-7- ➳ Gespräche
Keiner von uns war gänzlich ruhig. Dies konnte man deutlich daran erkennen, dass sich jeder nach allen Seiten umsah, immer auf der Suche nach etwas Verdächtigtem.
Meine Schultern und mein Rücken schmerzten von dem schweren Rucksack, nicht zu vergessen meine angeschlagenen Knochen. Alles tat mir weh und wollte mich in die Knie zwängen.
Doch ich wusste, dass das nicht ging und ein Blick auf die anderen, die sich ebenfalls abmühten, reichte mir, um weiter zu laufen.
Ich erkannte in Sams Gesicht, wie er seine Zähne zusammenbiss, leicht seine Augen zukniff und sich immer wieder die Haare aus der Stirn strich, dass auch ihm so langsam die Kraft zu neige ging. Nichts lieber wollte ich als ihn zu helfen, doch gleichzeitig wusste ich, dass es nicht ging.
Ich kam ja nicht einmal mit meiner eigenen Last zu recht...
Wir liefen bereits seit über zwei Stunden und die Gegend hatte sich immer noch nicht geändert.
Immer noch mussten wir über Geröll, Müll und Schutt laufen und immer noch befanden sich zu jeder unserer Seite riesige Skyscraper. Ich musste mich dazu zwingen, nicht darüber zu überlegen, wie nah wir eigentlich dem alltäglichen Leben waren.
Nur wenige Meter entfernt, getrennt von einer meterdicken Wand, standen die Menschen auf, kochten, redeten, arbeiteten und lachten. Manche werden sich mit den gleichen Sorgen herumschlagen, die auch mich noch vor wenigen Tagen gequält hatten, manche hingegen würden genauso wie Liam früher in den Tag hineinleben, vielleicht einen hohen Posten anstreben um in baldiger Zukunft das Zepter der Macht in der Hand halten zu können.
Das Zepter über das Leben, das nur so wenige Meter entfernt war.
Doch wir befanden uns auf der andere Seite.
Auf der dunklen, schon seit Jahrzehnten gefürchteter Kehrseite der Münze.
„Woran denkst du?", unterbrach plötzlich Liam meine Gedanken. Überrascht blinzelte ich ihn erst ein paar Sekunden an, da er noch vor wenigen Minuten an der Spitze unserer kleinen Gruppe gegangen war. Er schien sich zurückfallen gelassen zu haben.
Mein Blick wanderte dann zu Sam, der neben mir lief, sich dabei aber leise mit Harry unterhielt.
Ich fuhr einmal über den Träger meines Rucksackes, bevor ich die Gegenfrage stellte: „Musst du nicht den Weg zeigen?"
Liam lächelte leicht, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, Megs hat die Karte und momentan müssen wir nur noch gerade aus laufen."
Leicht nickte ich, richtete dann aber meinen Blick wieder nach vorne, um nicht über Geröll zu stolpern.
„Also, Sophia, Sophia Smith: Woran denkst du?", hakte er erneut nach und seufzend strich ich mir über meine wirren Haare.
„Ist das denn so wichtig?", entgegnete ich, da ich mich gerade nicht gerade in der Stimmung war, mich mit Liam zu unterhalten.
Ihm schien es jedoch anders zu gehen, denn ich sah ihn im Augenwinkeln nickten, während er meinte: „Ja, ist es. Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber es scheint, als würde mich der Rest dieser Truppe meiden wollen..."
„Kannst du es ihnen verübeln?", sprach ich sofort, wobei ich meinen Blick immer noch stur nach vorne gerichtet hielt und mich dazu zwang, meine müden Beine immer weiter zu treiben.
Für ein paar Minuten blieb es still, Liam lief weiterhin neben mir und starrte auch nach vorne. Gerade als ich dachte, dass unser Gespräch beendet war und meine Gedanken wieder zu den Skyscrapern wanderten, seufzte Liam auf.
„Nein, kann ich nicht. Aber eine unterschiedliche Stellung in dem Leben, das wir hinter uns gelassen haben, sollte doch nicht dazu führen, dass sie mich hassen."
„Genau das ist es, Liam", entgegnete ich gereizt, „sie hassen dich, weil du genau dies zugelassen hast. Du hast zugestimmt, dass man darüber urteilt, dass das Leben in den unteren Sektoren weniger wertvoll ist und jetzt verlangst du, dass wir dir verzeihen und dich mit offenen Armen empfangen?"
Unverständnis breitete sich in meinem ganzen Körper aus, gepaart mit einem Hauch von Wut darüber, dass Liam so einfach zu denken glaubte.
Ich beschleunigte meine Schritte, um wieder zu Sam aufzuschließen und um Liam hinter mir zu lassen. Doch dieser tat das gleiche und blieb somit auf meiner Höhe.
„Du hast es schon getan", sprach er und ich konnte es nicht verhindern, ihn anzustarren.
„Was?", fragte ich und verschränkte meine Arme vor meinem Oberkörper.
„Du hast mir schon verziehen, Sophia, Sophia Smith."
Mir stockte der Atem bei seiner Art und Weise. Er konnte es unmöglich ernst meinen.
„Nur, weil ich dich nicht mit meinen Blicken ermorde, so wie es gewisse andere Personen machen, heißt es nicht, dass ich dir verziehen habe, Liam. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, aber du musst echt krank im Hirn sein, wenn du echt dieser Meinung bist."
Kopfschüttelnd zwang ich meine Füße weiter zu laufen, auch wenn ich mich am liebsten hingesetzt hätte. Doch eine Pause würde jetzt nur noch schaden, meinen Körper nur noch müder werden lassen und uns nicht weiter zum Ziel bringen.
Wir konnten von Glück sagen, dass wir noch keinem weiteren Tier begegnet waren. Mason musste wohl Recht damit gehabt haben, dass sie hauptsächlich nachtaktiv waren...
„Aber dennoch bist du nicht wie die anderen, Sophia, Sophia Smith", sprach Liam erneut und stöhnend fuhr ich mir über mein Gesicht.
„Kannst du mich bitte in Ruhe lassen?"
„Dann sag mir, woran du denkst", entgegnete er blitzschnell und augenrollend gab ich nach: „Gut, was ich denke? Ich denke daran, dass wir hier, nur wenige Meter von dem Leben im Skyscraper entfernt sind und die Menschen in ihnen keinerlei Ahnung von uns haben. Sie gehen ihrem Alltag nach, auf ihrer Seite der Wand, während wir hier, auf der anderen Seite, um das Überleben kämpfen müssen..."
Als er still blieb, stieß ich einen leisen, erleichterten Seufzer aus und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich war nicht schnell gereizt, ganz und gar nicht, aber Liams Art und Weise, wie er dachte, ich wäre ihm nicht böse, brachte mich wieder einmal durcheinander.
„Leben und Tod stehen dicht an dicht. Und in diesem Fall werden sie nur durch eine Wand getrennt. Da ist es egal, in welcher Etage man lebt", sprach Liam auf einmal und mehrmals musste ich blinzeln, um realisieren zu können, was er damit ausdrückte.
„Sagt der, der zwanzig Jahre auf seinem reichen Arsch gesessen und sich überlegt hat, ob er noch ein drittes Stück Kuchen will, oder lieber nicht."
Niall kam wie aus dem nichts, doch während ich zusammenzuckte, blieb Liams Mimik undurchdringlich.
„Na, willst du mit dieser Theatralik, die du an die Tag legst, die hübsche Sophia auf deine Seite ziehen?"
„Nein, ich denke, genau das wolltest du gerade tun", entgegnete Liam ungerührt.
„Und warum sollte ich dies nötig haben?", hakte Niall nach und legte dabei seinen Kopf leicht schief.
Mittlerweile war der Abstand zwischen uns und den anderen etwas größer geworden und unwohl wollte ich meine Schritte wieder beschleunigen.
Ich wusste nicht, wie ich die Situation einschätzen sollte, wenn ich zwischen zwei Halbbrüdern lief, die sich aufs Blut nicht abkonnten und von denen ich nicht wusste, ob sie sich nicht jederzeit an die Kehle gehen würden.
„Weil auch du nicht mehr akzeptiert wirst, Niall."
„Du hast keinerlei Ahnung, wie das Leben bei uns abläuft, kleiner Bruder und genau deswegen hast du nicht das Recht, darüber zu urteilen", meinte Niall kühl, doch ich erkannte bereits die Gereiztheit in seiner Stimme.
Ich versuchte die beiden zu ignorieren, griff mit meinen beiden Händen au die Träger meines Rucksackes, um so etwas meinen Rücken zu entlasten und hoffte einfach, dass sie beide in verschiedene Richtungen verschwinden würden.
„Und du hast dir das Recht darauf verspielt, Niall."
„Na, vielleicht sind wir uns dann ja doch etwas ähnlicher oder wie genau hast du dir dein Recht auf Ehre in deiner hübschen arschreichen Familie verdreckt? Haben dir die verdammt ehrenhaften Ratsmitglieder zumindest tröstend auf die Schulter geklopft, bevor sie gesagt haben, dass alles wieder gut sei, wenn du den verblödeten Teenies auf ihrer unerreichbaren Mission begleitest? Oder haben sie dir vielleicht noch Süßigkeiten eingesteckt als Tröstung, falls du dir mal das Knie anstoßen solltest?"
„Stimmt, genau so war es. Aber verzeihe es ihnen, bei einer selbsternannten Fachkraft für Umverteilung von Privateigentum wie dir, würden sie das nicht machen", hörte ich, wie Liam trocken erwiderte.
„Ich bevorzuge den Begriff kreative Eigeninitiative."
„Seit wann gilt es als Eigeninitiative wenn man seine eigenen Leute hintergeht, um sein Ziel zu erreichen?", als Liam dies sprach, fing Niall an zu lachen und aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie er seinen Kopf schüttelte. „Weißt du was, kleiner Bruder?", sprach er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte, „genau das gleiche könnte ich dich auch fragen."
Daraufhin folgte Stille und ich biss meine Zähne zusammen, in der Hoffnung, dass es auch so bleiben würde.
Mit jedem weiteren Schritt gruben sich meine schweren Stiefel in den vom Regen noch nassen Boden. Die Steine knirschten unter meiner Sohle und als ich das Tempo noch etwas weiter anzog, keuchte ich vor Anstrengung.
„Nun meine Hübsche, ich wollte euer kleines Gespräch nicht stören, keine Sorge, ich ziehe ab."
Mühelos schien Niall seine Schritte beschleunigen können und erstaunt und verwirrt zugleich starrte ich ihm hinterher, wie er innerhalb weniger Sekunden zu Christopher aufschließen konnte, während ich nur noch mühsam meine Füße anheben konnte.
Ich warf Liam einen schnellen Blick zu, doch sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, sodass ich mich kopfschüttelnd wieder abwendete. Es war eine angespannte Situation zwischen ihnen gewesen, dies wusste ich ganz genau, auch wenn sie beide die Kontrolle über ihre Mimik und Emotionen behalten hatten.
Ich wusste, dass Niall es nicht ernst gemeint hatte, als er sagte, dass sie sich ähnlicher waren, als gedacht. Doch erst jetzt wurde mir klar, dass er da vielleicht gar nicht mal so falsch lag.
Sie sahen es nur nicht.
Ich warf Liam noch einen Blick zu, doch er sprach nicht mehr und dafür war ich dankbar.
Es vergingen noch weitere zwei Stunden, in denen wir ohne ein Wort zu reden nebeneinander herliefen. Mittlerweile hatten wir Sam und Harry eingeholt, sodass wir zu viert das Schlusslicht bildeten.
Wir hatten immer noch keine Pause gemacht und mit jeder weiteren Minute die verging, wurde mein Durst und Hunger größer.
Auch spürte ich, dass ich Blasen an den Fersen von den festen Schuhen bekam und für einen kurzen Moment wurde ich wieder an meinen ersten Ausbildungstag bei der Familie Payne erinnert. Auch dort drückten die Schuhe, doch Leo war es, die gemeint hatte, dass es schlimmere Sachen gab.
Und jetzt wusste ich, wie viel Schlimmere es gab.
Kaum waren meine Gedanken da, wanderten sie auch schon weiter zu Leo. Ich wusste nicht, was sie nun über mich dachte, wie sie überhaupt auf mein Verschwinden reagiert hatte.
Ich hoffte ihr aber von Herzen, dass sie die Ausbildung schaffte und weiterhin so eine gute Tante für die kleine June blieb. Genauso wie ich hoffte, dass Mum für Clovy stark blieb.
Seufzend schüttelte ich meinen Kopf, um mich wieder auf die Außenwelt konzentrieren zu können. Ich wollte nicht so enden wie Jordan, nur weil ich in Gedanken versunken gewesen war.
„Die Tiere scheinen ja wirklich nachtaktiv zu sein", sprach nach einiger Zeit Sam, der seinen Blick alle paar Sekunden nach rechts und links schweifen ließ. Langsam nickte ich. „Das stimmt, Harry, weißt du wie lange wir noch laufen müssen?"
Harry öffnete gerade seinen Mund, als die Antwort schon von meiner rechten Seite ertönte: „Wir sollten gleich das Ende des westlichen Skyscraper-Bezirkes erreichen."
„Und was kommt danach?", fragte ich argwöhnisch und Liam wendete mir sein Gesicht zu. Seine braunen Augen schienen dunkler als sonst, als er nur die Schultern zuckte und meinte: „Das werden wir dann sehen, Sophia, Sophia Smith."
Kurz bevor ich antworten konnte, ertönte ein Schrei von Megs.
Für eine Sekunde schoss Panik durch meinen ganzen Körper, bevor ich realisierte, dass es kein panischer, sondern ein jubelnder Schrei war.
Megs stand zusammen mit Jenia auf der Spitze eines Geröllberges und zeigte aufgeregt nach Westen. „Wir haben es geschafft, Leute. Verdammte scheiße, wir leben noch!"
„Wir sind draußen?" stieß Sam aufgeregt aus und sofort beschleunigten sich die Schritte von uns allen.
So schnell wir konnten versuchten wir zu den anderen aufzuschließen und schnell war Liam neben mir vergessen. Ich half Sam und achtete dabei, dass er in der Eile nicht stürzte, so wie Christopher etwas weiter vor uns, der genauso wie Niall und Mason nicht schnell genug die anderen erreichen konnte.
„Was könnt ihr sehen?", schrie dieser, als er sich wieder aufrappelte. Doch Megs antwortete nicht, sondern starrte einfach weiterhin gerade aus.
„Was ist dort?", rief nun auch Harry atemlos aus.
Man konnte die Aufregung, die uns alle zu überrollen schien, förmlich in der Luft greifen.
Niall und Mason erreichten gleichzeitig die Anhöhe und blieben mitten in der Bewegung stehen.
„Hey!", rief nun auch ich, wenn auch zögerlich.
Es folgte immer noch keine Antwort.
„Was zur Hölle?!", stieß Christopher aus, als er ein paar Meter vor uns den Blick auf die Landschaft erhaschte.
Sofort breitete sich ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch aus und ich wusste nicht mehr genau, ob ich überhaupt sehen wollte, was auf uns wartete.
„Was ist da los?", fragte Sam unsicher, da auch er mitbekommen hatte, dass irgendetwas nicht stimmen konnte.
„Ich habe keine Ahnung", antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte meine Angst herunterzuschlucken.
Ich hoffte dich sehr, dass sich dort unten nicht die Nester von diesen Viechern befanden.
Oder einen unüberwindbaren Abgrund. Oder ein-
Sam, der mich an meiner Hand hinter sich her zog, riss mich wieder aus meinem wirren Kopfkino.
Mein Kopf drehte sich fragend zu Liam um, doch bevor ich ihn hoffend fragen konnte, ob er etwas wusste, wurde mir anhand seines zusammengekniffenen Gesichtsausdruckes klar, dass auch er nicht viel mehr wissen konnte.
Und dann erreichten wir die anderen. Sam war der erste, der sich zwischen Jenia und Mason nach vorne drängelte. „Ohh..."
„Was ist los?", stieß ich keuchend aus und mein Blick huschte über die anderen, die immer noch wie erstarrt da standen und mir somit die Sicht versperrten. Warum zur Hölle sagten sie nichts?
„Könnt ihr mir bitte-" Ich brauchte nicht weiterreden, denn im nächsten Moment trat Christopher einen Schritt beiseite, sodass ich auf das Szenario blicken konnte.
„Ohh..." Ich hörte auf zu atmen, meine Gedanken schalteten sich ab und auch jegliches Gefühl in meinem Körper verschwand.
Das einzige was blieb, war die Schwere, die sich auf meine Lungen legte und mich zu erdrücken versuchte..
„Wir sind sowas von abgefuckt."
Diesmal sprach Niall mir aus der Seele.
~
(06.04.2016)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro