▶Hoffnungsschimmer
"Was gehst du so gebückt, wie ein alter Penner?" - "Blockiere doch nicht immer den ganzen Weg!" - "Erbärmlicher Junge." - "Hau doch ab!" - "Freak." Wörter, Schreie, Hass. All das umnebelt mich und umkreist mich, um mich zu erdrücken. Mein Atem beschleunigt sich, als ich versuche vorsichtig zurückzuweichen. Nur weg. Gekonnt ignoriere ich die Kommentare und bemühe mich um eine normale Körperhaltung. Schmerz durchzuckt mich bei jeder Bewegung meiner Hüfte. Auch dies versuche ich auszublenden. Ich muss hier weg. Hilfesuchend blicke ich mich um, erkenne aber keine Person mit einer freundlichen Ausstrahlung. Nicht das engelsgleiche Gesicht umrandet von goldenen Strähnen. Die Einzige, die mich nicht runtermacht. Mich nicht hasst. Mein Handeln nicht hinterfragt. Grace...wo bist du? Normaler Tag. Ich schaffe das wie immer- auch wenn sie nicht da ist, um mich zu stützen. Zu schützen. Aufzupassen, dass ich an dem allen nicht zerbreche. Weiter einen Schritt nach hinten. Sie werden schon nichts anstellen. Sei stark. Graces Wörter hallen in meinen Kopf wider und wirbeln wild umher, als schreit sie mich von allen Seiten an. Du musst hier weg. Raus aus der kleinen Gasse und weiter nach Hause. Diese Personen sollen keine Kontrolle über mich haben. Immer weiter. Du kannst das. Mein Körper stößt gegen einen Widerstand. Leise zische ich vor Schmerz und beiße auf meine Unterlippe. "Wen haben wir denn da?", dringt eine dunkle Stimme zu mir durch. "Du schon wieder hier." Ich trete wieder etwas nach vorne, um mich zu der Person umzudrehen und verziehe meine Augen zu Schlitzen. "Was willst du?", bringe ich hervor. Er lacht. "Wer sagt, dass ich etwas brauche von dir... du Freak." Ich zucke bei diesem Wort zusammen. Sie werden nicht aufhören. "Hat es dir die Sprache verschlagen, oder was ist denn?" Er kommt bedrohlich auf mich zu, während ich zurückweiche. Meine Augen weiten sich vor Furcht. Nur Wörter... Ich bemerke wie sich die Menschen um mich herum verdichten und sich mir aufdrängen. Panik steigt in mir auf. "Lasst mich vorbei", krächze ich. Alle lachen höhnisch. "Wieso denn das..." Ich spüre, wie jemand gegen meine Schulter rempelt und werde weiter Richtung Ende der Gasse geleitet. Um schnell zu entkommen, beschleunige ich meine Schritte. Den weiteren Stoß sehe ich nicht kommen. Vor Schreck stolpere ich und ich versuche mich noch zu fangen. Schmerz zuckt durch meine Hüfte. Er scheint förmlich zu explodieren und sich über den ganzen Körper tief in mir zu verteilen. Ich unterdrücke einen Schrei und mein Gang wandelt sich in ein Humpeln. Die höhnischen Bemerkungen nehme ich nicht mehr wahr, versunken in meiner höllischen Dunkelheit. Schritt für Schritt. Endlich erreiche ich die Straße und biege um die Ecke. Die Gruppe läuft mir nicht nach. Diese Mühe bin ich ihnen nicht wert. Ich sollte erleichtert darüber sein, doch die Schmerzen blenden mich. Stöhnend lehne ich mich nach kurzer Zeit an eine Hausmauer und rutsche auf den Boden. Tränen laufen über mein Gesicht. Erschöpft schließe ich meine Augen und lasse diese frei.
"Lumière?" Ich reagiere nicht. Zu sehr gefangen in meinen Gefühlen. Ein warmer Körper lehnt sich an mich. "Hey... ich bin es." Ihre Hand hebt meinen Kopf leicht an und sie wischt mir zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. Mit verschwommener Sicht nehme ich ihre goldenen Haare wahr. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Wie ein Licht, das die Finsternis erhellt. "Grace." - "Dir auch hallo. Jetzt sitzt hier nicht so trübselig rum. Du hättest übrigens an der Schule auf mich warten können, ich habe dich schon vermisst." Grace zieht eine Grimasse. "Hast du meine Nachricht nicht gelesen?" Ich schniefe leise, nachdem ich mich langsam wieder unter Kontrolle habe und ziehe mein Handy aus meiner Hosentasche heraus.
Neue Nachricht 15:04: Grace: Lumière, es scheint, als wäre mein Mathelehrer durch das viele Berechnen von Funktionen etwas krank geworden. Die Stunden fallen aus, können also zusammen nach Hause gehen. xox
Grace lacht herzlich und boxt leicht gegen meine Schulter. "Schön, dass du meine aufwendigen Texte auch immer liest." Ich zucke leicht zusammen, noch immer traumatisiert von der vorigen Begegnung, aber schmunzle leicht. "Ich war abgelenkt und -" Sie unterbricht mich: "Du hast versucht so schnell wie möglich das Schulgelände zu verlassen. Das verstehe ich doch." Ich lächle ihr kurz zu und hüstle verlegen. "Vielleicht..." Das Lächeln erreicht meine Augen nicht. Besorgt schaut Grace mich an. "Du hast wieder stärkere Schmerzen, oder?" Ich nicke resigniert. "Sie gehen einfach nicht weg... Grace. Ich halte das nicht aus. Vor allem ist da zusätzlich der Hass von anderen, die nicht verstehen, dass ich einfach starke Schmerzen habe und mich nicht kontrollieren kann." - "Ich weiß Lumière. Es tut mir leid. Aber lass sie dich nicht zerstören, es wird wieder besser werden!", erinnert sie mich mit ihrer fröhlichen Stimme. Sanft umarmt sie mich. "Heute kommen die Ergebnisse vom MRT", murmle ich leise und halte mich an ihr fest "Ich hoffe wir finden so raus, was es ist". Grace lässt mich los, um mich mit ihrem strahlenden Lächeln anzusehen. "Die Zukunft wird bestimmt auch für dich wieder was Gutes bringen. Wie heißt es so schön: nach jedem Regen kommt auch die Sonne wieder." - "Du bist echt viel zu positiv drauf", sage ich grinsend. "Anscheinend auch ansteckend... wie immer. Lass uns zu dir nach Hause gehen", meint Grace. Sie steht auf und streckt mir ihre Hand entgegen, die ich dankend annehme, um mich mithilfe dieser hochzuziehen. Zischend halte ich kurz inne, als sich wieder der bekannte Schmerz in meine Seite bohrt. Grace, die mich gut genug kennt, legt einen Arm um meine Taille, um mich beim Laufen zu stützen. Schweigend und angestrengt machen wir uns auf den Weg. Mit ihrer Unterstützung fällt es mir leichter zu gehen, jedoch war jeder Schritt trotzdem eine Qual und somit auch eine Überwindung. Grace murmelt mir immer wieder bekräftigende und stärkende Wörter zu, damit ich ermutigt bin, nicht aufzugeben. "Schau Lumière, da sind wir ja schon", teilt sie mir mit, als würde ich das erste Mal vor meiner Haustür stehen. Ich schnaube und schüttle den Kopf. "Danke für diese wichtige Info." Den Schlüssel rauskramend, wende ich mir ihr zu. "Aber Grace... danke, dass du da bist." Ihr Blick wird weich und sie lächelt breit. Bevor sie etwas äußern kann, öffnet sich die Haustüre vor uns und mein Vater begrüßt uns etwas bedrückt. Er nimmt uns trotzdem freundlich in Empfang und nimmt den Schlüssel aus meiner Hand. "Den brauchst du wohl jetzt nicht", meint er. Ohne viel zu sagen, gehen wir in das Wohnzimmer, wo auch meine Mutter sitzt. Sie wirkt aufgelöst und an ihren verquollenen Augen erkenne ich, dass sie geweint hat. Beunruhigt blicke ich sie an, während Panik in mir aufsteigt. Was wird es sein? Wie schlimm wohl?
Die bedrückte Stimmung liegt schwer in der Luft. Beide müssen es wissen. Das Ergebnis der Untersuchungen. Nachdem ich mich unruhig neben Grace niedergelassen habe, räuspert sich meine Mutter und spricht mit erstickter Stimme: „Lumière... die Ergebnisse zeigen, dass du am Hüftknochen einen Tumor hast." Ich ziehe scharf die Luft ein. Nein. "Was passiert jetzt?", frage ich leise, während Grace tröstend nach meiner Hand greift. Ich erwidere ihren Händedruck. "Der Arzt hat uns während des Telefonierens erklärt, dass er gutartig ist, aber trotzdem entfernt werden muss, weil der Tumor dir solche Schmerzen zufügt. Wir haben schon für übermorgen einen Termin für die Operation bekommen." Meine Mutter steht vom Sessel auf und kommt auf mich zu. In ihren Augen glitzern abermals Tränen. Ich löse meine Hand von Grace und steh auf, um ihr entgegenzukommen. Leicht verziehe ich mein Gesicht, als der bekannte Schmerz auftaucht und nehme sie in den Arm. "Mum, alles wird wieder besser. Ich kann das schaffen", flüstere ich. "Lumière, es tut mir so leid." Ich löse mich von ihr und blicke zu meinem Vater, der mir zuversichtlich zulächelt. Auch von Grace bekomme ich ihr strahlendes Lächeln geschenkt. "Wir glauben an dich! Ich bleibe bei dir, um dich zu unterstützen, Lumière. Und sobald es dir wieder besser geht, können wir auch mal zu all den Orten reisen, wo du so gerne hinwolltest. Rom, Venedig und natürlich Paris", sagt Grace ermutigten. Lachend danke ich ihr. Dieses lebendige Mädchen erweckt auch meine Lebenslust ein wenig. Den nächsten Tag, bleibe ich daheim, um noch alles Wichtige für die OP zu klären. Die ganze Zeit bleibt eine schwere bedrückte Stimmung. Jedoch versucht Grace immer wieder diese aufzulockern. Wir alle setzen inzwischen unsere Hoffnung und Kraft auf eine erfolgreiche Operation. Diesen Gedanken nehme ich die ganze Zeit mit. Nachts als ich nicht schlafen kann. Auf der Autofahrt. Im Krankenhaus, wo ich schon vorbereitend Schmerzmittel bekomme. Danach komme ich relativ schnell in den Operationsaal, wo mir die Narkose verabreicht wird. Nach und nach verschwinden die Geräusche um mich und ich beginne langsam in einen scheinbar tiefen Schlaf zu fallen.
Ich werde das schaffen. Ich muss. Zurück. Ich. Grace...
Ich nehme Stimmen wahr. Eine warme Hand in meiner. Leichte Schmerzen von der Operation an meiner Seite. Der Geruch von Desinfektionsmittel liegt im Raum. Licht trifft auf meine Augen, weshalb sie leicht flattern. Ich öffne diese, nur um sie gleich wieder zuzukneifen, als die grelle Helligkeit auf meine Pupillen trifft. Vorsichtig öffne ich meine Augen vollständig und erblicke Grace an meiner Seite. "Hey Lumière." Mein Lächeln trifft ihres. "Hi Grace." Ich werde nun mit der Zeit den Mut finden, mich aus der Enge meines finsteren Kokons zu befreien und als Schmetterling mit dem Licht zu fliegen, um ein neues Leben anzufangen.
Mai 2021
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