-36- ➳ Fremd
„Okay Leute, das wars dann, macht's gut."
Nialls Stimme kam nur gedämpft zu mir hindurch.
Zu groß war die Panik, die sich wellenartig in meinem ganzen Körper ausbreitete und mich zu einer Salzsäule mutieren ließ.
Mir blieb keine Zeit in irgendeiner Art und Weise zu reagieren. Viel zu lange hätte es gedauert, die Helikopter zu starten, ganz davon zu schweigen, bis wir alle eingestiegen wären.
Jenia versuchte es dennoch.
Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie sie hektisch versuchte, die Tür aufzureißen.
Es gelang ihr nicht.
Im gleichen Moment erreichte das dröhnende Geräusch jedoch die Ausläufer des Waldes. Ich bemerkte kaum, wie ich willkürlich die Luft anhielt und meine Beine anfingen zu zittern.
Selbst Mason, ein paar Meter vor mir, war wie erstarrt.
Es schien, als würden wir alle dem Tod entgegenblicken.
Etwas, das starke Ähnlichkeiten mit dem Flattern der Motorenblätter der Helikopter hatte, erreichte mein Trommelfeld und brachte es zum Klirren.
Keine Sekunde später durchbrachen mehrere metallische Ungetüme das Dickicht des Waldes.
Im ersten Bruchteil der nächsten Sekunde breitete sich Erleichterung in mir aus, weil es keine mutierten Tiere waren, die uns innerhalb weniger Minuten komplett zerfleischt hätten. Dann jedoch wurde mir klar, dass es dies nicht besser machte.
Es war die Regierung, die uns gefunden hatte, anders konnte es nicht sein.
Die Maschinen waren schmal, dafür aber länglich und fuhren auf zwei breiten Rädern. Sie waren für diesen Lärm verantwortlich und zogen hinter sich mehrere Rauchwolken her.
Für einen kurzen Moment verglich ich sie mit den mobilen Fahrgeräten, die die höhere Gesellschaft in den oberen Sektoren nutzen konnten, doch im gleichen Augenblick wurde mir bewusst, dass es wirklich Menschen waren, die über eine Art Lenkrad gebeugt auf den metallischen Monstern ritten.
„Verdammte Scheiße!", hörte ich jemanden hinter mir fluchen und auch ich erwachte, gefolgt von einem nächsten Adrenalinstoß wieder zum Leben. Hastig huschte mein Blick von meinem kleinen Bruder hin zu meiner Pistole, die vor meinem Füßen im Gras lag.
Wir waren der Regierung schon einmal entkommen.
Warum sollten wir es nicht wieder schaffen?
Mein Blick huschte ein weiteres Mal hin und her.
Ich konnte das silberne Metall meiner Waffe im hohen Gras glänzen sehen, sodass ich mich blitzschnell bückte.
Bevor meine Finger jedoch auf die kühle Oberfläche des Metalls treffen konnten, schob sich ein Paar lederne Stiefel in mein Blickfeld.
„Das würde ich lassen, Kleine."
Meine Hand erstarrte nur Millimeter über der Pistole schwebend. Ich hörte mein Blut durch meine Ohren rauschen, spürte, wie mein Herz sich nicht entscheiden konnte, entweder ganz aufzuhören zu schlagen, oder die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Wir waren geliefert.
Sie würden uns alle umbringen, uns den Tieren zum Fraß überlassen, während sie Liam wieder nach Hause in den Skyscraper zerrten.
Nach Hause, wie sich dies anhörte.
Meine Augenlider flatterten.
Ich konnte mich nicht dazu überwinden, aufzublicken.
Sollte ich es riskieren, alles auf eine Karte setzen und mich wie ein in die enge getriebenes Tier verhalten und nach der Waffe greifen?
Vielleicht würde mir der Überraschungseffekt so viel Zeit verschaffen, dass ich einmal abschießen könnte, bevor sie mich erledigt hätten.
Die Stiefel bewegten sich erneut, einer schob sich über meine Waffe und blockierte sie somit. Verpufft waren nun all meine Chancen. Für eine Handvoll Sekunden konnte ich meinen Blick nicht von diesen Stiefeln abwenden, mein Kopf flüsterte mir wirr zu, dass irgendetwas nicht stimmte.
Aber das war es ja, verdammt! Nichts stimmte hier mehr, wir waren alle dem Tod gnadenlos ausgeliefert.
Nun hob ich langsam den Kopf, nicht in der Lage mein Herzschlag und meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
Mein Blick glitt Millimeter zu Millimeter über die braunen, dreckigen Stiefeln über eine dunkle, feste Jeans bis hin zu einem Waffenholster, einem dunklen Shirt und einer ledernen Jacke.
Alle Alarmsirenen schrillten in meinem Kopf und ich nahm mein letztes bisschen Mut zusammen, um mein Kinn soweit entschlossen zu heben, dass ich der Person ins Gesicht sehen konnte.
Ich erwartete einen dunklen Helm, so wie sie die Wächter bereits in Cambridge trugen, doch stattdessen traf mein Blick auf grünbraune Augen. Braune Locken fielen ihm in die Stirn.
Grüne Augen.
Braune Locken.
Ich bekam Schnappatmungen, mein Blick verschob sich und für einen kurzen Moment, dachte ich wirklich, dass dieser junge Mann vor mir Harry war.
Dass er sich einen schlechten Scherz erlaubt, sich wieder in die Reihen der Wächter gemischt hatte, nur um uns hier gleich aus der Patsche zu helfen.
Doch dann blinzelte ich, meine Sicht wurde wieder klar und ich erkannte, dass der Junge vor mir unmöglich Harry war.
Schließlich Harry war tot und bis auf die grünen Augen und die braunen Locken hatten sie nichts gemeinsam.
Denn Harry hätte niemals mit einem Maschinengewehr auf mich gezielt.
Ich war wie erstarrt, konnte nur den Lauf fixieren, der auf meine Stirn gerichtet war und hob dann vorsichtig meine Hände, um zu signalisieren, dass ich keine Absichten mehr hegte, nach meiner eigenen Waffe zu greifen.
„Wenn du es auch nur wagen solltest, mich zu berühren, werde ich dir eigenhändig den Lauf deines verfickten Gewehres in den Rachen schieben!"
Megs Stimme durchbrach die gedämpfte Atmosphäre, in die mich mein Schockzustand versetzt hatte und bevor ich richtig nachdenken konnte, sprang ich auf und drehte mich zu meiner Freundin um.
Dafür hatte ich keine Sekunde später den Lauf des Maschinengewehres in meinem Rücken.
Doch der junge Mann, der mich im ersten Moment so sehr an Harry erinnert hatte, musste sich keine Sorgen machen, dass ich die Flucht ergreifen würde.
Denn was ich sah, ließ mich wieder erstarren und willkürlich nach Luft schnappen.
Sie waren nicht nur von vorne gekommen.
Sie hatten uns umzingelt.
Selbst Jenia war von allen Seiten umstellt, ihr Versuch in den Helikopter zu gelangen war somit endgültig gescheitert.
Mit panisch klopfendem Herzen versuchte ich meinen Bruder ausfindig zu machen und ein kleiner Stein fiel mir vom Herzen, als ich ihn zwischen Christopher und Liam unbeschadet entdeckte. Aber auch sie wurden alle drei stillschweigend bewacht.
Selbst auf Liams Rücken war der Lauf einer Waffe gerichtet. Er hob den Kopf und für eine Sekunde verhakten sich unsere Blicke. Er öffnete den Mund, hielt dann inne und neigte schließlich nur den Kopf. Es schien, als wollte er mir etwas mitteilen, doch ich verstand nicht was.
„Hast du mich nicht verstanden, du hirnamputierter Affe?" Megs Stimme riss mich aus meinen Gedanken und so schnell konnte mein Gehirn nicht arbeiten, um das folgende Szenario zu verstehen.
Nur zähflüssig, wie klebriges Karamell wurde mir klar, was gerade passierte.
Zwei andere Männer versuchten Megs unter Kontrolle zu bringen, die jedoch andere Pläne hatte und so verbissen und kratzbürstig wie eine Katze mit Armen und Beinen in die Verteidigung ging. Es gelang ihr einmal quer durch das Gesicht eines der Männer zu kratzen und ihm somit zum Ausstoßen eines Schmerzensschreies zu bringen.
„Hey, halt still oder du bekommst gleich einen Kopfschuss, Skygold!", rief der andere mit den schwarzen Haaren mit harscher Stimme, schindete damit aber keinerlei Eindruck bei Megs, die bereits zu einer Furie geworden ist.
Das hätte er nicht sagen dürfen.
Ich bekam es schon aus dem Augenwinkel mit.
Wie in Zeitlupe schien sich das Bild zu bewegen und ich wollte schreien, Niall davon abhalten, auch wenn ich wusste, dass wir alle so oder so ins Verderben stürzen würden.
Versteckt unter seinem T-Shirt zog er seine Waffe hervor und mit wutentbranntem Gesicht zielte er auf den Schwarzhaarigen.
Und feuerte ab.
Und traf nicht.
Denn im gleichen Moment, in dem er den Abzug betätigte, wurde ihm die Waffe aus der Hand geschlagen, die Kugel geriet nicht in die gezielte Flugbahn und schoss über die Köpfe aller von uns hinweg. Jenia schrie auf und zuckte zusammen, doch kaum war ihr Schrei verhallen, geriet die Wiese, auf der wir uns befanden in eine erdrückende und gefährliche Stille.
Der Schock über das, was gerade passiert war, ließ alle ohne Worte zurück. Selbst Megs hielt inne und ließ es zu, dass die Männer beide ihrer Arme packten. Niall hingegen wurde von zwei anderen, unter anderem sogar einer Frau, so in die Mangel genommen, dass er die Waffe fallen lassen musste.
Selbst ihm schien dies nun egal zu sein, alles was wir nun machten, war zu dem Mädchen, oder besser gesagt der jungen Frau zu starren, die Niall daran gehindert hatte, einen ihrer Männer umzubringen.
Dass sie die Anführerin dieser Gruppe war, erkannte man sofort.
Es war die Art wie sie auftrat, die mich dies erkennen ließen.
Und was für eine Wirkung sie auf ihr Team hatte.
Denn auch wenn Niall die Waffe gezückt hatte, begann keine blutige Auseinandersetzung. Es schien, als würden alle nur darauf warten, was sie befehlen würde.
Sie schien kaum älter als wir anderen zu sein und ihre blonden Haare waren schon beinahe mädchenhaft zu einem Zopf mit eingeflochten Bändern gebunden. Auch wenn sie dunkle Jeans und die gleiche lederne Jacke wie Harry 2.0 trug, erkannte man, dass sie von einer zierlichen Statur war. Doch den entschlossenen Blick auf ihrem schmalen Gesicht nach zu urteilen, wusste sie genau, was sie tat.
Sie legte eine ihrer schmalen Hände, die in ledernen Fäustlingen steckten, auf die äußere Verkleidung des Helikopters und wandte dann ihren Kopf zu Niall um. Für einen Moment lieferten sie sich ein stilles Duell, bis ihr Blick von Niall aus einmal über uns alle hinweg glitt.
„Tyllis, ich denke, wir haben einen Fehler gemacht." Nun sprach sie direkt den Schwarzhaarigen an, der Megs gedroht hatte, „Sie sind definitiv kein Skygold. Ich glaube sogar, dass sie nicht einmal Skybronze sind."
Skygold?
Skybronze?
Ich verstand kein Wort und so schien es auch den anderen zu gehen.
„Aber Bree, wenn sie nicht Gold und nicht-", setzte Harry 2.0 hinter mir an, wurde jedoch von einer Person übertönt, dessen Stimme ich nur zu gut kannte und hasste: „Was willst du kleine Bitch von uns, verdammt nochmal?"
Mason.
Nun war es vorbei mit der Stille.
„Wage es ja nicht, sie nochmal eine-" Eine rothaarige Frau, Anfang ihrer Zwanziger kam aus dem Kreis der Fremden herausgestürmt, wollte sich wohl voller Wut auf Mason stürzen, doch die Blonde, hinderte sie daran, indem sie den Arm hob und den Kopf schüttelte.
„Gewissermaßen ist er berechtigt dies zu fragen. Immerhin halten wir ihn und seine Freunde nicht gerade freundlich auf..." Dann drehte sie sich einmal im Kreis, bis ihr Blick wieder an Niall hängen blieb.
Es schien, als wäre ihr bewusst, dass er gewissermaßen der Anführer unserer Gruppe war.
„Wenn wir euch wieder loslassen, werdet ihr dann wieder versuchen, uns zu erschießen oder können wir friedlich mit einander reden?"
Verwirrt über diese Worte runzelte ich die Stirn und auch Niall schien misstrauisch und überrascht zu gleicher Maßen. Er legte den Kopf schief und versuchte sich soweit es der Klammergriff zuließ zu seiner vollen Größe aufrichten.
„Warum solltet ihr dies tun, oder vor allem, warum sollten wir das tun?"
Es war klug von ihm, ihr keine Antwort auf ihre Frage zu geben. Niall machte keine Versprechungen, die er nicht einhalten würde.
Die Antwort kam sofort: „Weil ihr nicht die hirnamputierten Affen von der Sky-Regierung seid, für die wir euch aufgrund der Helikopter gehalten haben."
Die gesamte Situation war ein riesiges Puzzle und alle Handlungen, alle gesagten Wörter war ein kleines Teil, das hinzukam. Doch sie wollten nicht zusammenpassen, ich hatte nicht einmal den Grundrahmen des Puzzles, geschweige denn wusste ich, was für ein Motiv herauskommen sollte.
„Warte, heißt das, dass..."
Christopher wurde von ihr unterbrochen: „Ja, genau, das heißt es." Sie hob erneut die Hand, nickte und innerhalb einer Sekunde verschwand der Lauf des Gewehres von meinem Rücken. Auch alle anderen wurden losgelassen, während die junge Frau langsam im Kreis lief und schlussendlich in der Mitte stehen blieb: „Auch wir sind nicht die hirnamputierten Affen von der Sky-Regierung, wie ihr es zu Beginn vielleicht vermutet habt."
Ihr Blick traf auf meiner und während wir uns ansahen, fügte sie hinzu: „Aber vielleicht habt ihr schon bemerkt, dass wir nicht wie die typischen Wächter aussehen."
Automatisch musste ich meinen Kopf wenden, um einen Blick zurück auf Harry 2.0 zu werfen. Nun wurde mir bewusst, was mir vorhin schon so komisch vorkam.
Braune Lederstiefel statt den schwarzen Klötzen an den Beinen, keine kugelsichere Weste, keinen Helm.
Es hätte mir früher bewusst werden müssen.
Sie waren keine Wächter.
Diese Leute waren nicht von der Regierung.
Aber woher kamen sie dann?
„Wenn ihr jedoch nicht von der Regierung seid, wer seid ihr dann?", stellte Megs mit einem misstrauisch lauernden Unterton die Frage, die uns alle wie ins Gesicht geschrieben stand.
Die Blonde neigte leicht ihren Kopf in Megs Richtung, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und verharrte für einen kurzen Augenblick mit ihrer Hand an dieser Stelle. Als sie sich von mir ab- und Megs zuwendete, sah ich für einen kurzen Moment etwas quadratisch Silbernes oberhalb ihres Ohres aufblitzen. Doch genauso schnell war der Augenblick auch schon wieder vorbei.
Selbst von hier aus konnte ich erkennen, wie sich ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreite.
„Ich heiße Briana, ihr dürft mich aber Bree nennen."
~
(18.07.2017)
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