-13- ➳ Rollenspiel
Mein Herz.
Es war ein Wunder, dass es überhaupt noch weiter schlug.
Denn die Panik schoss durch meinen ganzen Körper, füllte die kleinste Lücke in mir aus und nahm mir die Kontrolle.
Wie durch einen Schleier beobachtete ich, wie Liam mit langsamen Schritten auf die Sitzecke zuging.
Seine Schritte jedoch hallten unendlich laut in meinem Kopf.
Genauso wie seine Worte.
Ich denke, dass du nicht mit offenen Karten spielst...
Wusste er es?
Wusste er, dass ich gefälschte Papiere besaß?
Ich nahm all meinen Mut zusammen, versuchte die Panik zu vertreiben, indem ich mehrmals blinzelte und haspelte dann atemlos: „Wie meinen Sie das, Mr. Payne?"
Meine Stimme klang rau und meine Antwort kam viel zu spät. Hätte er auch nur einen Fünkchen Menschenverständnisses, wüsste er spätestens jetzt, dass etwas nicht stimmte.
Liam schenkte sich seelenruhig Tee ein.
„Das weißt du ganz genau, meine liebe Sophia, Sophia Smith."
Er wendete sich wieder zu mir um und hob die Tasse an seine Lippen. Mein Herz jedoch setzte ein Schlag aus und es kam mir so vor, als würde alles vor meinen Augen verschwimmen.
Ich hatte alles verloren.
Was würde bloß aus Sam und Clovy werden, wenn ich aus dem Skyscraper verbannt wurde?
„Hm, Sophia..." meinte Liam, nachdem er einen Schluck vom Tee genommen hatte und hob seinen Zeigefinger. „Der Tee ist ja schon wieder etwas kalt. Außerdem nehme ich immer zwei Stückchen Zucker, statt eins."
Er grinste mir zu und perplex sah ich ihn an, nicht in der Lage mich vor Angst zu bewegen.
„Mr. Payne, wirklich...." Setzte ich an, wobei ich selbst nicht wusste, was ich sagen wollte. Meine Gedanken kreisten.
Was konnte ich sagen?
Welche Wörter würden etwas retten, was schon verloren war?
Mein Blick huschte hin und her, unter Liams wachsamen Augen bekam ich keine Luft mehr und meine Gedanken überrollten mich wie ein Zug.
„Sophia, egal was du nun sagen wirst - es wird egal sein."
Ich schrie.
Innerlich schrie und weinte ich zugleich.
Ich wollte nur noch hier weg, von all dem.
Ich wollte wieder zurück zu meiner Familie, zu Eleanor und die Chance haben noch einmal von vorne anzufangen.
Ich wollte nicht mit 13 Jahren gesagt bekommen, dass meine neugeborene Schwester nicht normal war.
Ich wollte nicht meinen Vater aus dem Weg gehen müssen.
Ich wollte nicht jeden Tag mit ansehen, wie Mum sich von Tag zu Tag mehr zu Tode schuftete.
Ich wollte eine zweite Chance bekommen.
Ich wollte wieder im Sektor 3c arbeiten.
Ich wollte wieder meine erste Ausbildung anfangen.
Ich wollte mehr Zeit zum Lernen haben.
Ich wollte sie schaffen, ohne dass ich eine gefälschte Prüfungsbescheinigung gebraucht hätte.
Doch dies war nicht möglich.
„Setz dich doch." Er klang freundlich und zeigte mit seiner Hand auf einem Sessel ihm gegenüber.
„Mr. Payne..." Rau und kratzig war meine Stimme im Vergleich zu seiner.
„Oh, Sophia. Erst vorgestern habe ich mit dir alles gelernt. Tust du nur so oder hast du wirklich alles vergessen? Zwei Abzugspunkte dafür. Und nun setz dich doch bitte, Sophia."
Mit zögerlichen Schritten kam ich auf ihn zu und ließ mich im gegenüber auf dem Sessel nieder. Mein Kopf schrie, dass ich von hier, vor seinen wachsamen braunen Augen fliehen sollte, doch das durfte ich mir nicht erlauben. Deswegen überschlug ich meine Beine und strich mir nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ich konnte Liam nicht ins Gesicht schauen.
„Weißt du, Sophia, Sophia Smith?" Nun huschte mein Blick doch zu ihm. Er saß dort wie ein Sieger. Das eine Bein auf dem anderen abgestützt, Arm auf der Lehne, Rücken angelehnt, Teetasse in der Hand und ein charmantes Lächeln auf den Lippen.
Er sah aus wie ein Sieger und er wusste es.
„Weißt du, was einmal meine Schwestern zu mir gesagt haben?" Er hob die Tasse, ließ sie im gleichen Moment aber wieder sinken und fuhr fort. „Du musst wissen: Nicola und Ruth sind ein paar Jahre älter als ich und haben früher sehr oft Rollenspiele gespielt. Ich als ihr kleiner Bruder war perfekt als ihre Marionette geeignet. Nicht nur einmal habe ich gesagt bekommen, dass ich nicht überzeugend im Spiel herüber komme. ‚Man sieht dir an der Nase an, dass du keine Prinzessin bist. Verhalte dich doch endlich so!' oder ‚Nur weil du ein Anzug von Papa anhast, heißt das nicht, dass du dich auch wie ein Erwachsener benimmst!' musste ich mir jeden Tag beim Spielen anhören. Im Laufe der Zeit habe ich ihre Sichtweise auf solche Kleinigkeiten bekommen, Sophia, Sophia Smith."
Er nahm einen Schluck Tee, bevor er, ohne sich von meinem entsetzten Gesichtsausdruck stören zu lassen, fortfuhr: „Und weil ich früher für meine Schwestern in die verschiedensten Rollen schlüpfen musste, weiß ich, worauf es beim Schauspielern ankommt. Ich könnte mich wütend oder verliebt zeigen, obwohl ich es gar nicht bin."
Er stockte, sah mir direkt in die Augen und sein Lächeln wurde noch etwas breiter.
„Oder aber ich bin freundlich, rein aus Anstand und Höflichkeit..."
Er stellte die Teetasse beiseite und faltete seine Hände im Schoß. Mir jedoch kroch es kalt den Rücken herunter. Hieß es, dass er gar nicht nett zu mir war? Wollte er mich nur in Sicherheit wiegen, bevor er mich dann brutal von der Klippe stieß?
„Aber was ich eigentlich sagen wollte," Er beugte sich vor und zwinkerte mir leicht zu. Dadurch verunsicherte er mich nur noch mehr und unruhig rutschte ich auf dem Sessel hin und her, bis er fortfuhr, „ist, dass ich sofort erkenne, wenn jemand versucht in eine Rolle zu schlüpfen, in die er nicht passt. Sophia, du versuchst etwas zu sein, was du nicht bist. Du willst die Rolle einer Prinzessin, stolperst aber über deine eigenen Füße. Es kommt mir unpassend vor, verstehst du was ich meine?"
Nein, ich verstand ihn nicht.
Langsam schüttelte ich meinen Kopf, denn es existierte immer noch einen Fünkchen Hoffnung, dass ich dies hier überstehe würde.
Dass er irgendeinen Spaß machte und etwas völlig banales meinte.
Vielleicht würde ich dann heute Abend zuhause sitzen und darüber lachen können.
„Sophia, Sophia Smith. Streng dein Köpfchen doch mal etwas an. Dies alles hier ist ein reines Theaterspiel, du spielst die Prinzessin und ich als Zuschauer suche den Fehler, wie du es geschafft hast, an diese Rolle zu kommen. Vielleicht bleibt manches im hinteren Schatten der Tribüne versteckt, doch eins kann ich dir versprechen, meine liebe," Er beugte sich vor und automatisch hielt ich die Luft an, „Ich werde es herausfinden. Denn irgendjemand zieht die Fäden bei einem Stück. Nun ist nur die Frage, wer diese Fäden in der Hand hält."
Für ein paar Sekunden herrschte nichts als Stille, wir sahen uns in die Augen und ich war nicht fähig zu atmen. Es schien, als hätte er mir all die Luft weggenommen, mir ein Gewicht auf die Brust gelegt, um mich herunter zu ziehen.
Doch plötzlich ließ er sich wieder gegen die Rückenlehne fallen, setzte sein charmantes Lächeln auf und meinte in einem höflichen Tonfall: „Das wäre alles, Sophia, Sophia Smith. Sag Margarete doch bitte, dass ich dir zwei Pluspunkte gegeben habe."
Verwirrt, verängstigt und nicht in der Lage zu atmen sprang ich förmlich aus dem Sessel auf und stolperte mehr oder weniger zu der Tür heraus. Im Flur blieb mir nichts anderes übrig, als mich neben dem Bild an der Wand anzulehnen und verzweifelt nach Luft zu schnappen. Meine Beine zitterten so stark, dass sie nicht mehr in der Lage waren mich zu tragen und so ließ ich mich langsam zu Boden gleiten.
Es war wie ein Tsunami, der über mir zusammenbrach und alles mit sich riss, mich ertränken wollte.
All die Panik, all die Angst kam wieder.
All meine Hoffnungen, Wünsche, Pläne wurden davongespült, wurden immer unerreichbarer für mich.
Die Tränen kamen zuerst zögerlich, strömten dann aber in Sturzfluten mein Gesicht hinab, hinterließen eine nasse Spur und tropften von meinem Kinn.
Verzweifelt versuchte ich dagegen anzukämpfen, so wie ich es immer tat.
Denn immerhin funktionierte mein Verstand noch so gut, dass er mir zu schrie, mich zusammen zu reißen, da ich im Wohnflur der Familie Payne saß.
Als ich die eine Ecke meiner Schürze hob, um mir damit die Tränen wegzuwischen, wurde mir klar, dass dieses Gewicht nicht auf meiner Brust lag.
Denn sie lag auf meinen Schultern.
Und als ich aufstand wurde mir noch etwas klar.
Etwas, was mir Hoffnung gab.
Etwas, was ich kannte.
Denn ich trug schon so viel auf meinen Schultern, da würde ich auch das Gewicht von Liams versteckter Drohung ertragen können.
Ich war stark genug, um immer noch meinen Kopf stolz gerade zu halten.
Denn im Endeffekt war es genau das, was ich schon mein Leben lang machte.
Und genau das war es, was mich schließlich, den Zettel in meiner Schürzentasche, dazu trieb, diese Entscheidung zu treffen.
Während ich in den Umkleideraum lief, hob ich meinen Kopf und wischte mir die Tränen weg.
„Sophia?"
Ich hatte gehofft, nicht ihre Stimme zu hören. Ich wollte mich nicht vor ihr rechtfertigen müssen.
„Sophia, du weißt schon, dass wir heute noch Ausbildungsunterricht haben, oder?" Leo stand im Türrahmen und runzelte die Stirn, während sie mir dabei zu sah, wie ich in meine Hose schlüpfte.
„Ich weiß." Meinte ich nur in der Hoffnung, dass sie einfach wieder gehen würde.
„Und warum ziehst du dich dann schon um? Avaria wird..."
„Ich werde nicht hingehen." Unterbrach ich sie und knöpfte mir schnell meine Bluse zu, bevor ich in meine Schuhe stieg.
„Wie meinst du das?" Leo kam auf mich zu, ihre Stirn war immer noch gerunzelt und skeptisch musterte sie mich. „Ist etwas passiert?" Sie stockte, als ich meinen Blick hob. Man sah bestimmt noch die Tränenspuren. „Okay, es ist etwas passiert...."
„Mir bleibt keine andere Möglichkeit. Es ist wichtig. Dies hier ist meine Hoffnung, mein Traum vom neuen Leben, aber bevor ich diesen erreichen kann, muss ich Sachen in Ordnung bringen, die schon viel zu lange falsch sind..."
Ich brauchte nicht mehr Worte zu sagen, damit sie verstand was ich meinte und langsam nickte sie. Als ich nach meiner Jacke griff und den Raum verlassen wollte, hielt mich Leo am Arm zurück: „Ich werde ihr sagen, dass du krank bist, aber sie wird es mir nicht glauben."
Ich nickte. Das wusste ich. Avaria war keine Person, die so eine Lüge aus der Hand fressen würde. Denn sie wusste, dass wir Menschen aus den unteren Sektoren keine waren, die sich von einer Krankheit abbringen lassen würden.
„Trotzdem danke." Und es stimmte. Ich lächelte ihr einmal aufmunternd zu, auch wenn mir selbst nicht danach war und öffnete die Tür. Doch bevor ich das Zimmer verlassen konnte, sagte Leo zu mir: „Was auch immer du tust, Sophia. Es ist nicht der Erfolg der dich ausmacht. Es ist der Charakter und der Wille. Und so gewinnt man. So wirst du gewinnen, Sophia, auch wenn es alles unmöglich erscheint. Irgendwann wird dies alles passieren."
Mit einem traurigen Lächeln blickte ich in das Gesicht von dieser jungen Frau, die in dieser kurzen Zeit so eine gute Freundin geworden war.
„Und es gibt Zeiten, in denen alles, was passieren kann, auch passieren wird."
Unsere Blicke verhakten sich und ein weiteres Mal wurde mir bewusst, wie feinfühlig Leo in dieser Hinsicht war. Es schien, als wüsste sie ganz genau, was ich vorhatte.
„Danke." Flüsterte ich und mit einem aufmunternden Lächeln sah sie mich an, als ich die Tür schloss, den Zettel, den ich unter Sams Matratze gefunden hatte, mit meiner Hand umschloss und mich zum Verfasser -C. aufmachte.
-C. wie Christopher.
-
(10.07.2015 )
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro