-34- ➳ Neue Zonen
Ich blieb noch lange im See und genoss die Stille, die mich umgab.
Es war ein Luxus einfach einmal nur die Augen zu schließen und nicht befürchten zu müssen, jeden Moment sterben zu müssen.
Die Sonne erwärmte mein Gesicht und in einem wagemutigen Moment wagte ich es sogar, mich vorsichtig nach hinten fallen zu lassen.
Im Wasser zu treiben erforderte keinerlei Schwimmfähigkeiten. Ich musste nur darauf achten, in der Nähe des Ufers zu bleiben, wo ich notfalls jederzeit wieder stehen könnte.
„Wenn du willst, kann ich dir beibringen, wie man schwimmt."
Ich zuckte zusammen und ging im gleichen Moment unter. Gurgelnd schnappte ich nach Luft und bevor ich vollkommen unter Wasser verschwinden konnte, fanden meine Füße den sandigen Untergrund und stießen sich ab.
„Liam, verdammt nochmal!", fluchte ich und versuchte mein wildklopfendes Herz zu beruhigen.
Schnell hatte ich den Übeltäter gefunden. Liam stand neben dem Stein, auf dem meine Kleidung trocknete und hatte die Hände in seine Seiten gestützt, während er mir amüsiert dabei zugesehen hatte, wie ich beinahe wegen ihm ertrunken wäre.
„Ich hätte sterben können", schob ich hinterher, meinte es aber eher spaßig.
„Das hätte ich schon nicht zugelassen, keine Sorge." Liam setzte sich auf den Stein und zog sich zuerst seine Schuhe und dann seine Socken aus, um seine Füße im Wasser baumeln lassen zu können.
Im gleichen Moment wurde mir klar, dass ich mit nichts als Unterwäsche bekleidet im See war und schnell verschränkte ich meine Arme vor meiner Brust. Liam bemerkte es und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Warum bist du gekommen?", fragte ich schnell, um die Aufmerksamkeit von mir zu lösen.
Liam beugte sich vor, um auch seine Hände im Wasser waschen zu können und während das Wasser den Dreck von seiner Haut spült, antwortete er: „Megs hat mich gebeten, nachzuschauen, ob du noch lebst. Du bist schon ziemlich lange weg und so langsam haben sich die anderen Sorgen gemacht."
Bei seiner Äußerung konnte ich es mir nicht verkneifen zu schnauben und während ich etwas in Richtung Ufer watete, meinte ich, ohne den verbitterten Unterton verhindern zu können: „Die Anderen haben sich alle Sorgen gemacht?"
Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass Mason oder Niall sich in irgendeiner Art um mein Wohlergehen kümmern würden. Selbst bei Jenia war der Gedanke schwierig.
Liam schien meine Gedanken lesen zu können, denn während er nun auch seine Hose hochkrempelte, sprach er: „Es gibt genügend, die sich um dich sorgen, Sophia, Sophia Smith. Die Dinge haben sich seit Harrys Tod und Cambridge verändert, du musst nur genau hinschauen, dann wirst du es erkennen."
Mein Blick traf auf seinen, als ich mich so ans Ufer setzte, dass mir das Wasser noch bis zum Schlüsselbein ging und meinen ganzen Körper einhüllte.
Zwar war mein Kopf nicht unter Wasser, aber auf einmal fiel mir das Atmen schwerer und mein Kopf dröhnte, als würde die Last von mehreren Tonnen Wasser auf ihn drücken.
„Was hat sich alles verändert, Liam?" Ich wusste nicht, woher diese Worte kamen, aber auf einmal sprach ich sie aus und brachte Liam dazu, den Blickkontakt zu unterbrechen und mit einem leichten Lächeln den Kopf zu schütteln.
Sein Blick schweifte in die Ferne und als er sich nach hinten lehnte, stützte er sich mit seinen Ellenbogen auf dem Stein ab. Seine Beine streiften weiterhin durch das Wasser und erzeugten sanfte Wellen, die die sich ringartig nach außen ausbreiteten.
„Alles, Soph." Ich hörte wie er einmal aufseufzte und beobachtete ihn dabei, wie er sich durch seine Haare strich. „Weißt du, ich habe über deine Worte nachgedacht." Er stockte für einen kurzen Moment und sein Blick traf wieder auf meinen. „Es wäre wirklich schön, sich hier eine Hütte am See zu bauen."
So, als wäre er etwas verlegen darüber, dies zuzugeben, richtete er sich schnell auf, schnappte sich meine Kleidung und streckte mir seine Hand entgegen, um mir hoch zu helfen.
Abwechselnd sah ich von seinen Fingern zu seinem Gesicht. Seine Augen waren nur auf meine eigenen fixiert.
„Auch wenn es nur eine Illusion einer Oase wäre?", hakte ich nach und spielte damit auf seine eigenen gesagten Worte an.
„Auch wenn es nur eine Illusion wäre, Sophia, Sophia Smith", antwortete er und mit einem leichten Grinsen auf den Lippen ergriff ich seine Hand.
In diesem Moment war es mir egal, dass ich fast komplett nackt vor ihm stand, denn er erwiderte nur intensiv mein Blick und innerhalb einer Sekunde hatte ich mir mein Tshirt über den Kopf gezogen.
Als ich etwas aus dem Wasser trat, um meine Hose überzustreifen, ging Liam keinen Schritt zurück, sodass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte.
Ich wusste nicht ob ich dadurch, oder durch die kühlen Wassertropfen auf meiner Haut Gänsehaut bekam.
Schnell schüttelte ich mich und versuchte mich wieder darauf zu konzentrieren, das Gleichgewicht zu halten, als ich schlussendlich auch in meine Schuhe schlüpfte.
Dann, als ich endlich wieder vollständig angezogen war, traute ich mich, den Blick wieder zu heben und Liam anzusehen.
„Woher kommt dieser Sinneswandel, Liam?"
Sein Blick glitt über mein Gesicht, bis er sich mit meinen verhakte.
„Ich weiß es nicht so genau... Aber mir ist klar geworden, dass die Skyscraper vielleicht auch nur eine große Illusion ist." Er hob die Hand und als er eine nasse Haarsträhne hinter mein Ohr schob, hielt ich automatisch die Luft an.
Ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren, was er gesagt hatte oder was dies vielleicht zu bedeuten möge, denn einzig und allein, wozu ich noch im Stande war, war zu seinen braunen Augen hinaufzublicken.
„Wir sollten zurückgehen, bevor die anderen auch noch denken, dass nicht nur du, sondern auch ich ertrunken bin", unterbrach Liam den Moment, der vielleicht nur ein, zwei Sekunden angedauert hat, sich aber anfühlte, als hätte man ihn wie Kaugummi in die Länge gezogen.
„Okay", sprach ich, räusperte mich und trat einen Schritt zurück. Dass ich dabei mit meinem Schuh ins Wasser trat und meine Socke vollkommen durchnässte, versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen. Liam wusste auch so oder so, dass ich tollpatschig war.
Heimlich versuchte ich meinen Fuße etwas auszuschütteln und wurde rot, als ich bemerkte, wie Liam mich dabei mit schief gelegtem Kopf beobachtete. Das und sein amüsiert verzogenes Gesicht zeigten mir, dass er mich schon längst durchschaut hatte und bevor er irgendeine Bemerkung fallen lassen konnte, versuchte ich so stolz wie es nur ging an ihm vorbei zu marschieren.
„Die Schuhe können sicherlich an der Feuerstelle trocknen, Sophia, Sophia Smith."
Man könnte annehmen, dass diese Worte nett gemeint wären, aber ich hörte an seinem Unterton, dass er mich nur aufziehen wollte, deswegen beeilte ich mich meine Pistole einzusammeln und den Weg zurück zum Lager einzuschlagen.
Liam hatte mich mit seinen langen Beinen schnell eingeholt und lief schweigend neben mir her.
Auch wenn ich versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren, konnte ich es nicht verhindern, dass all meine Wahrnehmung nur auf ihn zu liegen schien. Ich hörte, wie seine Füße auf dünne Äste trafen und sie zum Brechen brachten, wie er langsam ein- und ausatmete. Ich spürte den Luftzug, den seine Arme machten, wenn er sie vor und zurückschwang und ich erwischte mich selbst dabei, wie ich immer wieder im Augenwinkel zu ihm sah.
„Ich habe das übrigens ernst gemeint, Sophia, Sophia Smith", durchbrach Liam schlussendlich die Stille.
Meine Schritte stockten etwas, als ich versuchte zu verstehen, worauf er hinauswollte.
„Was meinst du?"
„Dass ich dir irgendwann beibringen kann, wie man schwimmt."
Nun drehte ich meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen konnte. „Wann ist ‚irgendwann'?"
Liam zuckte mit den Schultern und vergrub seine Hände in die Hosentasche. Sein Blick war weiterhin geradeausgerichtet, sodass ich nur seine Gesichtszüge von der Seite aus betrachten konnte.
„Wenn all dies hier vorbei ist."
Ich antwortete nichts auf seine Worte, die vielleicht nur leere Versprechungen waren. Denn wer wusste schon, wann dies hier alles vorbei war?
Wann wäre es überhaupt vorbei?
Wenn wir das Wasserkraftwerk erreichen würden?
Nein, aber wenn wir es – wenn wir es überhaupt konnten – repariert hätten?
Auch dann war der Kampf um das Überleben noch längst nicht vorbei.
Ich schluckte, wendete den Blick ab und blieb stumm.
Ich wollte nicht genauer darüber nachdenken, was noch alles auf uns zukommen würde.
Das würde ich nicht aushalten.
Ich senkte meinen Blick auf den Weg vor mir und folgte den kleinen Pfad aus platt getrampelter Erde. Fußspuren säumten ihn und verrieten mir, dass wir auf dem richtigen Weg waren.
„Sophia-" Liam kam nicht mehr dazu, das auszusprechen, was er sagen wollte, denn im nächsten Moment trafen wir auf einem am Baumstamm lehnenden Mason. Er hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und sah gar nicht glücklich aus uns zu sehen.
„Also doch noch nicht ertrunken?", fragte er mit einem Blick auf meine Wenigkeit und ich konnte nur meine Augen verdrehen.
„Lass den Mist, Mason", erwiderte Liam müde. Auch ihm waren die spöttischen Bemerkungen Masons überdrüssig.
Mason hob als eine gespielte Entschuldigung die Arme in die Lüfte und zuckte dabei mit den Schultern. „Tut mir Leid, tut mir Leid, man darf doch wohl mal nachfragen. Als zweite Variante hätte ich auf irgendwelche mutierten Wassertiere getippt."
Bei seinen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken und sofort fingen meine Gedanken an zu rasen. Mason schien es zu bemerken, denn er rappelte sich auf, klopfte sich den Dreck von seiner Hose und musterte mich. „Hast du also nichts Ungewöhnliches bemerkt? Irgendeinen dunklen Schatten oder eine kalte Berührung im Wasser, Sophia?"
Mein Atem stockte und ich konnte ihn nur vollkommen ungläubig anstarren. Ich wusste nicht, ob er die Frage ernstgemeint hatte oder mir nur Angst machen wollte. Langsam öffnete ich den Mund: „Worauf willst du hinaus, Mason?"
Meine Stimme klang fest und ernst, ganz anders als ich mich fühlte.
Auch Liam neben mir verspannte sich, als Mason den Kopf schief legte, zuerst mich ansah und dann den Blick schweifen ließ.
„Ich will darauf hinaus, dass ich durch den ganzen Wald gestreift bin aber keinerlei Anzeichen für Tiere gefunden habe. Keine Pfotenabdrücke, keine Kadaver liegen gebliebener Beute, kein irgendetwas. Es hätte ja sein können, dass in dieser Zone die mutierten Tiere im Wasser ihr Unwesen treiben, aber anscheinend ja nicht."
Sein Blick blieb auf etwas hinter uns liegen, doch ich war zu sehr von seinen Worten verwirrt, als dass ich mich umdrehte. „Komisch, wo es hier doch den Anschein macht, dass man hier gut leben könnte."
Liam hatte sich zuerst wieder gefasst und sprach das aus, was ich mich auch fragte: „Mason, wo von redest du da überhaupt? Was für Zonen?"
Mein Blick schweifte von Liams verwirrten, aber auch misstrauischen Gesichtsausdruck zu Mason, der sich nun mit leicht spöttisch hochgezogenen Mundwinkeln zu Liam wendete.
„Habt ihr es denn alle noch nicht verstanden? Es gibt nicht nur die Todeszone und dann ‚die restliche Welt'. Dieses ganze verdammte Land ist in Zonen eingeteilt, oder habt ihr verschieden mutierte Tierarten auf einem Fleck gesehen? Nein? Ich nämlich auch nicht!" Masons Stimme wurde etwas lauter, doch ich verstand immer noch nicht, worauf er hinaus wollte. Bei Liam jedoch war der Groschen bereits gefallen. Weg war der verwirrte Ausdruck, stattdessen war er einem ernsten gewichen.
„Willst du damit sagen, dass-"
„Ja, genau das will ich damit verdammt nochmal sagen, Vatersöhnchen", unterbrach Mason ihn. „Zwischen den Skyscrapern waren die Rattenviecher. Harry wurde von den Wölfen gefasst und in Willow waren die Rehartigen Kreaturen. Aber in was für einer Zone sind wir nun, dass hier anscheinend keine mutierten Tiere sind?"
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als auch ich nun endlich verstand, was er mit seinen Worten meinte. Er hatte Recht: Es hätte im Wasser wirklich irgendein tödliches Tier lauern können und allein bei diesem Gedanken wurde mir ganz mulmig. Ich hatte nicht daran gedacht, Megs und Liam anscheinend aber genauso wenig.
Gleichzeitig sackten aber auch all die neuen Informationen in mein Gehirn. Mason sah Tatsachen, die kein anderer jemals gesehen hätte und nun mussten sie nur noch in Zusammenhang gebracht werden. Doch es erschloss sich mir nicht, warum in bestimmten Zonen nur bestimmte Tiere lebten.
„Jedes Tier hat einen anderen Lebensraum, es muss doch nicht gleich etwas bedeuteten...", versuchte Liam es sich selbst zu erklären, aber selbst für mich klangen seine Worte dünn.
Mason fing an zu lachen und den Kopf zu schütteln.
Als er sich wieder beruhigt hatte, erschien der altbekannte abwertende Ausdruck auf seinem Gesicht und mit einem letzten Blick auf uns beide, drehte er sich um und rief über seine Schulter als Erwiderung: „Wenn du so naiv bist, kannst du das gerne glauben. Wir reden hier jedoch von verfickten mutierten Tiere und nicht von deinem gezüchteten Haustier."
Er war schon beinahe hinter einer Gruppe Bäume verschwunden, als ich meine Stimme wiederfand und ihm hinterher rief: „Wir müssen das den anderen erzählen!"
Ein letztes Mal drehte sich Mason zu uns um und allein an seinem Gesicht erkannte ich, dass er nicht vorhatte, es selbst den anderen zu erzählen.
„Dann mal viel Spaß dabei!" Dann verschwand er im Wald und ließ Liam und mich vollkommen geschockt von den neuen Informationen zurück.
Mein Blick wanderte zu Liam und schweigend starrten wir uns für ein paar Sekunden an. Wir wussten beide, was diese neue Erkenntnis vielleicht zu bedeuten hatte.
Nämlich dass wir wahrscheinlich ein wichtiges Detail in dieser gestorbenen und wieder auferstandenen Welt übersahen.
Es erschien wie ein riesiges Uhrenwerk aus Zahnräder, die ineinander übergriffen, erst durch das jeweilige andere in Bewegung gesetzt werden konnten.
Und wir kannten nur Bruchteile dieser Zahnräder.
Mason jedoch sah bereits das große Ganze – auch wenn vielleicht auch ihm die Bedeutung dahinter nicht verständlich war.
„Wir sollten weiter und es den anderen sagen. Vielleicht kommen die Tiere auch erst in der Nacht, wir sollten – egal in was für einer Zone wir uns nun vielleicht aufhalten – die Nacht in den Helikoptern verbringen. Sicher ist sicher."
Langsam nickte ich, während mein Blick über die Umgebung hin und her glitt, in der Hoffnung so eine Art Erleuchtung zu erlangen.
„Okay", sprach ich, stockte dann jedoch in meiner Bewegung. Etwas Silbernes an der Stelle, wo vorher noch Mason gehockt hatte, erlangte meine Aufmerksamkeit. Als ich in die Hocke ging und es vorsichtig von dem Dreck befreite, erkannte ich, dass es eine Verpackung aus Aluminium war.
„Mason sollte daran denken, seinen Müll nicht einfach liegen zu lassen, wenn er möchte, dass diese Welt irgendwann wieder lebt", murmelte ich und richtete mich auf, während ich das Stück Aluminium in meine Hosentasche stopfte.
Liam schien nichts davon mitbekommen zu haben, denn er war bereits vorausgegangen und ich beeilte mich ihn wieder einzuholen. Dabei konnte ich nicht verhindern, immer wieder Blicke über meine Schulter zu werfen, in der Angst, dass Mason sich doch getäuscht hatte und jedem Moment eines der mutierten Tiere hinter einem Baum hervorgesprungen kam.
Erst als ich Liam erreichte und er mir einen Blick zu warf verschwand die panische Angst und ich konnte wieder durchatmen. Bis wir unser provisorisches Camp erreichten, sah ich kein einziges Mal mehr zurück, sondern nur nach vorn.
~
(11.07.2017)
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