-16- ➳ Wie eine Ertrinkende an einem Strohhalm
Mum haute ab.
Weinend hatte sie nach ihrer Jacke gegriffen und war verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie gehen würde, vielleicht zu ihrer Arbeitskollegin Anne, doch ganz sicher war ich mir nicht, denn Mum war nicht der Typ Mensch, der sich bei anderen ausweinte. Und sie waren nicht einmal richtig befreundet.
Freundschaften gab es nicht in so einen niedrigen Sektor.
Wenn man jünger war, war es schon wahrscheinlicher Spielkameraden zu haben, bei dem man bleiben konnte, wenn die eigenen Eltern unterwegs waren, oder anders herum. Aber wenn es drauf ankam, war jeder sein eigener Retter.
Umso besonderer war die Freundschaft zu Eleanor.
Und gerade jetzt würde ich nichts lieber machen, als mit ihr im Park auf der Bank zu sitzen, ihre Arme um mich zu spüren und einfach weinen zu können. Ich wollte von ihr gehalten werden, wie meine Mum es in dieser Situation nicht konnte und wollte.
Ich wollte Eleanor alles erzählen, ihr Shirt vollweinen und durch ihre beruhigenden Worte neue Hoffnung schöpfen.
Ich wollte, dass sie eine einfache Lösung für all diese schwierigen Probleme hatte und ich wollte, dass wir beide es endlich schaffen würden, glücklich zu werden.
Doch ich konnte es nicht.
Ich konnte Clovy und Sam nicht ein weiteres Mal alleine lassen und selbst wenn, könnte ich niemals damit klar kommen, dass Eleanor an meinen Problemen zerbrach.
Es schien, dass sie zurzeit etwas glücklicher war und auch wenn ich wusste, dass dieser kleine Frieden nur von kurzer Dauer sein würde, wollte ich ihn ihr nicht zerstören.
Es gab genug andere Menschen in ihrem Leben, die es ihr zerstörten und ich wollte nicht dazu gehören.
Seufzend stand ich in unserem kleinen Waschraum vor dem Spiegel und blickte mir selbst tief in die Augen.
Müde und ohne jeglichen Glanz starrten meine Augen mir entgegen und meine braunen Haare hingen vollkommen verknotet im Gesicht. Unter meinen Augen lagen tiefe schwarze Ringe und meine Lippen waren spröde. Schnell wandte ich meinen Blick ab und wusch mich ohne ein weiteres Mal in den Spiegel zu schauen. Danach kam ich nicht umher meine sowieso schon etwas fettigen Haare zu waschen, um das Blut wegzubekommen. Ich tastete meinen Hinterkopf ab und als ich auf die Wunde traf, zog ich scharf die Luft ein. Es tat weh und brannte höllisch, doch zum Glück war es nur ein kleiner Kratzer. Somit könnte ich einigermaßen beruhigt einschlafen und brauchte keine Angst haben, dass ich in der Nacht verblutete. Das einzige was mir aber wohl oder übel in den nächsten Tagen zu schaffen machen würde, war die Beule, die schon jetzt nicht auf sich warten ließe. Genauso wie die blauen Flecke.
Davon machte ich schon drei aus, als ich die Bluse auszog. Der ganze Stoff stank nach dem billigen Bier und Schnaps und kurzerhand schmiss ich sie zusammen mit meiner Hose und den Socken in die kleine verbeulte Wanne, um den Dreck und den Geruch herauszuwaschen.
Wir hatten nur noch ein kleines Stück von der harten Seife übrig, die die Haut zum Jucken brachte und nur nach fünf Minuten waren meine Hände rot überzogen und brannten, doch diesen geringen Schmerz würde ich auch noch aushalten können.
Gedanklich schrieb ich mir auf die Einkaufsliste, dass wir wieder die richtige Seife kaufen mussten, doch dann wurde mir wieder bewusst, dass wir erst heute neun Münzen verloren hatten und eine weitere Strafe, die auf Dads Kappe ging, unausweichlich war.
Auch würde Dads Gehalt wegfallen, wenn er nicht mehr auf der Arbeit erscheinen konnte und dann würde er auch irgendwann seinen Job verlieren. Das würde unsere ganze Familienkasse zum Absturz bringen. Mum und ich konnten uns nicht alle über Wasser halten.
Vielleicht hatte Dad auch Glück und musste nur über Nacht in einer Zelle hocken.
Vielleicht kostete es nur zehn Münzen Strafe und alles wäre wieder in Ordnung.
Doch so Recht glauben konnte ich selbst nicht dran.
Es war Beamtenbeleidigung auf dem höchsten Grad gewesen und allein dies war schon verheerend. Ganz zu schweigen davon, dass wir für die ‚Obersiedler', wie manche wie Dad sie nannten, nur Abschaum und minderwertig waren.
Und wenn Dad wirklich etwas wüsste, dann würde er nicht so einfache Karten haben...
Ich wrang die Bluse aus und hängte sie auf unserem einzigen verbogenen Metallbügel auf. Meine Gedanken jedoch kreisten weiter.
Denn was sollte Dad schon wissen?
Er arbeitete den ganzen Tag lang in der Kantine und wenn er dort nicht gebraucht wurde in der Werkstatt. Hatte er vielleicht etwas beim Essenausteilen aufgeschnappt?
Oder aber er war wirklich nur betrunken gewesen und hatte Mist erzählt...
„Geht es dir gut?" fragte Sam mich sofort, als ich unser Zimmer betrat. Mit einem Blick sah ich, dass Clovy mit getrockneten Tränenspuren auf den Wangen schon schlief. Mein Blick wanderte wieder zu Sam, der auf seiner Matratze mit angewinkelten Beinen saß und mich ansah.
„Ja, mit mir ist alles in Ordnung. Aber Sam, du kannst nicht..."
„Nein, Dad ist jetzt wichtiger." Unterbrach mich mein kleiner Bruder und ich runzelte meine Stirn.
„Sam, wir müssen darüber noch reden. Weißt du eigentlich wie gefährlich es ist, in dieser Welt hineinzurutschen? Du rutscht schneller ab als du glaubst und wer auch immer dieser Niall ist, du musst ihm sagen, dass du nicht mehr für ihn arbeiten wirst, oder..."
Erneut schüttelte Sam den Kopf und sprach dazwischen: „Du redest über solche unbedeutenden Sachen, wobei du mir doch endlich sagen sollst, was nun mit Dad ist!
Mein Kopf brummte immer noch vom Sturz und genervt von ihm runzelte ich erneut die Stirn. Seine Kriminalität wa keinesfalls unbedeutend, aber als ich das Flehen und die Ungewissheit in seinen Augen erkannte, seufzte ich einmal auf, zog mir mein Nachthemd an und setzte mich auf das Bett, in dem Clovy schon friedlich schlief.
Ich erzählte ihm in Kurzfassung war passiert war, dabei ließ ich aber die Gewalttaten von meinem Vater ausgehend weg. Ich wollte nicht, dass Sam sich noch mehr Sorgen machte und auf dumme Gedanken kam. Außerdem wollte ich gar nicht erst daran denken, was aus Sam würde, wenn er unseren Vater als Vorbild nehmen würde.
Danach blieb es eine Zeit still und Sam starrte nur ausgestreckt auf der Matratze an die schmutzige Decke. Das Licht der Durchsageanlage flackerte einmal kurz auf und warf verzerrte Schatten an die Wände.
„Was denkst du, wird nun aus Dad?" fragte Sam schließlich leise. Er blickte immer noch an die Decke, als ich leise aufseufzte. Ich hatte mich vor dieser Frage gefürchtet, denn ich hatte keinen Schimmer, was ich darauf antworten sollte. Ich entschied mich für die Wahrheit.
„Ich weiß es nicht, Sam. Ich weiß es nicht..."
Erneut war es eine Nacht ohne viel Schlaf gewesen. Mein Rücken tat weh und ich konnte mir vorstellen, dass ich auch dort viele blaue Flecken vorfinden würde. Übermüdet stellte ich fest, dass Mum und Dad beide nicht da waren. Und da ich fast die gesamte Nacht durchgehend wach war, wusste ich, dass Mum auch nicht zwischenzeitlich hier war. Die ordentliche Sitzbank sprach dafür. Doch wo war sie untergekommen?
Mit einem Blick in den Schrank wurde mir klar, dass ich auch bald wieder einkaufen gehen müsste, wenn wir uns bald nicht nur von Staubflocken ernähren wollten. Ich zwang mich zu einem Lächeln, als ich meinen Geschwistern die Schüsseln mit einem Mischmasch aus dem restlichen Joghurt, sowie die letzten Haferflocken.
„Keine Pfannenkuchen?" fragte Clovy enttäuscht. Doch als Sam sagte, dass dies hier genauso lecker wäre, glaubte sie es ihrem älteren Bruder ohne mit der Wimper zu zucken und spielte freudestrahlend weiter mit ihrer Puppe. Es schien fast so, als hätte sie die Ereignisse von gestern vergessen und ich wünschte mir, dass ich es auch so leicht könnte.
Mit Begeisterung aß sie ihren Teil vom Joghurt auf, wobei er, hingegen Sams Notlüge, überhaupt nicht lecker schmeckte. Die Hauptsache war, dass sie etwas im Magen hatten.
„Willst du nichts essen?" fragte mich Sam, als ich die Schüssel wegstellte. Ich schüttelte meinen Kopf und meinte: „Nein, ich bekomme in der Mittagspause etwas. Außerdem habe ich gar nicht so einen großen Hunger..." Mein Magenknurren strafte mich Lügen und erinnerte mich daran, dass bereits gestern Abend das Essen ausgefalle war. Doch ich ignorierte es und zog mich fertig an, um einen erneuten Arbeitstag anfangen zu können, in der Hoffnung etwas von all dem Trubel abgelenkt zu werden. Doch bei dem Gedanken daran erneut Liam zu treffen und seinem prüfenden Blick ausgesetzt zu sein, wurde mir übel.
Es schien so, als würden überall in meinem Leben nur noch unausweichliche Probleme herrschen. Auf der Arbeit war Avaria, die mich nicht mochte, bei der ich aber die Prüfung bestehen musste, nicht zu vergessen, dass ich bereits die erste und leichtere nicht selbständig bestanden hatte. Außerdem war da Liam, der etwas zu ahnen schien und mich damit regelrecht erpresste und bedrohte.
Zuhause musste ich um meine gehbehinderte Schwester, meinen kriminell gewordenen Bruder, meinen Alkoholiker-Vater, sowie um meine Mutter, die jeden Tag müder erschien, fürchten. Dazu kam noch Eleanor, die hinter all ihrem Glück momentan nicht den aufziehenden Sturm erkannte oder nicht erkennen wollte.
Denn eins wurde mir jetzt klar: Irgendwann würde dies alles hochgehen.
Und keiner würde unbestraft davon kommen.
Selbst ich nicht, auch wenn ich mich an die Hoffnung auf ein Schlupfloch, das aus all diesem Drama führte, klammerte, wie eine Ertrinkende an einem Strohhalm.
Leo sah mir sofort an, dass mit mir etwas nicht stimmte, doch ich war ihr dankbar dafür, dass sie mich nicht darauf ansprach, sondern mir erzählte, dass Avaria beim Unterricht am gestrigen Tag schlecht gelaunt war. So gesehen war es also nichts neuen und somit konnte ich nur hoffen, dass die Folgen meines Schwänzens nicht allzu hoch ausfallen würden.
Flynn holte uns beide gut gelaunt ab und erklärte uns, dass wir ihm beide beim Umpflanzen der Tulpen helfen würden.
Trotz der Tatsache, dass ich mit Leo zusammen im Garten arbeiten durfte, war ich nur mäßig begeistert. Denn meine Gedanken liefen immer noch auf Hochtouren, wohingegen mein Kopf mich anschrie, dass ich gar nicht die erforderliche Energie zum Denken hatte. Irgendwann ging ich in den Energiesparmodus über und blendete alles um mich herum aus. Mechanisch versenkte ich die Schaufel in der Erde, grub die Pflanzen aus und legte sie in einem Eimer, um sie nachher an eine andere Stelle wieder vergraben zu können.
Dies ging bis zum Abend so weiter und der einzige Lichtblick in dieser ganzen Situation war, dass ich in der Küche nicht mit Justice zusammen arbeiten musste, oder schlimmer noch: Liam den Tee bringen musste. Allgemein schrumpfte von Stunde zu Stunde meine Panik, dass jeden Moment ein Angestellter in den Garten kommen würde und mir Bescheid gab, dass Liam mit mir sprechen wollte.
Und so verging der Tag.
Ich fuhr ohne Leo mit dem Aufzug, da ich nicht wollte, dass sie mich fragte, ob ich mit zu Syra wollte. Denn ein weiteres Mal konnte ich nicht ablehnen, da ich ihr meine Hilfe versprochen hatte. Außerdem könnte ich ihrem prüfenden Blick nicht standhalten.
Zuhause entschied ich mich dazu, einkaufen zu gehen. Der Markt war bereits vorbei, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als in den kleinen Laden im Sektor 2a zu gehen. Auf dem Rückweg könnte ich vielleicht auch bei Eleanor vorbeischauen, um zu sehen, ob zumindest bei ihr noch alles in Ordnung war.
Die Lebensmittel wurden trotz schlechter Qualität zu enorm hohen Preisen verkauft, doch damit wir heute Abend nicht verhungerten, reichte ich dem schmierigen Typ an der improvisierten Kasse zwei Münzen für ein halbes altes Laib Brot und einem verschrumpelten Apfel. Vielleicht könnte ich daraus Apfelmus zaubern, sodass das Brot nicht allzu trocken schmeckte und im Hals stecken blieb...
Mit den Lebensmitteln in der Hand entschied ich mich gegen einen Besuch bei Eleanor. Denn auch sie würde wie Leo sofort erkennen, dass etwas nicht mit mir stimmte und würde sofort nachhaken.
Sam und Clovy waren nicht da, als ich nach Hause kam und inständig hoffte ich, dass Sam nicht erneut seine krummen Sachen abzog.
Gedankenverloren starrte ich auf den Topf, in dem das Apfelmus vor sich hin köchelte und einen leckeren Geruch hinterließ.
Mein ganzer Körper tat bei jeder Bewegung weh und auch die Gartenarbeit hatte nicht zur Besserung geführt, sodass ich mich seufzend auf den Stuhl niederließ und meinen Kopf in die Hände stützte. Ich bekam nicht mit, dass die Tür geöffnet wurde und zuckte deswegen zusammen, als mich jemand am Arm berührte.
„Anne hat mir wieder Marmelade mitgeben." Meinte Mum und stellte das kleine Glas auf den Tisch. Dann fing sie an ihre Jacke auszuziehen und das Zopfgummi aus ihren Haaren zu ziehen. „Es riecht gut, machst du Apfelmus?" Sie schnupperte einmal in der Luft herum und lächelte mich dann.
„Wo warst du, Mum?" Verwirrt über ihre gespielt fröhliche Art runzelte ich meine Stirn. Noch gestern hatte sie mich angeschrien, dass es alles meine Schuld war, nun aber, lächelte sie mich an, während sie mir eine Marmelade zeigte?
„Ich war bei Anne." Sie strich sich über die Arme. Sie trug nur ein ausgeleiertes Top und müsste fürchterlich frieren. Selbst mir mit meinem Flanellhemd war es kalt.
„Das kann ich dir aber nicht so recht glauben..." erwiderte ich, stand auf und reichte ihr ihre Strickjacke, die sie dankbar entgegen nahm.
„Davor bin ich etwas herum gelaufen und war arbeiten, mach dir mal nicht so viele Gedanken, Schatz. Ich soll übrigens ganz lieb von Anne grüßen. Bist du dir sicher, dass du mit Harry nicht in einen Jahrgang gegangen bist? Er ist in deinem Alter und hat gestern erst seine Ausbildung bestanden, und zwar in..."
„Mum," unterbrach ich sie und verschränkte meine Arme, „was ist mit dir los? Du warst die ganze Nacht nicht hier, hast mich gestern noch als den Sündenbock dargestellt und redest nun über den Sohn deiner Arbeitskollegin, den ich nicht einmal kenne! Was zur Hölle ist passiert?" Ich sah ihr in die Augen, doch sie unterbrach den Augenkontakt und blickte zum Herd.
„Ich glaube, das Apfelmus ist fertig, Schatz." Wollte sie sich herausreden, doch ich schüttelte meinen Kopf. „Das Apfelmus kann warten." Es fühlte sich wie ein Rollentausch an, wie ich hier saß und meine Mum zu Rede stellte, doch ein mulmiges Gefühl verbreitete sich in meinem Körper.
„Hast du etwas von Dad gehört?"
Sie schüttelte nur den Kopf und ging dann selbst zum Herd und rührte den Apfelmus einmal um.
„Nein, aber vielleicht ist er auf der Arbeit. Meinst du, wir müssen drei Münzen Strafe bezahlen? Denn ich habe heute meinen Gehalt bekommen und sonst würde ich gerne nach einem neuen Pullover für Clovy...."
Ich unterbrach sie entgeistert: „Mum? Kapierst du eigentlich die Ausmaße von Dads Vergehen? Es war Beamtenbeleidigung! Das stecken die nicht einfach so weg, außerdem hat er andere geschlagen." Ich stand auf, doch Mum drehte sich von mir weg.
„Ach, Schatz, das musst du falsch aufgefasst haben, du kennst doch deinen Vater. Er ist schon immer stur gewesen, aber im Inneren kann er keiner Fliege etwas zur Leide tun, also höre doch auf so ein Quatsch zu erzählen..."
Bei Mums gespielt sanfter Stimme, platzte mir endgültig der Kragen und entgeistert ging ich einen Schritt zurück. „Sag mal, bekommst du etwa nichts mehr mit? Er kann keiner Fliege etwas zu Leide tun? Wonach sieht das denn bitte dann aus?" Ich zerrte den Ärmel meines Hemdes hoch und hielt ihr die blauen Flecken direkt unter die Nase.
„Sieht das so aus, als hätte ich die mir beim Kochen zu gezogen? Ja?" Wütend ließ ich meinen Arm wieder sinken und bemerkte nur nebenbei, dass es leicht verbrannt roch. Doch es war mir vorerst egal.
Das einzige, was ich Beachtung schenkte, war die unbändige Wut, die schon seit so langer Zeit tief in meinem Körper schlummerte.
Es war mir egal, dass aus Mums Augen erneut die Tränen strömten und sie immer wieder den Kopf schüttelte.
„Weißt du eigentlich, was du alles mit deiner Sturheit anrichten kannst? Oder nein, weißt du was? Ich muss jetzt erstmal hier weg..."
Ich schrie meiner eigenen Mutter ins Gesicht. Etwas, woran ich vorher noch nicht einmal gedacht hätte. Doch es wurde mir hier alles zu viel.
Alle hatten sie hohe Anforderungen, selbst ich legte meine Erwartungen zu hoch.
Kopfschüttelnd drehte ich mich um und schnappte mir meine Jacke. Da ich meine Schuhe noch anhatte, konnte ich so unsere Wohnung verlassen. Mum sagte gar nichts mehr.
Als ich den dunklen Korridor entlang ging, stiegen mir immer mehr die Tränen in die Augen. Schuldgefühle gegenüber meiner Mutter machten sich in mir breit, doch zurück wollte ich dennoch nicht. Ich brauchte Bewegung und frische Luft.
Doch das Letztere würde ich hier nicht bekommen...
Wie von selbst fand ich mich ein paar Minuten später im quietschenden Aufzug wieder, der mich in den Sektor 2a brachte. Erst als er mit einem Rumpeln zum Stehen kam, wurde mir klar, dass meine Füße wie von selbst zu Eleanors Wohnung laufen wollten.
Eigentlich wollte ich meine beste Freundin aus all dem heraushalten, aber vielleicht könnte sie mir bei der Sache mit Mum helfen, denn darüber reden musste ich auf jeden Fall.
Ich klopfte an ihre Wohnungstür und nach einer Weile ertönte das altbekannte Schlürfen von Eleanors Vater.
Genervt riss er die Tür auf und raunzte mir „Was?" entgegen.
„Ist Ellie da?" fragte ich und zwang mich zu einem leichten Lächeln. Sofort verzog sich sein Gesichtsausdruck und er verschränkte seine Arme vor seiner Brust.
„Sie sagte, sie wär mit dir im Park..." Misstrauisch hob er die Augenbraue und mir rutschte das Herz in die Hose. Selbst ich spürte wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Mir wurde sofort klar, was das zu bedeuten hatte, denn es würde nur einen Grund geben, warum sie ihrem Vater sagen würde, dass sie sich mit mir treffen würde...
Louis.
„Oh." Brachte ich heraus und zwang mich dazu nicht zu stottern, „dann wartet sie wohl dort auf mich. Ich bin nämlich spät dran und dachte, ich könnte sie abholen... Dann bis irgendwann Mr. Calder!" Schnell drehte ich mich um und ging mit eiligen Schritten davon. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, umso erleichterter war ich, als ich um die Ecke bog und stehen bleiben konnte.
„Scheiße!" fluchte ich leise und schüttelte meinen Kopf. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
Hatte ich nicht vorhin noch gesagt, dass ich nicht diejenige sein wollte, die Eleanor ihren kleinen Frieden zerstören wollte?
Doch genau diese Person war es jetzt wahrscheinlich?
Ich musste sie zumindest warnen, damit sie auf die Fragen von ihrem Vater, die sicherlich auch kommen würden, sobald sie zuhause war, richtig und vorbereitet antworten konnte. Sie war sicherlich Louis im Sektor 1b...
Innerlich sträubte sich alles dagegen in den Gefahrensektor zu fahren, doch ich redete mir ein, dass schon seit ein paar Wochen keine Vorfälle mehr passiert waren und auch heute keine mehr passieren würden.
Die kleine Warnlampe im Aufzug leuchtete mir ermahnend rot entgegen, doch auch diese versuchte ich zu ignorieren, als ich im Sektor 1b ankam. Ich war so gut wie noch nie hier gewesen, da meine Mum einfach zu viel Angst um mich gehabt hatte, sodass sie mich auch nicht zu meinen Klassenkameraden, die hier wohnten, gelassen hatte. Aus einem Grund, den ich damals nicht verstehen konnte, mir aber jetzt umso deutlicher wurde.
Denn von diesen fünf Klassenkameraden, die im Sektor eins wohnten, hatten nur noch zwei die Ehre atmen zu dürfen...
Ich wusste nicht wo Louis lebte und eigentlich hatte ich gedacht, dass ich mich vielleicht durchfragen könnte. Doch die Eingangshalle war wie ausgestorben. Dreck rieselte von der Decke, Ratten kreuzten meinen Weg und bevor ich überhaupt aufquieken konnte, waren sie schon in den riesigen Müllbergen verschwunden.
Vielleicht war dies doch nicht die beste Entscheidung gewesen, denn wenn hier die Leute wie im Sektor 2 waren, dann würden sie ganz sicher nicht hilfsbereit sein.
Gerade als ich mich dazu entschieden hatte, am Fahrstuhl auf Eleanor zu warten, raschelte etwas und ich vernahm Stimmen. Vielleicht waren es welche, die ich nach Louis fragen konnte...
Doch bevor ich auf gut Glück auf sie zulaufen würde, wollte ich nachschauen, ob es nicht vielleicht doch Obdachlose waren, die mir meine Jacke vom Körper reißen würden.
So leise wie ich konnte, umrundete ich den einen Müllberg um die Stimmen Personen zuordnen zu können. Sie waren nur ein paar Meter entfernt und standen sich gegenüber. Mein Blick lag auf dem Jungen, der mir den Rücken zugewandt hatte.
Mein Herz blieb für einen kurzen Moment stehen, als ich den schmächtigen Körperbau, sowie die hellbraunen verwuschelten Haare meines Bruders erkannte.
Was zur Hölle machte er hier im untersten der unteren Sektoren? Es konnte doch nicht sein, dass er-
Sofort sah ich zu der anderen Person. Mein Blick wanderte über dünne Beine, bekleidet mit einer zerrissenen dunklen Jeans, über ein ausgeleiertes Tshirt und traf dann schließlich auf ein Paar blaue Augen, die geradewegs in meine sahen.
Und in diesem Moment fühlte es sich so an, als würde mein Herz ganz stillstehen.
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(04.08.2015)
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