-20- ➳ Sam
Ich wusste nicht was ich sagen konnte. Vollkommen überrascht blinzelte ich sie nur mit offenem Mund an und schüttelte dann langsam den Kopf. „Sag das nochmal..." schaffte ich es endlich zu sagen.
„Ich habe Louis geküsst, Soph." Wiederholte Eleanor und sah mich erwartungsvoll an. Ich realisierte ihre Worte, doch ich konnte es mir nicht vorstellen. Eleanor, das Mädchen, das über Liam und Danielle schwärmte und sonst jedem Jungen dank ihrem Vater abgeneigt war.
Doch Louis...
Langsam breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus und Eleanor atmete erleichtert auf. Sie fiel mir um den Hals und drückte ihr Gesicht in meine Haare. „Ich dachte schon, du entscheidest dich für das Vernünftigere." Murmelte sie und ich verstand was sie damit meinte. Sofort schüttelte ich meinen Kopf und sagte: „Ich will, dass du glücklich bist." Ich stockte, bevor ich etwas leiser fortfuhr: „Und es liegt nicht in meiner Hand darüber zu bestimmen. Genauso wenig wie dein Vater."
Ich hörte sie nicht, aber als ich etwas Nasses an meinem Hals fühlte, wusste ich, dass sie weinte. Genau diese Bestätigung hatte sie gebraucht. Auch wenn ich wusste, dass dies hier, Eleanor und Louis, gefährlich schief gehen konnte, fühlte es sich gut an.
Es fühlte sich gut an die beste Freundin von ihr zu sein und zu wissen, dass sie mich um Rat bat, wenn sie selbst nicht wusste, ob sie auf ihr Herz hören sollte oder nicht.
„Danke." Flüsterte sie, als sie mich los ließ und einen Schritt nach hinten ging. Ich nickte ihr nur zu und strich eine Träne von ihrer Wange, die sich einen Weg ihren Hals herunter erkämpfen wollte. Eleanor fing darüber an zu grinsen und schüttelte den Kopf.
„Kein Ärger mit deinem Vater?"
Eleanor wusste sofort worauf ich anspielte und schüttelte den Kopf. „Kein Ärger mit meinem Vater." Er wusste also bisher von nichts. Ich hatte sie also nicht in Bredouille gebracht.
Sie lächelte mir zu und etwas erschien mir anders an ihr. Aber erst nachdem wir in den Park gegangen waren, uns auf unsere Bank gesetzt hatten und sie mir lachend und kichernd wie ein junges, ausgelassenes Schulmädchen von dem Kuss erzählte, wusste ich, was anders an Eleanor war.
Es war nicht ihre Kleidung, ihre Haare oder ihre Hände.
Nein, es war ihr Gesichtsausdruck, ihr schallendes Lachen, ihre rosigen Wangen und der Ausdruck von purem Glück in ihren Augen, das sie so anders machte.
Sie war voller Lebensfreude, so anders als die letzten Jahre und sofort wurde mir klar, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, als ich ihr sagte, dass sie nicht vernünftig sein musste. Sie so glücklich und ausgelassen zu sehen, ließ auch meine Probleme so unglaublich weit weg erscheinen, so als könnte allein Eleanors Erzählung über das Treffen mit Louis alle in Luft auflösen. Auch an so einem tristen Ort wie der Park konnte es für einen Moment nur ein einziges Gefühl existieren. Fröhlichkeit.
Und ich hoffte, dass Eleanor dies noch lange in ihrem Herzen trug, denn ich wollte mir gar nicht vorstellen, was nach dem Fall passieren könnte.
Als ich in unsere Wohnung eintrat saß Sam alleine am Tisch und schob eine Murmel von seiner einen Hand zur anderen. Als er meinen fragenden Blick bemerkte meinte er: „Mum ist mit Clovy einkaufen."
„Stimmt." Sagte ich, als mir wieder einfiel, dass Mum dies heute Morgen erwähnt hatte. Nachdem ich meine Jacke auf dem Nagel aufgehängt hatte, setzte ich mich auf den Stuhl gegenüber von Sam und fragte mit voller Absicht: „Und was hast du heute so gemacht?"
Sam verharrte in seinem Spiel und nahm die Murmel in die Faust. Dann hob er den Blick und sprach: „Was soll das werden, Sophia?"
„Das weißt du ganz genau."
Er warf mir einen wütenden Blick zu und biss die Zähne zusammen. Er hatte sich verändert. Mein kleiner Bruder, der lachend aus den Einkaufstüten Fallschirme gebaut und davon geträumt hatte, später selbst große Sachen zu erfinden, war nicht mehr so sorgenfrei.
Natürlich nicht.
Wie könnte er es auch in solch einer Zeit sein?
So naiv war er nicht, aber dennoch zu naiv, um den falschen Weg zu wählen.
„Sam..." setzte ich etwas behutsamer an und griff nach seiner Hand, die die Murmel umschlossen hielt. Doch er zuckte zusammen und stand auf.
„Nein, Sophia. Komm nicht schon wieder mit deinen Reden. Ich höre mir das nicht noch einmal an."
„Sam, aber so kann es doch nicht..." setzte ich an, aber er unterbrach mich kopfschüttelnd erneut: „Sag nicht, dass es so nicht weiter gehen kann. Du machst es doch genauso!"
Ich spürte wie ich mein Gesicht erstarrte. Dann stand ich auch auf und fixierte meinen kleinen Bruder. „Das ist was vollkommen anderes, Sam. Das was du machst..."
„Nein, verdammt nochmal ist es nicht, Sophia! Hör mir bitte einmal zu, bevor du darüber urteilst, ein einziges Mal!"
Ich sah das Flehen, aber auch gleichzeitig das Feuer in seinen Augen und genau deswegen fing ich langsam an zu nicken. Sam fing an in unserer kleinen Küche auf und ab zu laufen, seufzte auf und knetete seine Hände, dann blieb er plötzlich stehen, blickte mich direkt an und erzählte mir in einem Tonfall, den ich von ihm bisher noch nie gehört hatte:
„Es ist keine Zeit zu verschwenden. Die Stunden zu nutzen, während alle anderen schlafen, seinem Ziel Stück für Stück näher zu kommen, so gewinnt man, Sophia. Es ist wie ein Lichtschalter, der immer an ist. Er ist immer an."
Wie lange tat er dies schon? Wie lange nutzte er die Stunden schon, während alle anderen, mich eingeschlossen, schliefen?
„Dein Problem ist es, dass du alles alleine machen willst. Du willst alles alleine für uns erreichen. Du verurteilst uns für Sachen, die du hinter unserem Rücken selbst machst, nur weil du Angst hast. Du willst uns alle unterstützen, doch das kannst du nicht. Du kannst es nicht alleine schaffen, genauso wie Mum es nicht alleine schaffen könnte. Unser Leben ist unseres und wir müssen selbst dafür arbeiten, wenn wir wollen, dass es so wird wie es werden soll. Du kannst nicht dafür sorgen, dass meins oder Clovys oder Mums Leben funktioniert, wenn du Schwierigkeiten hast, selbst zu leben." Er redete immer schneller und schneller und mit jedem weiteren Wort drehte sich alles in meinem Kopf ein Stückchen mehr.
„Du kannst Tag und Nacht dafür arbeiten, ja. Du kannst deine Zeit und dein Schlaf dafür opfern, Sophia, doch irgendwann wird es alleine nicht mehr klappen. Egal wie sehr du es dir auch wünschst, egal wie hart du dafür gearbeitet hast. Du hast dir einen Plan ausgedacht, der nur funktioniert, wenn es gut läuft. Doch manchmal laufen die Sachen nicht nach Plan und manchmal tun sie es. Das Leben spielt mit jedem von uns, manchmal gehen Sachen schief. Dann gehen alle Sachen, die schief gehen, schief. Und..." Für einen kurzen Moment stockte er, blickte mir tief in die Augen und es schien, als würden Tränen in ihnen schwimmen.
„...Und ich will da sein, wie du immer für uns da warst. Denn diese Zeiten sind es, wo man Aufstehen muss, so wie es Dad nie gemacht hat. Ich will nicht, dass du dir alles Zerstören lässt, ich will nicht, dass du dir für uns alle alles verbaust. Ich will nicht, dass Mum oder du euch zu Tode sorgt. Ich will nicht, dass ihr euch zu Tode belastet, ich will nicht, dass ihr zerbrecht, aufgibt und aufhört zu leben, weil ihr denkt, dass es vorbei ist. Vielleicht ist es für Dad zu spät, vielleicht auch schon für Mum. Doch du, Sophia, solltest deinen Blick nicht nur auf uns im Sektor 2b gerichtet halten. Du solltest nach vorne schauen, in eine Zukunft, wo du deine Träume erreichst und ich will nicht, dass du dir dies verbaust, indem du nur nach hinten, zu uns schaust."
„Mein... Traum ist es, dass es euch... gut geht." Unterbrach ich ihn stockend und fing an meinen Kopf zu schütteln. Woher kamen diese Worte? Woher kamen diese großen Worte, die mein kleiner Bruder da sprach?
„Und genau dies ist falsch! Es ist nicht der Traum, den du als Kind hattest. Das ist nicht der Traum, von dem du mir als Kind immer erzählt hattest. Es sollte nicht dein Traum sein, denn es die Angelegenheit von jedem einzelnen für sich selbst zu sorgen." Sprach Sam weiter und kam auf mich zu. „Es ist nicht fair, dass du dich um uns, deine beiden Geschwister und unseren Eltern sorgen musst."
Ich biss mir auf die Lippen und flüsterte dann so leise, dass er es nur kaum hätte verstehen können: „Sam, nichts ist fair, doch..."
Diesmal war es Sam, der mich unterbrach. Ich sah das Glitzern in seinen Augen, während er immer und immer weiter sprach. Ich sah Hoffnung.
„Niall sagt es auch. In unserer Welt, in der Welt der unteren Sektoren gibt es den Begriff Fairness nicht. Doch kapierst du nicht, dass es nicht heißen muss, dass dieser Begriff zumindest für uns an Bedeutung gewinnt? Sophia, du hast nicht ohne Grund diese gefälschten Papiere gekauft und ich bin nicht ohne Grund zu Niall gegangen."
Mein Herz klopfte wieder viel zu schnell für meinen Körper, wollte herausspringen und Sam zurückhalten. Doch er hatte Recht. Ich habe Angst und wir beiden haben es nicht ohne Grund getan.
„Es ist irrelevant, was uns passiert. Denn das einzige was relevant ist, ist, was wir dagegen tun werden. Und deswegen bin ich dort." Sprach er weiter. „Nacht für Nacht, Tag für Tag. Denn ich will mit meinem Leben weitermachen können, so wie ich es später will. Und genau dieses Ziel solltest du auch verfolgen. Schau nicht auf den Preis, den ich dafür vielleicht bezahlen muss. Schau weg, so wie du bei deinen Preis weggeschaut hast. Denn wenn wir sehen, was wir vielleicht bezahlen müssen, dann würden wir wahrscheinlich beide aufgeben. Aufgeben, wobei wir dem Ziel doch vielleicht so nahe wären. Ich habe eine Entscheidung getroffen, genauso wie du eine getroffen hast. Und ich gehe aufs Ganze, ich werde nicht aufgeben oder nachgeben, denn Sophia, wenn ich, wenn wir selbst an unsere Träume glauben: Das ist der Tag an dem sie beginnen wahr zu werden." Für einen kurzen Moment stockte er, räusperte sich und fuhr etwas leiser fort: „Wir sollten über all das hinwegkommen, Sophia. Wir sollten all das Schlechte hinter uns lassen und aus dem was uns bleibt das Beste unseres Lebens machen."
Seine Arme ließ er plötzlich kraftlos neben seinen Oberkörper baumeln und mir kamen die Tränen, je länger ich ihn ansah. Er blickte zu Boden, die braunen Haare standen ihm wie immer ab und er hatte immer noch den schmächtigen Körper eines 14 jährigen Jungen. Doch auch wenn er gleich aussah, mein Bruder hatte sich verändert. Und vielleicht sollte ich dies akzeptieren.
„Okay." Das Wort schien über meine Lippen zu stolpern und verblüfft hob Sam seinen Blick. „Es ist okay." Vielleicht war es Zeit los zulassen.
„Sophia..." Ich sah die Tränen in seinen Augen und zog ihn sofort in meine Arme. Wie früher schlug er seine Arme um meinen Hals und vergrub seine Nase unter meine Haare gegen meinen Hals. Ich spürte wie er zitterte, spürte den festen Griff seiner Arme.
„Es ist okay." Flüsterte ich, konnte es aber nicht verhindern, dass mir erst eine Träne und dann noch eine meinen Augen entwischten.
„Danke."
Und als ich ihn weinen hörte, konnte auch ich nicht mehr länger an mich halten.
So weinten wir beide.
Arm in Arm.
Bruder und Schwester.
Und es fühlte sich gut an.
~
(02.09.2015)
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