht anfangen. Denn er war es, der mich als Schachfigur nach seinem Plan verschieben wollte.
Und in genau diesem Moment fühlte ich mich wie ein Bauer, der die Königin stürzen sollte, aber von jeder Seite umzingelt und angreifbar war.
Im Sektor 2b angekommen schlug ich so schnell es ging den Weg nach Hause ein. Meine eine Hand presste ich mir gegen die Brust, um die Gewissheit zu haben, dass die Zettel noch an Ort und Stelle waren.
„Sophia, willst du..." setzte Mum an, als ich die Haustür aufriss und in unsere Wohnung zu schlüpfen. Doch ohne ein Wort an sie zu richten unterbrach ich sie, indem ich schnurstracks in mein Zimmer huschte.
Sam und Clovy waren nicht da. Und zum ersten Mal ließ mich diese Tatsache erleichtert aufatmen.
Mit einem letzten vergewisserten Blick auf die Tür, zog ich vorsichtig die klebrigen Zettel aus meinem BH. Vor Aufregung zitterten meine Hände, als ich die verklebten Zettel auseinander fummelte und schließlich auf meinem Bett ausbreitete. Manche Abschnitte und Zeichnungen wurden durch die Nässe vollkommen verstört, aber dennoch huschten meine Augen von Zeile zu Zeile.
Es war Fachsprache, gestelzt, kompliziert beschrieben, aber dennoch verstand ich den größten Teil. Es war kaum was Neues.
Auf dem ersten Blatt war die Rede vom beschädigten Wasserkraftwerk und schnell griff ich zum nächsten.
Mein Atem ging hektisch und immer wieder wanderte mein Blick zu der Tür.
Das einzige erkennbare war eine Skala, wobei ich nicht wusste, wofür sie bestimmt war. Die Linien gingen ungleichmäßig auf und ab und verliefen in schmieriger Tinte, ausgelöst durch den Tee. Vorsichtig fuhr ich über sie hinweg und überlegte wofür sie stehen könnte. Schließlich wanderte mein Blick weiter auf eine kleine, nur halbwegs entzifferbare Statistik.
OPC n. genügend.
Zeit? Knapp.
Stand daneben in krakeliger Schrift.
Zweidrittel des Kreises waren rot, ein minimaler Spalt schwarz und der Rest blau.
Meine Augen stolperten ein weiteres Mal über OPC und verwirrt hielt ich inne.
Was bedeutete dieses Kürzel?
Leicht biss ich mir auf die Lippe und versuchte einen Zusammenhang zwischen der Skala, der Statistik und der Abkürzung zu schaffen.
Wofür war nicht genügend Zeit?
OPC. Es war keine Abkürzung für ein hohes Ratsmitglied, soweit ich in meinem Gedächtnis grub. Auch keine mögliche Abkürzung für einen der Skyscraper...
Rückgreifen auf WW unausweichlich.
Versucht aus all diesen Wörtern schlau zu werden, hüpfte mein Blick von Abschnitt zu Abschnitt, den man entziffern konnte. Immer wieder tauchten die Kürzel OPC, WW auf. Eine ganze Seite bestand nur noch aus verschmierter Tinte und verbissen wandte ich mich dem letzten Zettel zu.
Das erste was mir ins Auge sprang war Marcus Payne veranlasst...
Was er veranlasste wurde von der Tinte verschlungen.
Aber das zweite, was mir förmlich ins Gesicht sprang war sein Name.
Richard Smith, WW (E.)
Wie erstarrt konnte ich nur auf diesen Fleck des Zettels starren, der wie durch ein Wunder erhalten geblieben war.
„Pack sie weg, bevor jemand sie sieht, Sophia. Es ist gefährlich..." Ich zuckte bei Mums Stimme zusammen und drehte mich blitzschnell zu ihr um.
Sie stand genau hinter mir, einen undefinierbaren Ausdruck auf dem Gesicht und das Geschirrhandtuch noch in der Hand.
Ich hatte sie nicht hereinkommen gehört.
„Mum..." stotterte ich panisch, nicht wissend, was ich ihr sagen könnte. Doch ihre Augen drückten keine Wut oder Verwirrung aus. Sie wirkte noch nicht einmal überrascht.
Langsam wanderte mein Blick von den Zetteln und dann wieder zu Mum. Es war sinnlos, sie jetzt noch verstecken zu wollen. Mum hatte sie erkannt...
„Ich habe gesagt, du sollst sie verschwinden lassen..." wiederholte Mum sich und fing dann, als ich mich immer noch nicht aus Verwirrung bewegte, selbst damit an, die Blätter auf einen Haufen zu schieben.
Erschrocken zuckte ich zusammen und bevor ich in irgendeiner Weise reagieren konnte, hatte sie alle in der Hand und lief in die Küche.
„Mum, was hast du vor, du verstehst nicht..." rief ich verwirrt, ängstlich und erstaunt zu gleich, während ich mich schnell aufrappelte und ihr folgte.
„So etwas könnte deinen Tod bedeuten, Sophia. Wo auch immer du sie her hast, man wird das Fehlen bemerken und es darf keine Hinweise geben..."
Ausdruckslos sah sie mich an, bevor sie sie im nächsten Moment über die kleine Flamme vom Herd hielt.
„Mum!" schrie ich schrill und wollte ihr sie aus der Hand reißen, doch sie drückte mich mit ihrer freien Hand weg. Ihr strenger Gesichtsausdruck jagte mir einen Schauer über den Rücken und brachte mich dazu einen Schritt zurück zu gehen.
„Mum, u weißt nicht..." setzte ich an, verstummte aber schließlich.
Zusammen starrten wir in den kokelnden Blätterhaufen. Die Ränder wellten und kringelten sich, so als wollten sie mit aller Kraft den Todeskampf gewinnen.
Doch es gab kein Entkommen.
„Warum, Mum?" flüsterte ich leise. „Dads Name..."
„Ich weiß." Unterbrach Mum mich und schüttelte langsam den Kopf. „Aber er ist bereits weg. Heute Mittag haben sie ihn abgeholt."
Der Schock überrollte mich unerwartet und ließ mich verzweifelt nach Luft schnappen.
Heute Mittag? Er hatte doch erst von nächster Woche geredet, er war doch durch den gesamten Sektor gelaufen und hatte schreiend um Unterstützung gebeten.... Ich stockte mitten im Gedankengang und mein Blick wanderte wieder zu Mum.
„Das wird sein Tod sein, Mum. Dad wird keinen Tag dort draußen überleben."
Lange hörte man nichts als das Zischen der nassen Blätter, die immer noch darum kämpften zu leben.
„Ich weiß, Sophia." Antwortete Mum erneut und wieder ging ich einen Schritt rückwärts.
Ich hasste meinen Vater, ja, aber dennoch wollte ich ihn nicht tot sehen. Ich hatte nicht gewollt, dass er nach draußen geschickt wurde. Mum jedoch...
Mir wurde übel und langsam schüttelte ich den Kopf. Auch sie hatte die ganze Zeit eine Maske getragen. Keiner trug mehr Ehrlichkeit.
Ein weiterer Schritt nach hinten ließ mich gegen meine Zimmertür knallen.
„Du musst ihn einst sehr geliebt haben..." flüsterte ich heiser und in genau den Moment blickte Mum mich mit Augen voller Traurigkeit an.
„Ja, das habe ich...."
Mit einem beinahe seufzenden Zischen zerbröselte auch das letzte Stücken Papier zu einem Haufen Asche, verschlungen von den Flammen.
Brennende Asche.
Und genau so würde es mit Dad passieren.
Mums Stimme klang leise. Zu leise im Kontrast zu den Worten und der Situation:
„Und ich tue es noch immer...."
~
(22.10.2015)
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