-33- ➳Die Hügellandschaft
Ich wurde wach, als Sam sich im Schlaf noch enger an mich drückte. Langsam öffnete ich meine Augen und musste mehrmals blinzeln. Eine Decke rutschte mir von den Schultern, als ich mich vorsichtig bewegte und überrascht sah ich ihr zu, wie sie auf den Boden fiel.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie aus meinen Rucksack geholt zu haben, geschweige denn, dass es überhaupt meine Decke war.
„Ich dachte, es schläft sich mit einer Decke leichter", kam es von Liam und vom Schlaf noch etwas verwirrt blinzelte ich ihn mehrmals an, bis ich verstand, was er damit sagen wollte.
Liam hatte Sam und mich zugedeckt.
Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, dann konzentrierte er sich jedoch wieder auf das Fliegen. Von der Seite aus betrachtete ich ihn für ein paar weitere Augenblicke.
Er sah müde und erschöpft aus, die dunklen Ringe unter seinen Augen waren nun viel deutlicher zu sehen, als die letzten Tage. Kein Wunder, wenn er die ganze Nacht durchgeflogen ist.
„Danke", sprach ich schließlich mit rauer Stimme und mein Blick schweifte zu meinen Bruder, der noch immer an mich gekuschelt auf seiner Seite des Sitzes schlief. Als ich mich versichert hatte, dass ich ihn nicht weckte, wenn ich mich bewegen würde, beugte ich mich etwas vor, um die Decke vom Boden aufheben zu können.
So wie es schien, hatte ich ein paar Stunden geschlafen. Ich konnte mich noch daran erinnern, dass ich mich noch lange nachdem es dunkel geworden war, mit Liam unterhalten habe. Es waren belanglose Sachen gewesen, über die wir geredet haben. Er hatte mir eine Geschichte erzählt, die sehr der Ähnelte, die er mir damals in meiner Zeit als Auszubildende bereits unterbreitet hatte.
Doch irgendwie war es tröstlich und beruhigend zugleich seiner Stimme zu zuhören, die davon berichtete, dass auch er den mir nur so vertrauten Chaos im Alltag mit Geschwistern kannte.
Auch wenn es etwas ganz anderes war, dass er sich nur mit seinen älteren Schwestern darum gestritten hatte, wenn er für sie in ein Prinzessinnenkleid schlüpfen sollte.
Ich hörte in seiner Stimme einen Hauch von Wehmut, der mir zeigte, dass auch er des Öfteren an seine beiden Schwestern dachte. Er jedoch musste sich nicht um sie sorgen.
Denn sie lebten, irgendwo in einem schicken Apartment in einem hohen Sektor, sicher und zufrieden ihr Leben, während mein Bruder hier draußen im Skyland an meiner Seite sterben könnte und meine Schwester gefangen durch ihre Lähmung in einer nasskalten Wohnung ausharren musste.
Ich konnte nur jeden Tag aufs Neue beten, dass zumindest die nackte Glühbirne über dem Küchentisch noch immer funktionierte und Marcus sich an sein Wort halten würde.
Denn er hatte uns zwei Monate gegeben, bis er weitere Maßnahmen ergreifen würde.
Und was das für Maßnahmen sein würden, wusste ich nur zu gut.
Nach Sektor eins kam Sektor zwei.
Weitere Stromausfälle und erneute Tierangriffe würden sich die Klinke geben.
Ein Schauer überlief mich und automatisch musste ich mich schütteln.
Dann seufzte ich einmal und mein Blick fiel wieder auf das Cockpitfenster.
Die Sonne ging gerade auf und es schien, als würden wir direkt in ihre tieforangenen Ausläufe fliegen wollen.
Gesamte Landpartien verwandelten sich innerhalb von Sekunden in feuerrote Felder.
Während ich meinen eingeschlafenen Arm, gegen den Sam drückte, etwas anhob, und die Decke auf meinem Schoß ausbreitete, beobachtete ich weiterhin fasziniert, wie sich die Sonne Stück für Stück in den Himmel erhob.
Wie eine Königin, die ihr gesamtes Land erstrahlen ließ.
Die ersten Vögel kreuzten unsere Flugbahn und auch die Landschaft unter uns hatte sich seit unserem Start verändert.
Viele Städte haben wir bereits hinter uns gelassen und machten nun Platz für hügelige Landschaften, die in vielen verschiedenen Grüntönen aufleuchteten. Selbst kleinere Seen überflogen wir.
„Ich wünschte, wir könnten für immer hier bleiben", flüsterte ich leise, vergaß dabei aber ganz, dass ich durch das Headset mit den anderen auf einer Leitung geschaltet war.
„Und dann?", hackte deswegen Liam nach und warf mir einen weiteren Blick zu.
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte einen größeren Vogel im Blick zu behalten, der sich vor uns mit kräftigen Flügelschlägen in der Luft hielt.
Er glitt durch die Lüfte, ließ sich von den Luftströmen tragen, als würde er sie selbst lenken können, so als wäre er der König der Welt.
Und vielleicht war er dies auch. In einer Welt, wo es keine menschliche Zivilisation mehr gab, lebte es sich wahrscheinlich einfacher als wildes Tier.
„Dann würde ich mir eine Hütte am See bauen", sprach ich schließlich als der Vogel einen Schlenker machte und aus meinem Blickfeld verschwand.
„Sophia, dies hier ist keine Oase des Friedens, es ist nur eine Illusion."
„Genauso wie es eine Illusion ist, sich vorzustellen, jemals in die Skyscraper zurückkehren zu können", entgegnete ich wie aus der Pistole geschossen und dann blieb es erstmal still.
Ich hörte nur noch Liams gleichmäßige Atemzüge und gerade, als ich mich von ihm und der Aussicht abwenden wollte, forderte er mich auf: „Schau genau hin. Warum ist diese Landschaft so hügelig? Warum gibt es so viele Seen?" Ich verdrehte meine Augen, doch tat, was er von mir wollte. Mein Blick schweifte über die Landschaft, doch mir fiel nichts Außergewöhnliches auf. „Sophia, Sophia Smith, das hier ist ein Schlachtfeld. Es sind Tausende von Bomben gefallen, das hier ist ein Friedhof und nichts anderes. Einzig und allein die Zeit hat es geschafft, eine Illusion zu erschaffen. Die Krater wurden zu Seen, Berge von Leichen zu Hügeln."
Ich konnte nicht sprechen und merkte, wie mir langsam aber sicher Tränen in die Augenwinkel traten. Ich biss mir auf meine Lippe, um zu verhindern, dass sie meine Wangen hinunterfallen würden.
Denn ich würde nicht um etwas weinen, das so viele Jahrzehnte zurück lag, ich musste mir meine Tränen für etwas aufsparen. Dies schwor ich mir.
Mein Blick fiel auf einen weiteren See und trotz seiner Schönheit, sah ich ihn nun mit anderen Augen. Das tiefe Blau des Wassers zeigte, dass er tief sein musste und die kreisrunde Form verriet, dass es wirklich eine Bombe sein musste, die ihn erschaffen hatte.
Schnell hob ich meinen Blick wieder in die Ferne, in der Hoffnung, etwas Anderes ausmachen zu können, aber ich sah nun nur noch das Gleiche.
Die bestialische Schönheit der Zerstörungswut des dritten Weltkrieges.
„Liam?", fragte ich schließlich leise, wartete jedoch nicht darauf, dass er antwortete: „Ist die gesamte Welt dann aber nichts weiter als eine Illusion?"
„Die Welt ist ein Friedhof und nun ist die Frage, ob es natürlich ist, dass wir lebendig über ihn laufen dürften."
Ich schluckte und automatisch drückte ich Sam etwas enger an mich. Gerade, als ich auf seine Aussage etwas erwidern wollte – nämlich, dass es einfach so sein musste – wechselte Liam abrupt das Thema: „Wir sollten bald einen Platz zum Landen ausfindig und eine kleine Pause machen. Ich sage Niall Bescheid."
Ich nickte nur, nicht sicher, ob er es überhaupt wahrnehmen würde.
Dann lehnte ich mich wieder zurück und fuhr in Gedanken versunken durch die weichen Haare von Sam. So vorsichtig jedoch, dass ich ihn nicht aufwecken würde.
Er sollte so viel Schlaf bekommen, wie es nur ging, denn so entspannt wir es auch gerade hatten - es stimmte:
Wir befanden uns auf einen Friedhof und wer wusste, wie viele Geister sich auf diesen herumtrieben?
Es war noch früher Vormittag als wir schließlich auf einer saftig grünen Wiese landeten. Niall war der Erste, der aus dem Helikopter sprang und sich breitbeinig ins Gras fallen ließ, nachdem er sich mehrmals um sich selbst gedreht hatte.
Ich tauschte nur einen bedeutungsvollen Blick mit Megs aus, die schließlich seufzend den Kopf schüttelte und das Wort ergriff: „Wir sollten hier für einige Stunden Pause machen und unser weiteres Vorgehen planen. Bevor wir dies machen, sollten wir aber die Lage checken und nicht einfach blind darauf vertrauen, dass rote Blumen ein Zeichen dafür sind, dass wir hier keinen Gefahren ausgesetzt sind."
Letzteres sprach sie besonders laut in Nialls Richtung, der sich daraufhin aufrichtete und den Kopf schief legte.
„Hier gibt es rote Blumen?"
Mit einem metallischen Krachen ließ Megs ihre Stirn stöhnend gegen die Außenwand des Helikopters stoßen.
„Ein weiterer Grund, warum ich nicht bei Niall mitfliegen wollte", äußerte sich Mason, der sich unbemerkt hinter mich aufgestellt hatte. Ich ignorierte ihn.
„Dann mal los", meinte Jenia und schulterte eines der hochentwickelten Gewehre, die wir den Wächtern abgenommen hatten. Zusammen mit Christopher verschwand sie die Böschung abwärts. Ich starrte ihnen hinterher, bis sie im Dickicht des kleinen Waldes verschwanden, der sich wie eine Wand am unteren Ende des Hügels in den Himmel erhob.
Eine frische Prise fuhr mir durch die Haare und streifte meine Wange. Automatisch schob ich mir meine zotteligen Haarsträhnen wieder hinters Ohr. Die Sonne brach nun vollkommen zwischen den Wolken hervor und erwärmte innerhalb weniger Sekunden mein Gesicht. Es war nicht zu leugnen, dass es ein warmer Tag sein würde.
Wer hätte gedacht, dass ich einmal einen wahrhaftigen Sommertag erleben würde?
Ich schüttelte meinen Kopf und riss mich somit selbst aus meinen Gedanken. „Ich sichere den Westen", sprach ich laut aus, wobei ich nicht mal sicher war, ob mir irgendeiner zu hörte.
Mason war schon längst verschwunden und auch Megs war dabei, sich ein Gewehr rauszusuchen, während Niall weiterhin im Gras liegen blieb. Vielleicht schlief er.
Ich schnappte mir die nächstbeste Waffe, eine kleinere Pistole, mit der ich auch umgehen würde können und setzte mich in Bewegung. Sam folgte mir.
Zusammen streiften wir zuerst durch knöchelhohes, saftig grünes Gras, das sich aber, je weiter wir gingen, immer mehr in eine hüfthohe Savanne verwandelte. Auch wenn ich darauf bedacht war Ausschau zu halten, konnte ich es mir nicht verkneifen, vorsichtig mit meinen Händen über die Gräser zu streichen.
Das grüne und gelbe Gras wechselte sich unregelmäßig ab und als wir nach weiteren Minuten stetigen Wanderns die westlichen Ausläufe des Waldes erreicht hatten, blieben wir stehen.
Die Stämme der Bäume waren dünn und gerade zu filigran, dafür wandten sie sich mehrere Meter hoch in die Lüfte, streckten ihr dichtes Blätterdach stolz der Sonne entgegen.
Es war schwer sich vorzustellen, dass dieser Ort einmal nicht so friedlich gewesen sein sollte, wie er es nun war.
Zwar waren Sam und ich nicht nur einmal auf unserem Weg in kleinere und größere Kuhlen getreten, die mehr als deutlich zeigten, dass der Untergrund so nicht von Mutter Natur erschaffen worden war, aber selbst diese Stolperfallen, die uns die Knöchel brechen könnten, konnten mich nicht davon abhalten, mich von einer Sekunde auf die nächste in diesen Ort zu verlieben.
Zwitschernd flogen mehrere Vögel über unsere Köpfe hinweg und selbst um unsere Köpfe schwirrten mehrere kleinere Insekten. Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, Mason später zu fragen, ob er mir mehr über diese Tiere erzählen könnte, aber dann beschloss ich, es sein zu lassen. Höchstwahrscheinlich würde er mich nur spöttisch mustern und mir keine Antwort geben. Diese Blöße wollte ich mir nicht geben.
Mason wurde allgemein von Tag zu Tag ein größeres Rätsel. Ich fragte mich, woher er so viel über die Mutationen, Tiere und, wie er gestern gezeigt hatte, über Technik wusste. Und warum er dieses Wissen verheimlichte und nicht damit rumprahlte, wie man es sonst bei jemand wie Mason vermuten würde.
„Wollen wir zurück?" Sam riss mich aus meinen Gedanken und mit einem letzten, prüfenden Blick auf den Wald nickte ich. Wer wusste schon, was sich dort im Wald verstecken würde? Alleine mit Sam würde ich es jedoch nicht wagen, ihn zu betreten.
Unsere Pause würden wir eh auf der Wiese verbringen, von dort aus hatten wir dank der weiträumigen Fläche und der abfallenden Böschung einen guten Überblick. Wenn der Wald Gefahren beherbergen würde, würden wir dies früh genug mitbekommen. So hoffte ich dies zumindest.
Der Rückweg fühlte sich länger an. Vielleicht lag es daran, dass ich dieses Mal nicht vollkommen in meiner Faszination gefangen war und jeden falschen Schritt schmerzhaft spürte. Meine Knöchel schmerzten, als wir schlussendlich wieder die Helikopter erreichten.
Auch die anderen waren wieder zurück und wirkten so entspannt, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Niall und Christopher waren bereits dabei eine Art Zaun mithilfe von Geäst zwischen den beiden Helikoptern aufzubauen, sodass wir zumindest von einer Seite zusätzlichen Schutz hätten, falls wir ihn benötigen würden.
Jemand hatte die silbernen Truhen aus den Helikoptern getragen und eine Feuerstelle errichtet, über die bereits mehrere Töpfe hingen. Decken waren auf dem Boden ausgebreitet und würde ich unsere gesamte Situation ausblenden, könnte ich mir fast vorstellen, dass wir hier einfach nur picknicken würden.
„Wie sieht es im Westen aus?", fragte Megs uns, als wir in den Kreis traten und somit die Aufmerksamkeit auf uns zogen.
„Ungefähr zwei Kilometer Weidenfläche bis man auf den westlichen Rand des Waldes trifft. Es gibt viele Unebenheiten, sollten wir also rennen müssen, würde ich von einer westlichen Fluchtroute abraten", entgegnete Sam, bevor ich überhaupt meinen Mund öffnen konnte. Er ließ sich auf einen der Truhen fallen und massierte seine Knöchel. Auch er muss des Öfteren umgeknickt sein.
In Gedanken versunken nickte Megs und kramte gleichzeitig aus den Tiefen ihres Rucksackes einen Kochlöffel hervor.
„Genau das Gleiche im Osten, dort sind es aber nur noch die spärlichen Ausläufer des Waldes. Es gibt dort einen See, wir könnten nachher unsere Sachen dort waschen."
Zustimmend nickte ich. Der Gedanke daran, zu waschen und meine dreckigen und nach Schweiß stinkenden Kleidungsstücke zu waschen, erfüllte mich mit Vorfreude.
„Wir sollten nur zunächst eine Lösung für unser Problem finden." Megs rührte ohne aufzusehen in dem Kochtopf herum. Kochendes Wasser umspülte eine riesige Menge an Reis. Unser Frühstück, so wie immer.
„Was für ein Problem?", hakte ich verwirrt nach und mein Blick flog zwischen Megs und den anderen hin und her. Niall ließ vom Zaun ab und klopfte sich den Dreck von den Händen, als er sich neben Sam auf die Truhe fallen ließ.
Seine blauen Augen trafen auf meine und sein schelmisches Grinsen passte nicht zu dem Ernst der Wörter, die er aussprach: „Liam hat ausgerechnet, dass wir nicht genügend Treibstoff haben, um das Wasserkraftwerk zu erreichen. Um Ballast los zu werden, werden wir dich wohl hier lassen müssen..."
Ich spürte regelrecht wie mein Herz aufhörte zu schlagen und ich bleich wurde. Mein Mund öffnete sich, doch kein Wort kam heraus.
Bevor ich jedoch abwägen konnte, ob er es ernst meinte, brach Niall in schallendes Gelächter aus und schüttelte den Kopf. Als er sich wieder beruhigt hatte, stand er auf und umrundete die Feuerstelle. „Spaß am Rande, du müsstest mal dein Gesicht sehen, meine Hübsche. Das Problem bleibt jedoch gleich, die Lösung wird nur eine andere sein, fünfzig Kilo weniger wird uns keine zehn Meilen weiter bringen."
„Was Niall eigentlich damit sagen möchte, ist dass der Treibstoff der Helikopter bereits erschreckend gering ist." Liam trat zu uns in den Kreis und wischte sich mit einem Lappen über die Stirn. Schweißtropfen glänzten auf dieser und auch sein gesamtes Shirt klebte ihm nass am Oberkörper. Insgeheim fragte ich mich, was er gemacht hat, um so verschwitzt zu sein. Als ich merkte, dass ich seine muskulöse Brust, die sich durch das Shirt abzeichnete anstarrte, hob ich hastig den Blick.
„Wir fliegen also bereits auf Reserve?", fragte ich nach und bekam ein einstimmiges Nicken der anderen. Nun war ich es, die sich stöhnend neben Sam auf die Kiste fallen ließ. Die Wunschvorstellung, dass wir ohne weitere Probleme und Zwischenfälle gemütlich zum Wasserkraftwerk fliegen könnten, löste sich in Luft auf.
„Wie weit sind wir noch von den Wasserkraftwerken entfernt und wie viel von dieser Strecke könnten wir noch fliegen?", sprach ich schließlich das Entscheidende aus.
Megs hob den Blick vom Kochtopf und sah zu Liam. „Genau das wollte Liam eben für uns überprüfen...", meinte sie langsam und mit einem Nicken trat Liam noch einen weiteren Schritt vor.
„Wir müssen die Tankfüllungen umfüllen und mit einem Helikopter weiterfliegen. Dann sind wir zwar schwerer, wird sich aber dennoch rechnen. Wenn alles gut läuft, könnten wir dann noch ungefähr sechs Stunden Fliegen. Bis zu den Wasserkraftwerken wäre es dann noch über den Daumen gerechnet ein bis zwei Tagesmärsche, je nachdem wie die bedingten Faktoren sind."
Ich wusste, was er mit Faktoren meinte:
Landschaften.
Wetter.
Tiere.
Dieser Tagesmarsch könnte noch weitere Leben fordern.
„Okay." Ich massierte meine Schläfen und schloss für einen kurzen Augenblick meine Augen.
„Es wäre am besten, wenn wir dann in den frühen Morgenstunden losfliegen würden, damit wir mit viel Glück am Abend vielleicht schon das Wasserkraftwerk erreicht haben und möglichst kein neues Nachtlager aufschlagen müssen", erläuterte Megs weiter den Plan und ich verfolgte ihn in Gedanken.
Es war logisch, dass man noch vor dem Sonnenaufgang wieder losfliegen würde, auch wenn dies bedeuten würde, nicht einmal einen vollen Tag hier zu verbringen. Gleichzeitig wusste ich jedoch auch, dass es so eigentlich besser war. Es war gefährlich sich zu lange an einem Ort aufzuhalten, besonders jetzt, wo wir wussten, dass auch die Regierung hinter uns her war.
Ich fragte mich, ob Marcus Payne die Erlaubnis bekommen hatte, erneut einen Suchtrupp loszuschicken und wenn ja, ob er uns vielleicht schon bald eingeholt hatte. Wer wusste es schon, vielleicht warteten sie ja einfach an den Toren des Wasserkraftwerkes? Immerhin wussten sie ja, welches Ziel wir haben und was gäbe es einfacheres, als dort gemütlich auf uns zu warten und die Beute in die Falle laufen zu lassen?
Ich schluckte bei dem Gedanken und versuchte ihn zu verdrängen. Darum konnte ich mir meinen Kopf zerbrechen, wenn wir in unmittelbarer Nähe vom Wasserkraftwerk waren.
Um mich abzulenken, wandte ich mich an Megs: „Du hast was von einem See gesagt?"
Keine zehn Minuten später führte mich Megs über die Wiese hinweg und an den vereinzelten Bäumen vorbei. Die anderen waren im Lager geblieben, um es weiter abzusichern und sich um das Essen zu kümmern.
Wir liefen schweigend nebeneinander her, doch die Stille hatte etwas Beruhigendes. Die Sonne stand nun an ihrer höchsten Stelle und ihre Hitze verbrannte mir meinen Kopf. Es fühlte sich an, als würde ich bei lebendigem Leibe gegrillt und umso mehr freute ich mich auf das Wasser. Ab und an konnte ich auf dem Boden Steine und Trümmerteile erkennen, die einst von Menschen erschaffen wurden, doch ich zwang mich, sie nicht weiter zu betrachten. Das, was hier einst war, gab es schon lange nicht mehr.
Als wir den letzten Baum umrundeten, breitete sich vor uns eine unglaubliche Landschaft aus. Mir stockte der Atem und wie angewurzelt blieb ich stehen.
Die Wiese fiel in sanften Zügen weiter ab und endete in ein Ufer eines kristallblauen Sees, dessen Wasser sanft über die Grashalme schwappte. Am anderen Ufer erhob sich ein weiterer Hügel, der dicht bewaldet war und so etwas Schatten spendete. Kleine Insekten flogen über die Wasseroberfläche im Zickzack umher und die Sonnenstrahlen brachen auf der klaren Wasseroberfläche und brachten sie somit zum Glitzern. Weiter nach Osten verkleinerte sich der See zu einem Ausläufer. Ich konnte nur vermuten, dass der See wie einer der Flüsse war, die wir von oben sehen konnten, denn der kleine Fluss, der vom See abzweigte, verschwand um die Ecke inmitten des Waldes.
Nur wenige Meter entfernt lagen mehrere riesige Steine, auf die Megs zu hielt.
Ich kam kaum aus dem Starren heraus, zwang mich jedoch mit ihr Schritt zu halten.
Die Oberfläche des Steines war vom Wind und Sand glatt geschliffen und von der Sonne erwärmt. Deswegen zögerte ich nicht lange und tat es Megs gleich, indem ich mir zuerst das Tshirt über den Kopf zog und mich dann aus meinen Schuhen und Hose strampelte.
Ohne lange zu überlegen, sprang Megs ins Wasser. Wassertropfen flogen zu allen Seiten und sie lachte, als sie schließlich mit ihrem Kopf wieder durch die Wasseroberfläche trat und sich die Tropfen aus den Haaren schüttelte. Ihre gebräunten Arme hoben sich stark von dem kühlen Ton des Wassers ab.
„Es ist herrlich, Sophia!", rief sie mir zu und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Ich nickte belustigt und ließ meinen Blick über den See gleiten. Er wirkte friedlich, aber dennoch konnte er so tödlich sein.
Ich erinnerte mich nur zu gut an das Liliental und daran, wie ich dort beinahe in dem radioaktivverseuchten Wasser ertrinken bin.
Ich konnte nicht schwimmen und selbst wenn dieses Wasser so rein wie nichts anderes auf dieser Welt war – ich würde dennoch untergehen wie ein Stein.
Megs schien zu kapieren, worüber ich mir Gedanken machte und schwamm etwas auf mich zu.
„Hier kann man noch stehen, du kannst dich ja ans Ufer setzen und dich voran tasten."
Unsicher ließ ich weiter meinen Blick schweifen und nickte dann. Ich musste mich und meine Kleidung so oder so waschen. Langsam richtete ich mich auf und verschränkte sofort meine Arme vor meiner Brust.
Ich tat, wie sie es vorgeschlagen hatte, setzte mich mit meinem Hintern in das nasse Gras und ließ meine Beine durch das Wasser gleiten, während ich zuerst meine Kleidungsstücke durch die Nässe zog, auswrang und schlussendlich auf dem Stein zum Trocknen ausbreitete.
Als ich dann wieder ans Ufer trat, war Megs bereits da und streckte mir die Hand entgegen, damit ich nicht wegrutschte. Ich ging so weit in den See, bis ich bis zu meiner Hüfte im Wasser stand und hockte mich langsam hin, um mich waschen zu können.
Es war ein tolles Gefühl sich all den Dreck und Staub vom Körper zu waschen, doch ich wünschte mir, so manch eine Erinnerung genauso verschwinden lassen zu können.
Bevor meine Gedanken wieder zu Jordan und Harry gleiten konnten, konzentrierte ich mich auf Megs, die sich neben mir im Wasser treiben ließ, aber ein Auge darauf hatte, dass ich nicht ausversehen unterging und ertrank.
„Wo hast du schwimmen gelernt, Megs?"
Sie war genauso wie ich in einem niedrigen Sektor aufgewachsen, so vermutete ich es zumindest, und hatte somit keinerlei Anspruch auf einen Besuch in einem Schwimmbad. Dies war für die mittleren und höheren Sektoren reserviert.
Megs wendete mir ihren Kopf zu und für einen flüchtigen Augenblick erkannte ich so etwas wie eine schmerzhafte Erinnerung in ihren Augen. Genauso schnell war sie jedoch wieder verschwunden und sie drehte ihren Kopf wieder so, dass sie in den Himmel sehen konnte.
Ihre braunen Haare trieben wie ein Fächer um ihren Kopf herum im Wasser.
„Mein Bruder hat es sich zur Pflicht gemacht, mir alles beizubringen, was man uns als Bewohner eines niedrigen Arbeitssektors eigentlich verboten hatte..." Mit ihren Händen fuhr sie durch das Wasser und erzeugte dabei kleine Wellen. „Glenn war schlau und so war es für ihn kein Problem, die stillgelegten Arbeitertreppen ausfindig zu machen. Eines Nachts hatte er mich geweckt und gesagt, dass er mit mir einen Schwimmausflug machen würde." Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und zeigte mirsomit, dass sie in Erinnerung schwelgte. „ Hätte man uns in dem kleinen Schwimmbad, in das wir eingebrochen sind, erwischt, hätte dies unseren Tod bedeutet, aber ich war damals sieben Jahre alt und habe darauf vertraut, dass mit Glenn nichts schief gehen würde. Es ist tatsächlich auch alles gut gegangen. Am nächsten Tag konnte ich schwimmen und dies war erst der Anfang von so vielem mehr..."
Bei dem Namen Glenn regte sich eine Erinnerung in meinem Kopf und angestrengt versuchte ich sie hervorzuholen. Doch sie blieb dicht unter der Oberfläche, wollte sich nicht zu erkennen geben und mir verraten, warum mir dieser Name so vertraut vorkam. So, als hätte ich ihn bereits irgendwo gehört. Nicht jedoch von Megs, denn dies war das erste Mal, dass sie davon erzählte, dass sie einen Bruder hatte.
„Wo ist dein Bruder jetzt, Megs?"
Tief in meinem Inneren wusste ich die Antwort schon. Es war nicht anders zu erwarten, denn warum sollte Megs sonst all die Jahre bei Niall im Todessektor gelebt haben?
Aber dennoch stellte ich die Frage und bereute es im gleichen Moment.
Megs blaue Augen trafen auf meine und ich erkannte einen unglaublichen Schmerz in ihnen, der nur von einer einzigen Sache herrühren konnte.
Verlust.
„Sophia, Glenn war vielleicht schlau, aber nicht schlau genug." Sie richtete sich auf und watete durch das Wasser ans Ufer. Nur in Unterwäsche bekleidet, erkannte ich, dass auch Megs hier draußen dünner geworden war und ihre Arme von der Sonne deutlich brauner waren, als der Rest ihres Körpers. Am Ufer angekommen sprach sie so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte: „Als sie kamen, realisierte ich, dass ich all die Jahre falsch gelegen habe." Sie drehte sich nicht zu mir um, als sie weiter sprach und bückte sich nach ihren Klamotten, die neben meinen auf dem Stein lagen: „Es konnte verdammt viel schief gehen und Glenn stand jeden Tag auf Messers Schneide." Sie schlüpfte in ihr Tshirt und ignorierte es, dass es sofort an ihrem nassen Oberkörper kleben blieb. „Und irgendwann ist er gefallen."
Und dann, als sie sich schließlich zu mir umdrehte, mit nichts bekleidet als dem zu großen Tshirt, das ihr am Körper klebte und sie beinahe wie ein kleines Kind wirken ließ, schoss mir die Erkenntnis durch den Kopf. In diesem Moment sah sie genauso aus.
Genauso wie das kleine Mädchen, nur vierzehn Jahre älter.
Die zweite Nacht im Skyland, die erste in der Todeszone.
Ein zerknittertes Foto im Bunker.
Drei Kinder, die grinsend in die Kamera schauen.
Auf der Rückseite in einer ausgeblichenen Schrift vermerkt:
Erstes gemeinsame Foto von Glenn, Ellen und Mina, 2419
Daher kam mir der Name bekannt vor.
Es war wirklich Megs Foto.
Ein Foto von ihr und ihren Geschwistern.
Ihr Bruder Glenn, der grinsend einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.
Ihre Familie und ihr Name war wohl eines ihrer Geheimnisse.
Eines, das viel Tragik beinhaltete.
Und ein Geheimnis, von dem nichts übrig blieb bis auf die tief verschlossene Erinnerung und ein geknicktes Foto in der Jackentasche.
Ich sagte nichts, als Megs ging.
Sie wusste, dass ich den Weg kannte.
Meine Pistole lag griffbereit auf dem Stein, ich war also nicht schutzlos, solange ich nicht weiter in den See rutschte und ertrank.
Aber auch ich ließ Megs ziehen.
Ohne ein Wort zu sagen und somit zu verraten, dass ich wusste, dass sie ihren richtigen Namen verbannt hatte, um der Vergangenheit zu entfliehen.
Vielleichthatte Megs genauso viele Dämonen wie Niall sie hat.
~
(04.07.2017)
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