-17- ➳Das Haus
Der weitere Weg war schweißtreibend und der raue Stoff des Shirts klebte mir unangenehm an meinem Rücken. Auch meine Füße protestierten immer mehr unter den Strapazen, die sie auf sich nehmen mussten.
Ich konnte nur beten, dass ich bald ein neues Paar Schuhe finden würde, denn sonst konnte ich an einer Hand abzählen, wie lange es noch dauern würde, bis ich mich ernsthaft an meinen Fußsohlen verletzen würde.
Die Luft war staubig und wenn man zu tief einatmete musste man husten, aber dennoch sog ich sie von Sekunde zu Sekunde weiter gierig in meine Lungen ein.
Ich starrte der Sonne entgegen, die man ab und an hinter den Wolken aufleuchten sah. Sie bannte sich immer weiter ihren Weg nach unten und tauchte die Welt in ein stetig dunkler werdendes Licht.
Und dann – irgendwann – tauchte es am Horizont auf.
Am Anfang konnte man nur Umrisse erkennen, dann reihten sich diese immer weiter auf.
Wir wurden automatisch schneller, vergessen waren die schmerzenden Glieder und die Erschöpfung, die tief in unseren Knochen saß. Um uns herum wurde es immer dunkler, aber wir starrten einfach wie fasziniert auf das, was wir vor uns sahen.
Es war komisch, denn von einem Moment auf den nächsten trafen unsere Füße auf eine alte baufällige Straße, die wie aus dem Nichts anfingen zu schien, genauso war es mit den Trümmern. Hier und da wuchsen kleinere Bäume und Gestrüppe und je weiter wir gingen, desto mehr schienen sie die alte Vorstadt in ihrer Gewalt zu haben.
„Seid wachsam und gibt bei der kleinsten Regung, die ihr wahrnimmt, Bescheid", ordnete Niall an, als wir den ersten Schritt in die zerstörte Vorsiedlung machten. Vereinzelt wurde genickt und sofort schien jeder um einiges angespannter.
Niall hatte Recht. Alles Mögliche könnte hier in diesen Gemäuern hausen.
Auch wenn ich im Notfall mit meinem Taschenmesser nicht viel anfangen könnte, holte ich es im Gehen aus meinem Rucksack. Ich fühlte mich damit um einiges sicherer, auch wenn es nur ein naiver Gedanke war, mich und aber auch die anderen damit beschützen zu können.
Links und rechts ragten die Ruinen kleinerer Häuser in die Luft und fasziniert und geschockt zugleich versuchte ich jegliches Detail in mich aufzunehmen.
Sie schienen wie ein Kartenhaus in sich zusammengesackt zu sein und haben nichts als eine Wüste aus Ziegeln und Geröll hinterlassen.
Wir umrundeten das Wrack eines Autos, das mitten vor uns auf der Straße seinen Friedhof gefunden hatte. Die Scheiben waren zerschlagen und sofort senkte ich meinen Blick auf den Boden. Doch durch all die Jahre, den Dreck und Staub, konnte man keine einzelnen Glasscherben mehr ausmachen. Dennoch tapste ich den anderen auf Zehenspitzen hinterher.
Es blieb nicht das einzige verrostete und von der Natur in ihre Gewalt genommene Auto. Je weiter wir durch die Straßen liefen, desto mehr vollkommen zerstörte Autos, zerfallene Häuser Unkraut sahen wir. Ich schluckte und versuchte den Gedanken an all die Menschen, die hier vor langer Zeit gelebt haben, zu verdrängen. Ob es zumindest irgendeiner von ihnen in einen der Skyscraper geschafft hatte?
Wir liefen weitere zehn Minuten durch diese Geisterstadt bis wir endlich eine Seitenstraße erreichen, die noch nicht völlig zerstört war. Zwar war auch hier alles voll von liegen gebliebenen Autos, vereinsamte Koffer, die durch die Witterung der ganzen Jahre, halb vergammelt waren und einzelne Spielzeuge, aber manche Häuser hatten ihre Grundstruktur noch aufrechterhalten.
Wir kamen an einem Grundstück vorbei, das damals wohl eine schön gepflasterte Auffahrt gehabt haben musste. Vereinzelt konnte man die Steine noch durch die Staubschicht erkennen. Ranken versuchten die Hauswände in ihre Gewalt zu bringen, aber dennoch ragte es noch stolz in den Himmel. Allein das Dach schien all den Jahre nicht standhalten haben können. Auch die Haustür fehlte. Dafür stapelte sich als eine Art Barrikade Trümmer vor dem Eingang.
Für einen kurzen Moment kniff ich meine Augen zusammen und schloss dann wieder zu den anderen auf. Wir passierten eine freie Fläche, von der ich annahm, dass auch hier damals ein Haus gestanden haben musste, dass nun völlig das Zeitliche gesegnet hatte, bis ich jedoch die vereinsamten Eisenstangen sah, die von Ranken umschlungen waren.
Daneben konnte man das Gerippe eines spiralförmigen Etwas erkennen und verwirrt runzelte ich die Stirn.
„Das war früher ein Spielplatz."
Es schien, als hätte Liam gespürt, dass ich nicht wusste, was das hier war.
„Ein Spielplatz?"
„Ja. Teilweise gibt es die auch noch in den höheren Sektoren der östlichen Skyscraper. Es ist wie ein Park, nur für Kinder. Die Nachbarskinder werden sich hier immer getroffen und gespielt haben..."
„Ich weiß, was ein Spielplatz ist", erwiderte ich, konnte mein Blick aber nicht von dieser freien Fläche lösen. Während das Gras an manchen Stellen braun und tot von dem Staub war, würde es mir an manch anderen Stellen bis zum Knie reichen. An der waagerechten Eisenstange, die von zwei senkrechten getragen wurde, hing eine einzelne Kette, die in dem leichten Wind hin und her schaukelte.
„Ich kann mir es bloß nicht richtig vorstellen", fügte ich stockend hinzu und ließ meinen Blick wieder auf den Weg vor uns wandern.
„Inwiefern?"
„Dass es jemals die Zeiten gab, wo man noch unbeschwert unter freien Himmel spielen konnte. Ohne sich als zehnjährige fragen zu müssen, ob man diesen Monat überhaupt genug Strom bezahlen kann, um beim Kochen des Eintopfs helfen zu können."
Liam blieb still.
Ich wollte auch keine Antwort.
Denn er hatte trotz seiner jetzigen Situation eine unbeschwerte Kindheit gehabt.
Er kannte unsere Welt nicht, zumindest hat er es selbst noch nie miterlebt, was es für ein Gefühl war, zu wissen, dass das einzige, was einen Zuhause erwartete, zwei hungrige Geschwister und ein verschrumpelter Apfel war, den man irgendwie in etwas nährhaften verwandeln musste, weil man nicht genügend Geld hatte, um ein ganzes Gericht auf den Tisch zu bringen.
Ich versuchte die aufkommende Wut zu unterdrücken und mich wieder auf die Umgebung zu konzentrieren. Hass auf Liam und auf all das, was mich hier hin gebracht hatte, würde mir nicht helfen.
Wir ließen den Spielplatz hinter uns und als es fast schon komplett dunkel wurde, erreichten wir am Ende der Straße, ein Gebäude, das einigermaßen gut erhalten war.
Selbst der eiserne Gartenzaun stand an manchen Stellen noch.
Es hatte zwei Stockwerke, einen halb eingestürzten Balkon und ein kleiner, von Staub übersäter Weg führte zu einer Haustür, die zu einem Drittel aufstand.
„Sieht so aus, als hätten wir für heute einen Schlafplatz gefunden", merkte Niall an und ging ohne zu Zögern voran. Wir anderen folgten ihm.
Wir stiegen über zerbrochene Dachziegel, nicht mehr identifizierbaren Gegenständen und einem halb durchgefressenen Reifen hinweg, bis wir die Tür erreichten. Niall und Megs schalteten ihre Taschenlampen ein und ich atmete tief ein, als ich hinter Sam die Türschwelle übertrat.
Der Flur hatte nur wenig Schutz vor den Witterungen gehabt, sodass die Tapete, zerfressen von Schimmel, in Streifen auf dem Boden lag. Zerbrochene Möbel lagen verwüstet kreuz und quer und als ich in einem Moment unachtsam war, knirschte etwas unter meinen Füßen. Sofort zuckte ich zurück und erkannte einen zerbrochenen Bilderrahmen.
Ich schluckte und versuchte mich zu beruhigen.
Auch wenn dieser schmale Flur wohl einmal genauso wie bei uns viele Bilder und Erinnerungsstücke beherbergt haben müsste, waren die Bewohner so oder so schon seit Jahrzehnten tot.
„Oh mein Gott, stinkt es hier!", röchelte Harry und drückte sich sein Halstuch gegen Mund und Nase.
„Das ist der Tod", warf Mason gelassen ein, während er mit einem Finger über die raue Wand strich.
„Hauptsächlich aber der Schimmel", entgegnete Jenia schnell und machte eine Handbewegung die die Wände, die Decke sowie aber auch den Boden mit einschlossen.
Am Ende des Flures war eine noch intakte Tür, die klemmte. Sie war jedoch schon so moros, dass sich Niall nur zweimal gegen sie schmeißen musste, bis sie mit einem Splittern nachgab.
„Zumindest können wir somit hoffen, dass es zumindest in den nächsten Räumen etwas besser aussieht", mutmaßte Christopher und inspizierte eine besonders große Ansammlung weißen Schimmels an der Wand, als er in den nächsten Raum trat.
Ich beeilte mich ihm Nachzugehen, in der Hoffnung, er möge Recht haben.
Auch wenn ich wusste, dass ein bisschen Schimmel um einiges besser war, als dort draußen weiter umher zu irren, war der Gestank wirklich penetrant. So schlimm roch es noch nicht einmal in den unteren Sektoren.
Der Raum, in dem wir uns befanden, war früher wohl mal eine Art Wohnzimmer gewesen, denn während im ganzen Raum verteilt Gegenstände auf dem Boden lagen, so als wäre eine Bombe eingeschlagen, schienen die beiden Sofas von all dem Chaos relativ unberührt. Genauso wie der riesige Plasmafernsehr, der immer noch an der Wand hing.
Einzig und allein der riesig Riss in der Oberfläche und die Tatsache, dass er vollkommen veraltet zu den neuen Dingern aus den oberen Sektoren war, zeigte, dass etwas mit ihm nicht stimmen konnte.
Zwei Regale ragten jeweils an seiner Seite bis zur Decke, doch nur noch vereinzelt stand dort etwas an Ort und Stelle. Von der Decke hing ein kahler und halb verschimmelter Lampenschirm, doch die Glühbirne fehlte. Wobei diese uns nur wenig ohne Strom gebracht hätte.
Die Gardinen waren voller dunkler Flecken und an den Enden schon völlig zerfressen, so als würden sich die kleinen Nager in dieser Gegend pudelwohl fühlen. Zumindest hatten wir mit dem Fenster Glück, dass bis auf einem kleinen Sprung einigermaßen intakt aussah.
„Okay, es sieht zumindest nicht so aus, als würde uns die Decke heute Abend auf den Kopf knallen, wir bleiben hier!", rief Niall, während er seinen Rucksack gegen das eine Sofa lehnte und sich dann zu uns übrigen drehte. Wir machen einen Rundumcheck. Die, die keine Taschenlampe haben, schließen sich einem an, der eine hat. Schaut, ob es etwas Nützliches in den restlichen Räumen gibt und-"
„Wenn ihr Kerzen findet unbedingt wieder hier her bringen! Die Taschenlampen werden auch nicht ewig halten", unterbrach Megs Niall ohne mit der Wimper zu zucken und schob sich etwas in den Vordergrund.
Ohne eine Regung zu zeigen, setzte Niall nach Megs seine Rede fort: „Wenn es einen noch geschützteren Raum als diesen gibt, werden wir den als Schlafplatz nutzen und wenn nicht-"
„Werden wir diesen hier weitgehend abriegeln, um so gut es geht alle möglichen Gefahren abblocken zu können", schnitt Megs Niall erneut das Wort ab.
In diesem Moment bemerkte ich, wie Niall die Zähne zusammenbiss, die Hände zu Fäusten ballte und Löcher in Megs Rücken starrte.
Doch sie ignorierte ihn.
„Man merkt, dass sie zusammen den Todessektor gesichert und zu ihrem Reich geschaffen haben, oder?", merkte Christopher neben mir mit einem kleinen Grinsen an, als er in seinem Rucksack herumkramte.
Abgelenkt nichte ich als Bestätigung.
Das merkte man wirklich, so viel wie sie beide über Situationen wie dieser zu wissen schienen. Aber gleichzeitig merkte man die Anspannung zwischen den Beiden.
Der Konflikt lebte selbst hier draußen weiter.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen zogen Megs und Jenia los.
Niall atmete einmal tief ein und dann trafen sich unsere Blicke.
Aus Reflex wollte ich wegschauen, doch ich erinnerte mich an meine kurzen Haare und an mein Versprechen an mich selbst. Deswegen presste ich meine Lippen zusammen und hielt seinen tiefblauen Augen stand.
Langsam, wie in Zeitlupe schlich sich das altbekannte Grinsen auf sein Gesicht und er legte den Kopf schief.
„Hübsche, du kommst mit mir."
Ich zwang mich, weder genervt, ängstlich oder unsicher zu reagieren, deswegen versuchte ich neutral zu nicken und wollte gerade zu Sam sagen, dass er mit Christopher gehen sollte, als sich Mason auf das Sofa fallen ließ. Es ächzte unter der unbekannten Last und für einen kurzen Moment hatte ich die Befürchtung, dass es in der Mitte durchbrechen würde.
„Sam", sprach ich schließlich, als ich meine Gedanken wieder geordnet hatte. Doch er unterbrach mich, so als wüsste er schon, was ich sagen wollte: „Jaja, Soph, ich werde mit Christopher und Harry gehen. Wenn ich ein Kissen finde, bringe ich es dir mit."
Seine Worte brachten mich zum Lächeln, doch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er bereits seinen Rucksack abgestellt und flitzte durch eine offen stehende Tür in einen anderen Raum. Ich blickte mich einmal um, musste aber feststellen, dass selbst Liam und Harry schon weg waren.
Wie konnte ich das nicht bemerken?
Mein Blick wanderte wieder zu Niall, der mich immer noch mit schief gelegtem Kopf zu mustern schien.
„Wenn du dich nicht so langsam beeilst, wirst du genauso Schimmel ansetzen, wie alles andere hier."
Ich versuchte keinerlei Gefühlsregungen zu zeigen, als ich, von der Last des Rucksackes befreit, auf ihn zuging.
„Wenn du auf die Idee kommst, sie alleine in irgendeiner Abstellkammer umzubringen, werde ich dir das ziemlich übel nehmen, Niall."
Dank Masons Worte konnte ich Ade zu meinen einigermaßen beherrschten Gesichtszügen sagen.
Mein Magen drehte sich um und ich versuchte mir bewusst zu machen, dass er nur spaßte.
Mason wusste ganz genau, dass mich solche Bemerkungen trafen. Dies zeigte mir sein wissendes Grinsen.
Wäre ich Megs, würde ich ihm mit einem blauen Auge drohen oder etwas Sarkastisches kontern, doch ich war nicht Megs.
Sondern Sophia.
Und ich musste noch herausfinden, wie genau ich das zu meinem Nutzen machen konnte.
~
(06.12.2016)
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