-11- ➳ Wege
Die gute Nachricht war, dass der Reis erstaunlich gut schmeckte.
Die schlechte, das die Wetterverhältnisse keinen Deut besser geworden waren, sodass wir weiterhin zusammengepfercht in diesem unterirdischen Unterschlupf auskommen mussten.
Langsam kratzte ich mit den metallischen Löffel, den wir hier in einer Schublade gefunden hatten, die restlichen Reiskörner zusammen.
Ich kaute besonders lange auf ihnen herum, um mich länger beschäftigen zu können.
Als mir eines der trockenen Körner im Hals stecken blieb, musste ich husten und spürte sofort Sams Blick auf mir.
Ich lächelte ihn leicht an, um ihn somit zu versichern, dass alles in Ordnung war.
„Iss deinen Reis auf, Sam."
Er nickte und senkte dann wieder seinen Blick auf seine Portion Reis.
„Das schmeckt wie scheiße", beschwerte sich Mason und schmiss sein Besteck auf den Tisch, als er aufgegessen hatte.
„Und das weißt du so genau, weil...?", hackte Megs trocken nach, während sie sich den Reis ohne Unterbrechung in den Mund schaufelte.
Jenia spuckte ihr Essen halb aus und auch ich musste mir ein Lachen verkneifen.
„Wenn du nicht deine Fresse hältst, dann-", fing Mason in einem warnenden Ton an und beugte sich mit seinem Oberkörper vor, wurde jedoch von Niall unterbrochen: „Dann kannst du dich ja das nächste Mal selbst um dein verficktes Essen bemühen, Mason."
Stille kehrte wieder ein und ich war mehr als erstaunt, dass Mason nichts weiter zu sagen hatte. Stattdessen lieferten er und Niall sich nur ein schweigendes Blickduell, bei dem der Hass förmlich zum Greifen war.
Ich schluckte und rutschte etwas weiter in die Ecke hinein, um von all dem hier Abstand zu bekommen.
Bevor es noch ausarten konnte, stand Jenia auf und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, in dem sie laut klappernd das Geschirr einsammelte und zur Ablage trug.
„Ihr solltet euch mal zusammenreißen, denn sonst ist Jordan umsonst gestorben."
Daraufhin sprach keiner mehr etwas und auch ich versuchte den Kloß in meinem Hals zu ignorieren.
Die fehlende Strom- und Wasserverbindung stellte sich früher als erwartet als Problem heraus. Nämlich als immer mehr von uns den Drang nach einem stillen Örtchen verspürten.
Nach einer weiteren Nervenzerrenden Diskussion, ob man rausgehen oder die defekte Toilette benutzen sollte, wurde beschlossen einen alten Eimer, den wir unter der Spüle gefunden hatten, im Nebenraum aufzustellen.
Ich wusste, dass es momentan nicht die richtige Zeit war peinlich berührt oder eitel zu sein, aber der Gedanke daran behagte mich nicht, sodass ich so lange wie es ging meine drückende Blase ignorierte.
Es war schwachsinnig, denn immerhin war ich im Sektor 2b aufgewachsen und kannte definitiv schon schlimmere Situationen, doch ich konnte nichts dagegen machen.
Außerdem war ich auch noch nicht gewillt, das kostbare Wasser aus meinem Körper zu lassen, auch wenn ich wusste, dass es mir so oder so nichts mehr nützen würde.
Als jedoch bereits jeder schon einmal im Nebenraum verschwunden war und sich dann ein Platz zum Schlafen gesucht hatte, überlegte ich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, so lange zu warten. Ich starrte in die Dunkelheit und lauschte den Atemgeräuschen der anderen. Wir hatten eine alte Wolldecke, die als Bettlaken auf einem der Feldbetten gelegen hatte, ergattert, sodass Sam und ich zumindest einigermaßen weich auf dem harten und dreckigen Boden liegen konnten.
Denn während Niall ein ganzes Feldbett für sich alleine beanspruchte und Mason mit dem Worten, dass er denjenigen umbringen würde, der nur auf die Idee kommen würde, die Couch zu berühren, im Bad verschwunden war, teilten sich Megs und Jenia das andere Feldbett.
Niall schien jedoch seine Freundschaft mit zwei Kissen zeigen zu wollen, indem er diese Harry und Christopher überlassen hatte, die den Reissack als eine Art Matratze missbrauchten.
Für Sam und mich blieb daher nichts anderes übrig als neben dem umgestürzten Regal unser Lager aufzuschlagen. Im Gegensatz zu Liam, der sich mit seinem Rucksack in die hinterste Ecke verzogen hatte, hatte Sam zum Glück die Decke von Megs ohne ein Wort in die Hand gedrückt bekommen.
Harry hatte seine Jacke über die Lampe geworfen, sodass der Raum nur noch gedimmt beleuchtet wurde, aber dennoch konnte ich nicht einschlafen.
Wie viel hatte ich in den letzten 48 Stunden geschlafen?
Zu wenig.
Viel zu wenig.
Ich wusste, dass ich schlafen musste, dass mein Körper den Schlaf brauchte, damit ich bei Kräften bleiben konnte, aber mehrere Sachen hinderten mich daran friedlich in das Land der Träume zu gleiten.
Meine Gedanken jagten hin und her, erinnerten mich an die Tiere und das schreckliche Bild, wie Jordan einfach so ohne Kopf wegkippte. Und Niall, wie er mir drohte, weil ich nicht nützlich für die Truppe war.
Clovy und Mum kamen mir in den Sinn, sowie Sam, der gleich neben mir schon seit zwei Stunden schlief. Selbst an Dad dachte ich, dessen Todestag ich wahrscheinlich ohne es zu wissen überlebt hatte.
Meine Gedanken schweiften zu Marcus Payne, zu seinen grausamen Taten und das was er noch geplant hatte, zu Eleanor und Louis, um die ich jede Sekunde weinen könnte und zu Leo, die in diesem Moment wahrscheinlich in ihrem Bett, in ihrem Sektor lag. Sie müsste bereits mitten im Lernstress sein, immerhin standen bald die Abschlussprüfungen an.
Ich musste bei diesem Gedanken leicht lachen.
Es war so grausam komisch, wie weit entfernt sich dies alles anfühlte. Es schien eine Ewigkeit her gewesen zu sein, als ich in dem kleinen Garten der Paynes gesessen hatte, um zu lernen.
Zusammen mit Liam.
Für eine Prüfung, die nun nur noch unwichtig erschien.
Liam war ein weiteres Mysterium.
Er war der Sohn eines Ratsmitgliedes und hat mit den perfiden Plan seines Vaters entwickelt, aber dennoch war er freiwillig mit auf diese Mission gekommen.
Es machte keinen Sinn.
Warum sollte er freiwillig den sicheren Tod wählen?
Was hatte er getan und warum hatte er sich den hohen Rat gestellt, so wie er es gesagt hatte?
Ich starrte gegen die dunkelgraue Decke und spürte wie ich langsam durch das viele Nachdenken und des Wassermangels Kopfschmerzen bekam.
Außerdem wurde mir von Sekunde zu Sekunde bewusster, dass ich mir bald in die Hose machte, falls ich nicht so schnell es ging auf Toilette ging.
Ich fuhr mir einmal über die Stirn, bevor ich mich vorsichtig aufrichtete, um die anderen nicht zu wecken.
Sie alle schienen zu schlafen und ich fragte mich, warum nicht auch mir dies vergönnt werden könne.
Barfuß tapste ich an einem schnarchenden Mason auf der Couch vorbei und streifte dabei leicht mit meinem Bein seine Hand, die vom Couchrand baumelte.
Ich konnte vom Glück behaupten, dass er nicht aufwachte.
Im kleinen Bad schaltete ich die Taschenlampe ein und versuchte nicht in den Eimer zu sehen, als ich ungeschickt an meinem Hosenverschluss herumzippelte.
Gerade als ich mich voller Erleichterung auf den Eimer niederließ und meine Augen schließen wollte, sprach eine Stimme: „Es ist so schwer, das Licht in der Dunkelheit zu sehen, Sophia."
Vor Schreck keuchte ich auf und fiel beinah vom Eimer. Dieser wackelte gefährlich und der Inhalt drohte überzuschwappen und nur mit Müh und Not konnte ich verhindern, dass beides nicht geschah. Jenia stand mit dem Rücken zu mir am Waschbecken und starrte in den blinden Spiegel. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie reingekommen war und mein Herz dankte mir dies mit Herzrasen.
„Verdammt, Jenia, ich pinkle gerade!", zischte ich und versuchte unwohl meine Beine etwas zu überkreuzen.
Jenia jedoch warf mir nur einen kurzen Blick über ihre Schulter zu und zuckte dann die Schulter.
„Es gibt nichts, was ich noch nicht gesehen habe, Sophia. Keine Sorge, ich guck dir schon nichts weg."
Dies beruhigte mich keinesfalls.
„Jenia, was willst du von mir?", fragte ich noch ein weiteres Mal und erinnerte mich dann an den gestrigen Tag, wo sie mich auch schon in dem kleinen Bad der Magnetbahn überrascht hatte.
„Ich will nichts von dir, Sophia Smith. Ich versuche nur in der Dunkelheit einen Weg zu finden, der uns hier herausführen wird."
Sie wurde verrückt.
Ich starrte einen Moment lang auf ihren Rücken und auf ihre ungekämmten blonden Haare, die sie ohne große Mühe locker zusammengebunden hatte.
„Was meinst du damit?", sprach ich langsam, während ich zu meiner rechten Seite nach den Aluminiumtüten suchte, die wir als Toilettenpapier nutzen wollten.
„Damit meine ich-", fing sie an und starrte weiterhin gegen den Spiegel, „-dass alles ein Ende haben muss. So wie Jordan sein Ende gefunden hat. Aber wo ist das Ende unseres Weges? Es ist alles eine einzige schwarze Wand und wenn wir nicht bald ein Lichtschimmer finden, werden wir uns verlieren."
So schnell es ging stand ich auf, zog meine Hose wieder hoch und dachte dabei über Jenias Worte nach. Man merkte, wie sehr sie noch über Jordan nachdachte und ich konnte es ihr nicht verübeln.
„Wir haben doch einen Weg, Jenia. Wenn wir geschlafen haben, können wir diesen sicherlich weiter gehen", versuchte ich mich in ihrer verwirrenden Thematik. Doch Jenia drehte sich blitzschnell zu mir um und schüttelte ihren Kopf so heftig, dass sich ihre Haare aus dem Zopf lösten und ihr ins Gesicht fielen.
Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Auch sie musste die letzten zwei Tage kein Auge zugemacht haben.
„Ja und was dann? Wofür lohnt es sich zu leben, wenn wir hier draußen eh sterben sollen? Warum sollten wir uns jetzt noch um die Skyscraper kümmern, wenn wir eine neue Freiheit gewonnen haben, fernab dieser Gefängnisse? Warum sollten wir ihnen helfen, wenn sie sich doch selbst von innen her Stück für Stück selbst mit ihren Plan zerstören können? Mich verbindet nichts mehr mit den Skyscrapern, die einzige Personen, die ich dort geliebt habe, sind mit mir hier draußen. Die eine ist bereits tot, geköpft von einem Tier und die andere liegt im Nebenzimmer auf dem Feldbett."
„Jenia", sprach ich geschockt, wurde aber von ihr unterbrochen, indem sie einen Schritt auf mich zukam und mit ihren Armen eine weit ausgebreitete Geste vollführte.
„Du musst keine Angst haben, Sophia. Ich bleibe, ich werde da sein, weil ich Megs helfen möchte. Weil ich weiß, dass ihr mehr an diesem grauen Bauwerk liegt, als sie es vielleicht selbst weiß. Aber was kommt danach? Was kommt wenn wir den Plan der Regierung unterstützt haben, wenn wir dann überhaupt noch leben? Weißt du jetzt worüber ich rede? Ich rede von dieser Dunkelheit, dieser Ungewissheit und darüber, dass wir einen Weg brauchen, um durch zuhalten. Verdammt nochmal, wir brauchen ihn, um uns überhaupt nicht gegenseitig umzubringen!"
Sie lachte leicht auf und schüttelte dabei weiterhin ihren Kopf, dann hob sie ihn wieder und schenkte mir ein leichtes Lächeln. Es schien so, als würden ihre Augen für einen kurzen Moment aufblitzen, doch dann war dieser Augenblick auch schon wieder vorbei.
„Weißt du, Jenia", meinte ich, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, „ich weiß nicht warum, aber auf irgendeine Art und Weise erinnerst du mich an meine beste Freundin."
„An Eleanor?"
Ich stockte, nickte dann aber. „Woher-"
„Woher ich es weiß? Megs hat mir von ihr erzählt. Beziehungsweise von ihrem Auftrag euch beide zu beschatten und wie unendlich unterhaltsam es gewesen war, euch darüber zuzuhören, wie ihr euer Modelabel nennen wollt. Wie war das nochmal?"
„Keine Ausbildung aber dennoch erfolgreich", gab ich sofort von mir und kam nicht umher leicht bei dieser Erinnerung zu lächeln. Es war eines unser letzten Treffen und mit einer der friedlichsten gewesen. Sofort spürte ich ein Ziehen in meiner Brust und schnell schluckte ich, um es zu verdrängen.
„Ach stimmt ja. Tut mir leid, dass ich es so sage, aber das klingt ziemlich bescheuert."
Jenia setzte sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf gegen die Wandfliesen. Ich hingegen starrte geradeaus gegen den blinden Spiegel.
„Das war es auch. Das war es auch", antwortete ich. Zwar waren unsere Albernheiten über unsere Modelinie naiv gewesen, aber dennoch würde ich diese Erinnerung gegen nichts in der Welt eintauschen wollen.
Lange Zeit blieb es still, bis Jenia ihren Blick zu mir hob und sprach: „Es tut mir leid wegen ihr. Sie muss nicht tot sein, weißt du? Vielleicht hat sie ihren Weg in der Dunkelheit gefunden, genauso wie wir es noch müssen."
Wenn ein anderer es aussprach, war es wie ein Schlag ins Gesicht. Doch ich nickte nur, wollte keine Sekunde daran denken, dass es vielleicht nicht so war.
„Ja, vielleicht."
„Du solltest schlafen, Sophia."
„Du auch, Jenia", sprach ich und ging mit langsamen Schritten auf die Tür zu. Doch ohne auf meine Aussage einzugehen, sprach sie:
„Naivität ist nicht immer eine Schwäche, Sophia."
Ohne mich nochmal zu ihr umzudrehen, verließ ich das Bad und konnte kaum meine Tränen zurückhalten.
Ich wusste nicht, wie ich Jenia einschätzen sollte.
Am Anfang war sie das angewiderte Mädchen, das Putzdienst hatte und deswegen nicht wollte, dass ich auf den Boden in Nialls Todeszone kotzte und nun war sie die, die über Wege aus der Dunkelheit philosophierte.
Bevor ich länger darüber nachdachte traf mein Blick auf den von Niall und sofort zuckte ich etwas zusammen. Als er dies merkte, grinste er. Er hatte wieder seine Arme hinter seinem Kopf verschränkt und meinte dann: „Du warst die letzte, die auf Klo war. Das heißt, dass du den Eimer nachher ausleeren kannst, damit wir ihn mitnehmen können, meine Hübsche."
Und in diesem Moment riss mein Geduldsfaden.
„Ach fick dich doch, Niall."
~
(27.06.2016)
Vielen Dank für die zahlreichen Kommentare und Votes, sowie eure Unterstützung trotz der momentanen langen Wartezeiten (:
Ich hoffe, ihr mögt das Kapitel, auch wenn es doch recht kurz ist.
Hier ist Jenia etwas im Mittelpunkt und ich denke, man lernt sie doch schon etwas mehr kennen.
Momentan herrscht noch eine kleine Verschnaufspause, aber keine Sorge, das kann sich ganz schnell wieder ändern ;)
Alles Liebe.
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