-27- ➳ Skyland
. . .
Rasend schnell streiften mich Gräser.
An meinen Beinen.
An meinen Händen.
An meinen Armen.
Ich achtete nicht mehr sorgfältig darauf, wo ich hintrat.
Stattdessen rannte ich und konnte nur noch stille Gebete in den Himmel schicken, dass sich auf meinem Weg keine tückischen Stolperfallen versteckten.
Das Adrenalin schoss durch meinen ganzen Körper und rauschte mir zusammen mit dem Blut durch meine Ohren.
Alles rauschte.
Ich nahm nichts mehr wahr, außer dem wilden Klopfen meines Herzens.
Und den flatternden Geräuschen der Helikopter.
Die ersten Gebäude der ehemaligen Großstadt kamen immer näher, ließen in mir die Hoffnung aufleben, dass wir es schaffen könnten.
Gleichzeitig wollte ich es aber auch nicht wagen, einen Blick über meine Schulter zu werfen, um zu schauen, ob die Helikopter so nah waren, dass sie uns in dem hohen Gras bemerken könnten.
Ich betete, dass dies nicht der Fall war.
Keuchend atmete ich ein und aus und versuchte mich voll und ganz auf die riesigen Hochhausleichen zu konzentrieren. Meine Schritte verlängerten sich, die Gräser schlugen mir nun immer schneller gegen die Beine, doch fanden zum Glück nie die Zeit, mich zum Fallen zu bringen.
Zuerst kam ich Christopher näher, dann Jenia.
Als ich meine Zähne zusammenbiss und mein Tempo noch etwas mehr anzog, sah ich es passieren.
Unsere gesamte Truppe war nur noch einen Katzensprung von den ersten Gebäuden entfernt und während Mason, gefolgt von Liam und Sam die Spitze bildeten, rannte Niall direkt hinter Megs, die jedoch immer wieder auf Jenia zu achten schien.
Und dann traf sein linkes Bein auf keinen Grund.
Es war ein Krater, der ihn zu Fall brachte.
Niall verschwand vollkommen in dem hoch gewachsenen, gelben Gras und doch hörte ich seinen Schmerzensschrei.
Genauso wie Megs.
Sie erstarrte, doch keine Sekunde später hatte sie sich umgedreht und war zu Niall zurück gerannt.
Christopher und Jenia erreichten die beiden, doch mit einer wilden Handbewegung deutete Megs nur an, dass sie sich beeilen sollten in die Stadt zu kommen.
Sie taten es.
Und dann kam ich an.
„Megs!", rief ich keuchend als ich zum Stehen kam.
Sie hatte sich zu Niall gehockt, der sich bereits wieder versuchte in dem kleinen Krater aufzurichten, dabei aber schmerzhaft das Gesicht verzog.
„Verdammte Scheiße, renn weiter Sophia!"
Megs Stimme war voller Panik als sie versuchte Niall zu helfen, indem sie seinen rechten Arm um ihren Hals legte.
„Sophia, nun mach schon, dass du hier weg kommst!", schrie sie mir erneut entgegen, als ich mich noch immer nicht rührte.
Mein Herz donnerte gegen meine Brust, doch die Geräusche der Helikopter waren um ein vielfaches lauter.
Als ich nun einen Blick in den Himmel wagte, sackte mein Herz in die Hose.
Sie waren nah.
So nah, dass ich die glänzenden Symbole des hohen Rates auf dem schwarzen Metall erkennen konnte.
So nah, dass sie uns ohne Probleme in Visier nehmen könnten.
Wir waren viel zu langsam für Helikopter.
„Sophia, Scheiße, nun renn endlich!" Megs Stimme war in ein Kreischen übergegangen, doch Nialls qualvolles Stöhnen war es, was meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.
Und dann sah ich auch, warum er solche Schmerzen hatte.
Megs hatte es geschafft ihn in eine sitzende Position zu ziehen und als Niall versuchte sich aufzurappeln, hielt er seinen linken Arm komisch an seinen Körper gedrückt.
Sein gesamter Ärmel war in frischem rotem Blut getränkt.
Megs entdeckte es im gleichen Moment wie ich.
„Scheiße", brach es aus ihr heraus.
„Scheiße, scheiße, verdammte scheiße!"
Niall war auf seine linke Seite gefallen.
Auf seine Schussverletzung, die nicht einmal zwei Wochen alt war.
„Oh mein Gott!", keuchte ich und wollte mich auf die Knie fallen lassen, um den beiden zu helfen, als mein Blick erneut den von Megs kreuzte.
„Nein, Sophia! Nun mach, dass du endlich in die Stadt kommst!"
Ihr Blick war so intensiv wie noch nie zuvor und hielt mich davon ab, ihr sofort zu helfen.
Dennoch zögerte ich.
Denn Megs würde Niall niemals alleine von hier wegbekommen.
Aber selbst wenn wir beide Niall unterstützen würden, wären wir gefundenes Fressen für die Wächter hoch oben in den dunklen, gefährlichen Metallkäfigen.
Megs schien meine Gedanken lesen zu können, denn während sie hastig meinte, dass sie mit Niall hier im hohen Gras sicherer war, als beim Laufen, meldete sich auch Niall wieder zu Wort: „Wenn du nicht endlich verschwindest, werde ich dich eigenhändig erschießen, meine Hübsche!"
Mein Blick traf auf Nialls blaue Augen.
Dann nickte ich.
Und rannte weiter.
Meine Füße flogen im Takt meines wild klopfenden Herzens über den Boden.
Ich war nicht einmal eine halbe Minute bei Niall und Megs geblieben.
Und ich brauchte nicht einmal vierzig Sekunden, um die ersten Mauern zu erreichen.
Schlagartig wurde es durch die Schatten der Metallleichen, die sich in gigantische Höhen erstreckten, dunkler und um einiges kühler.
In diesem Moment gaben sie mir die Illusion von Sicherheit.
Ich warf noch einen Blick über meine Schulter, bevor ich zwischen zwei Trümmerbergen in die Überreste eines alten Gebäudes schlüpfte, von dem ich wusste, dass auch die anderen dort Unterschlupf gesucht haben.
Ich konnte weder Niall noch Megs sehen.
Dafür jedoch umso deutlicher die Helikopter, die nun nur noch wenige hundert Meter von der Stadtgrenze entfernt zu sein schienen.
Sie durften Niall und Megs nicht sehen.
Sie durften uns nicht finden.
Kaum betrat ich den Raum und blinzelte, um mich an die dämmrigen Lichtverhältnisse zu gewöhnen, da fiel mir mein kleiner Bruder schon um den Hals.
„Soph!", rief er und auch wenn ich von einem Moment auf den nächsten von all meinen Kräften verlassen wurde und nur noch schwer auf meinen wackeligen Beinen stehen konnte, drückte ich ihn eng an mich.
Über seiner Schulter hinweg streifte mein Blick den von Liam und Jenia.
„Kommen die anderen noch?", fragte Jenia ängstlich und trat etwas auf mich zu. Blonde Strähnen hatten sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelösten und fielen ihr fettig und dreckdurchzogen ins Gesicht. Ihre aufgesprungenen Lippen hatte sie leicht geöffnet und sie schien nicht einmal zu blinzeln, als sie angespannt auf eine Antwort wartete.
Ich schüttelte den Kopf, doch als sie erschrocken nach Luft schnappte, befreite ich mich von Sam und fügte schnell hinzu: „Sie verstecken sich im Gras. Nialls Schusswunde blutet wieder, sie hätten es nie hier her geschafft."
Bevor Jenia etwas entgegnen konnte, ertönte Masons Stimme aus einer dunklen Ecke: „Vielleicht verblutet er ja. Dann müssen sich die Wächter nur noch mit der Schlampe herumschlagen."
Es verging kein Atemzug, bis Christopher durch mein Sichtfeld auf Mason zu stürmte.
Auch Mason schien überrumpelt, als er von Christopher an seinem Tshirtkragen nach oben gezerrt und dann gegen die staubige Wand gedrückt wurde.
Christophers Gesicht war wutverzerrt und mit seiner freien Hand drückte er Masons Gesicht gegen den Beton.
„Wag' es ja nicht noch einmal so etwas zu sagen, sonst haue ich dir den Schädel ein, bis sich die Wächter nicht mehr mit dir abgeben müssen!"
Ich hielt die Luft an und mein Gehirn versuchte noch, die gesamte Situation zu verstehen.
Langsam, wie in Zeitlupe, schlich sich ein Lächeln auf Masons Gesicht und nachdem er versuchte, eine dunkelblonde Locke aus seinem Gesicht zu pusten, sprach er: „Dann lass' ich es drauf ankommen."
Ich spürte, wie Liam sich neben Jenia anspannte.
Ich wusste nicht, was ich machen würde, wenn die ganze Situation eskalieren würde.
Doch glücklicherweise hatte Christopher sich unter Kontrolle, drückte Mason noch einmal mit seinem ganzen Gewicht gegen die Wand, ließ ihn dann los und sagte: „Wir haben momentan aber leider weitaus größere Probleme als deine scheiß Visage. Also versuch' deine Überlebenschancen in der Gruppe nicht noch geringer zu halten, als sie sowieso schon hier draußen sind."
Er drehte sich um, marschierte an Sam und mir vorbei Richtung Ausgang und rief dann über seine Schulter hinweg: „Wir sollten die Helikopter im Blick behalten! Es kann immer noch sein, dass sie uns entdeckt haben und bald die Gebäude zu Fuß durchstreifen werden!"
Er verschwand durch die Lücke nach draußen.
Tief holte ich Luft, als mein Blick sich von dem kleinen Lichtstreifen löste, der von draußen in den Raum fiel und ließ dann meinen Blick durch den leeren, voller Betonstaub gefüllten Raum wandern. Einzelne Trümmerteile lagen hier und da, Christophers Rucksack lehnte an der Wand, genauso wie die der anderen. Mein Blick traf zuerst auf den von Liam, der mich nicht aus den Augen zu lassen schien, und wanderte dann weiter zu Mason, der noch immer in der Ecke hockte.
Als er meinen Blick bemerkte, sah er mich finster an und bevor ich mir irgendeine Beleidigung von ihm einheimste, brach ich den Blickkontakt ab.
„Christopher hat Recht. Wir müssen die Hubschrauber im Auge behalten und schauen, ob Megs und Niall sicher nachkommen können", durchbrach überraschenderweise Sam die Stille und rieb sich dabei die Handflächen an den Hosenbeinen ab.
Jenia nickte und schien gar nicht mehr damit aufhören zu wollen.
„Ja! Ich sichere diesen Raum, damit wir uns sicher sein können, dass wir nicht in dem Nest eines dieser Viecher gelan-"
„Hier sind keine Tiere", unterbrach Mason sie mit harter Stimme und richtete sich auf.
Stirnrunzelnd drehte sich Jenia in seine Richtung und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Und das behauptest du einfach so, weil...?"
„Weil hier weder Spuren im Staub, noch Knochen, noch sonst irgendwelche Hinweise zu sehen sind, die vermuten lassen würden, dass in den letzten Jahren etwas in diesen Raum gelangt ist. Deswegen bin ich mir so sicher, Jenia."
Jenia öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Liam kam ihr zuvor: „Dann haben wir zumindest eine Sorge weniger..."
„Wenn dein Daddy nicht sein würde, hätten wir einen Haufen Sorgen weniger."
Wir alle ignorierten Mason und mit einem Seitenblick zu meinem Bruder, beschlossen wir stillschweigend, Christopher zu unterstützen.
Ich streifte meinen Rucksack ab, ließ ihn an Ort und Stelle fallen und folgte den anderen.
Mason blieb als einziger zurück.
Wir mussten drei Blocks in den Schatten der hohen Gebäude herumschleichen, bis wir Christopher unter einem verrosteten Linienbus fanden.
Das Flattern der Helikopter war nicht verschwunden und schien uns wie ein Echo zwischen der ansonsten so unheimlichen Stille der toten Stadt zu verfolgen.
Denn sehen konnten wir sie nicht.
„Hast du schon was entdeckt?", fragte Liam nach, als wir nacheinander zu Christopher unter den Bus robbten.
„Ab und zu gelangen sie in diesen Block, drehen aber nach ein, zwei Minuten wieder ab. Man kann sie dann nur noch hören", antwortete Christopher ohne den Blick von dem Himmel abzuwenden.
„Das ist doch aber ein gutes Zeichen, oder? Dann wissen sie zumindest nicht, wo sie uns genau suchen müssen...", warf Jenia zögernd ein. Ich runzelte die Stirn und schüttelte meinen Kopf.
Doch Christopher war es, der meine Gedanken aussprach: „Aber allein, dass sie wissen, dass sie uns hier suchen müssen, ist überhaupt nicht gut. Wir können nur hoffen, dass sie noch nicht gelandet und Fußtruppen losgeschickt haben, weil sie nur eine Vermutung und noch keine Bestätigung über unseren Verbleib in dieser Stadt haben..."
„Also können wir es nicht riskieren zu Niall und Megs zu laufen?"
„Ich fürchte nicht, Jenia", entgegnete Christopher mit gesenkter Stimme.
Stille breitete sich wieder unter uns aus und diese hielt auch für mehrere Minuten an.
Wie alle anderen von uns, starrte auch ich hochkonzentriert in den Himmel.
Es würde bald anfangen zu dämmern und das hieß, dass wir uns schleunigst einen sicheren Schlafplatz sichern sollten.
Doch stattdessen lagen wir halb unter einem alten, längst von der Zeit zerfressenen Bus.
„Da sind sie wieder!", stieß Jenia plötzlich aus und zeigte in den Himmel.
Sie hatte Recht.
Das Flattern war wieder lauter geworden und einer der drei Helikopter schob sich in mein Blickfeld.
Automatisch versuchte ich mich noch kleiner zu machen.
Ich hatte Angst, dass sie mich trotz der Entfernung erkennen würden.
Wer wusste es schon, vielleicht hatten sie spezielle Ausrüstungen parat, mit der sie in hunderten Meter Entfernung jegliche Bewegung bemerken würden?
Ich versuchte mir einzureden, dass dies vollkommener Quatsch war, da sie uns sonst schon längst entdeckt hätten.
Als die Hubschrauber wieder abdrehten und aus unseren Blickfeldern verschwanden, drehte Jenia sich auf die Seite und meinte mit energischer Stimme: „Ich möchte wieder zurück und nachsehen, ob ich Megs und Niall helfen kann."
Christopher seufzte auf, strich sich einmal über seinen Kopf und biss dann auf seine Lippe. Auch Liam runzelte die Stirn und schien von dem Gedanken, dass Jenia einfach so durch das Gras marschieren würde, nicht begeistert zu sein.
Als dann jedoch Liam „Okay, dann komm ich mit", sprach, blinzelte ich überrascht und starrte ihn an. Auch Sam und Christopher sahen so aus, als würden sie nicht glauben, was sie gerade gehört haben.
„Du willst Niall helfen?", fragte Jenia mit einer Spur Spott, aber gleichzeitig auch verwundert.
Liam nickte und meinte als Erklärung, während er jeden von uns einmal ansah: „Ja, ist es so überraschend? Niall war es doch erst, der gemeint hat, dass wir hier draußen alle gleich wären. Und nun möchte ich den Anfang machen."
Mit diesen Worten robbte er sich unter dem Bus hervor und half Jenia beim Aufstehen.
Sein Blick kreuzte noch einmal meinen und während er mich ansah, versprach er: „Wir werden uns erst einmal in den Schatten der Gebäude aufhalten."
Als er sich umdrehen wollte, stockte er und fügte über seine Schulter noch hinzu: „Versucht weiter die Helikopter im Blick zu behalten, aber auch die Umgebung. Mason hat zwar vielleicht damit Recht, dass in unserem neuen Unterschlupf keinerlei Tiere waren, aber dies muss nicht für die ganze Stadt sprechen..."
Meine Beine waren schon längst eingeschlafen und mein Nacken vollkommen verrenkt, als Christopher schlussendlich beim Einsetzen der Dämmerung meinte, dass wir uns nun langsam Zurückziehen könnten.
Die Helikopter hatten wir nach dem Verschwinden von Liam und Jenia nur noch zwei Mal gesehen und seit einer längeren Zeit war es wieder ruhig.
Es war gut möglich, dass sie abgezogen waren und uns nicht in dieser Stadt vermuteten, doch meine Hoffnungen behielt ich für mich.
Schlussendlich dachten wir jeder das Gleiche.
Tief in die Schatten der Gebäude gedrückt, liefen wir in einem flotten Tempo zurück. Für mich sah es überall gleich aus, besonders in der anbrechenden Nacht:
Geröll.
Steine.
Betonklötze.
Metall.
Drahtseile.
Verrostete Autowracke.
Ein verbogenes Fahrrad mit nur noch einem Rad.
Und überall war der graue Staub.
Das Unkraut, das aus dem rissigen Asphalt spross, schien den einzigen Kontrast zu bilden.
Ich fragte mich, wie diese unglaubliche Stadt wohl geheißen hat.
In unserem kleinen Versteck angekommen, entdeckte ich sofort Megs und Niall.
Während Niall auf einer Decke lag, seinen Rucksack als Kopfkissen benutze und seinen Arm von Megs behandeln ließ, konnte er es sich nicht nehmen lassen, den Kopf schräg zu legen und mir ein Grinsen zu zuwerfen.
„Sophia, meine Hübsche! Darf ich dich darauf hinweisen, dass es aussiehst, als hättest du dich von Kopf bis Fuß in Staub gewälzt?"
Gerade als er noch etwas hinzufügen wollte, bekam er einen Schlag von Megs gegen seine Stirn, sodass sein Kopf wieder auf den Rucksack knallte.
„Beweg dich noch einmal und die Nadel landet in deiner Hauptschlagader, Niall!", meckerte Megs und forderte im gleichen Atemzug von Jenia: „Reich mir die Schere."
„Okay, okay. Tut mir Leid, Megs", meinte Niall, bekam im nächsten Moment einen erneuten Schlag gegen seinen gesunden Arm.
„Damit meine ich auch, dass du den Mund halten sollst!", fauchte Megs, doch ihr leichtes Lächeln milderte ihren Tonfall ab. Dann konzentrierte sie sich weiter auf die Behandlung von Nialls Wunde.
Ich wendete mich ab.
Wenn Megs Hilfe brauchen würde, würde sie schon Bescheid geben.
Außerdem war ich selbst vollkommen erschöpft und ließ mich an der Betonwand hinabgleiten.
Sam ließ sich neben mir nieder und fragte dann in die Runde: „Wo ist eigentlich Mason?"
Erst als mein Bruder es ansprach, bemerkte ich, dass er tatsächlich fehlte.
„Er ist oben auf dem Dach Ausschau nach Tieren und den Helikoptern halten", erklärte Jenia.
„Auf dem Dach?" Sofort war mein Interesse geweckt.
„Ja." Sie nickte einmal und reichte Megs einen sauberen Verband, ohne dass diese etwas sagen musste. „Hinter dem Geröllhaufen gibt es einen schmalen Spalt, der führt anscheinend in ein noch intaktes Treppenhaus."
Ich folgte ihrem ausgestreckten Finger und entdeckte den besagten Spalt. Er war gerade mal breit genug, dass man sich seitlich hindurchquetschen könnte. Erstaunlich, dass wir ihn vorhin nicht gesehen hatten.
„Wollen wir uns die Stadt morgen mal von oben ansehen?", richtete ich meine Frage an Sam. Auf seinem Gesicht breitete sich sofort ein Lächeln aus. Ich hatte es so sehr vermisst.
„Liam, hilfst du mir dann solange den Eingang zu verriegeln?"
Liam schien im ersten Moment erstaunt über Christophers Frage zu sein, doch dann nickte er und begann wie selbstverständlich größere Gesteinsbrocken zusammen zu suchen.
Wir errichteten unser Schlaflager stillschweigend, ich kramte die letzten Reste Trockenobst für Sam und mich hervor und bevor Megs mit Nialls Behandlung fertig war, tauchte ich in das Land der Träume.
Ich wusste, dass es vielleicht nicht das Schlauste war.
Dass wir uns eigentlich über die Geschehnisse des heutigen Tages beraten müssten.
Doch war mir auch bewusst, dass ich keine Sekunde länger meine Augen aufhalten konnte.
Am nächsten Morgen wurde ich von Megs geweckt.
„Wir wollen bald los", flüsterte sie neben mir hockend. Einmal rieb ich mir über meine Augen und nickte dann.
Mein Blick glitt zu den anderen, die sich bereits fertig machten.
Mason war nicht unter ihnen. Wahrscheinlich war er die ganze Zeit oben gewesen.
„Können wir noch einmal auf das Dach?", fragte ich mit einem Seitenblick auf Sam, der sich gerade die Schnürsenkel zu band. Zuerst zögerte Megs, warf dann einen Blick auf Niall und nickte dann.
„Ja, klar. Ich sag' den anderen Bescheid. Einer hätte eh' Mason holen müssen..."
Keine fünf Minuten später folgten wir Sam, der bereits mit einer Taschenlampe bewaffnet im Treppenhaus verschwunden war.
An manchen Stellen waren die Betontreppenstufen weggebrochen und teilweise fehlte das Gelände ganz, doch im Großen und Ganzen konnten wir ohne Probleme einundzwanzig Stockwerke in die Höhe gehen. Die letzten Sonnenstrahlen erkämpften sich ihren Weg durch mal kleinere, mal größere Löcher in der Wand, zu uns hinein.
Oben angekommen, stieß Sam die nur angelehnte Metalltür auf und als ich nach ihm auf das Flachdach des Hochhauses trat, zog ich scharf die Luft ein.
„Unglaublich", hauchte Megs hinter mir und auch die anderen waren sprachlos.
Mason lehnte an der niedrigen Brüstung und richtete sich auf, als er unser Auftauchen bemerkte.
Er klopfte sich die Hände, grinste und drehte sich dann nach Osten. „Die Natur holt sich einfach das wieder, was die Menschheit ihr vor langer Zeit geraubt hat."
„Wahrhaftig", konnte ich nur auf Masons Äußerung murmeln und ging wie gebannt auf die Brüstung zu. Dabei umrundete ich die Löcher, die zerfallenen Röhre der ehemaligen Belüftungsanlagen und blieb erst stehen, als meine Hände die kühle und raue Oberfläche der hüfthohen Steinmauer umklammerten.
Ich blinzelte der aufgehenden Sonne entgegen, die die ganze Ruinenstadt mit einem goldorangen Schimmer überzog. Erst von hier oben konnte ich das Ausmaß der Zerstörung überblicken.
Aber auch erst hier konnte ich mir vorstellen, was für eine gigantisch, stolze Stadt dies einmal gewesen sein müsste.
Bis zum Horizont erstreckten sich die Skelette einer Baukunst einer längst vergangenen Zeit. Manche Hochhäuser schienen wie Bäume in einem ganzen Stück gefällt worden zu sein und waren mit ihrem gesamten Gewicht von vielen Millionen Tonnen Stahl und Stein in anderen Gebäuden verkeilt. Doch wo manchmal nur noch ein einziges Trümmerfeld zu sehen war, so schienen andere Gebäude fast gänzlich unberührt.
Ihre Fassaden glänzten in der aufgehenden Sonne und schienen immer noch an ihrer alten Pracht festhalten zu wollen.
Und überall, einfach überall wo sie Halt fanden, wanden sich die Kletterpflanzen und das Unkraut sich um das Metall, brachen in jahrzehntelanger Arbeit den Asphalt auf und verwandelten eine ehemalige pulsierende Stadt in ein von der Natur zurückgewonnenes Gebiet.
Es raubte mir den Atem wie schön diese grausame Realität sein konnte.
Ich spürte eine Bewegung neben mir und aus den Augenwinkeln erkannte ich Liams Gesichtszüge.
„Unglaublich, dass wir in der Hauptstadt von England stehen, oder?"
Ich blinzelte und hakte nach: „In der Hauptstadt?"
Langsam nickte Liam, wendete den Blick jedoch nicht von dem Sonnenuntergang ab. „Ja, Cambridge. Hauptstadt Englands seitdem die Monarchie in England 2087 abgeschafft wurde und das Parlament hier hin verlegt worden ist..."
Cambridge.
Es schien eine wunderschöne Stadt gewesen zu sein.
Es war erdrückend aber befreiend zu gleich, zu wissen, wo wir uns befanden. Dass wir hier nun die einzigen Menschen in einem ehemaligen Knotenpunkt von so vielen Menschen und sein sollten, klang in meinen Ohren so surreal.
„Damals gab es eine Abstimmung, unglaublich oder? Allein der Gedanke, dass auf diesen Straßen einmal abertausende von Menschen ihren Alltag nachgegangen sind und dachten, sie würden England von Grund auf verändern... Keiner von ihnen wusste damals, dass Cambridge nicht einmal hundert Jahre als Hauptstadt überdauern würde." Liam stockte und fügte dann hinzu: „Aber selbst London würde dieses England nicht mehr verändern."
„Dieses Land ist schon lange nicht mehr England", erwiderte ich und ließ meinen Blick weiter über Cambridge gleiten.
Wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, wo die Bomben gefallen waren.
Den Status als Hauptstadt hatte Cambridge ins Verderben gezogen.
„Vielleicht sollten wir es dann benennen?"
Ruckartig bewegte ich meinen Blick zu Liam. Er sah immer noch auf die Skyline, schien meinen Blick meiden zu wollen.
„Und wie?", stellte ich die Gegenfrage.
Mein Blick glitt über die anderen.
Mason, der seine Füße im Abgrund baumeln ließ, Sam, der mit Christopher über irgendetwas zu diskutieren schien, Megs, die mit Jenia zusammen vollkommen in den Bann der Stadt gezogen worden war und sich erschreckend weit über die Brüstung lehnte.
Und Niall, dessen frischer weißer Verband wie ein Signalzeichen leuchtete. Seine Augen waren jedoch nicht auf die Stadt oder auf den Sonnenaufgang gerichtet, sondern nur auf Megs.
Und dann trafen meine Augen auf die Braunen von Liam.
„Wie wäre es mit Skyland?"
~
(26.04.2017)
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