3 | Gejagt
Das erste, was ich spürte, war Schmerz. Unendlich viel Schmerz.
Dann meinen Herzschlag. Irgendwo pochte es im vertrauten Rhythmus und sagte mir das, ich noch lebte.
Dunkelheit umfing mich und es war schwer, irgendeinen Gedanken zu fassen. Da war nur ein greller Ton in meinen Ohren, ein riesiger Druck in meinen Schläfen.
Immer wieder glitt mein Bewusstsein außer Reichweite.
Es tat weh, zu atmen. Jede Bewegung meiner Brust, jeder Luftzug brannte wie Feuer. Irgendwas blockierte meine Lungen, ich bekam nicht richtig Luft. Panik kroch in mir hoch, ich wollte mich aufrichten, verstehen, was los war.
Plötzlich eine Berührung. Eine riesige Welle an Angst durchflutete meinen Körper, verlieh mir Kraft, für einen winzigen Augenblick die Augen zu öffnen. Ich erkannte einen schemenhaften Umriss, doch kaum hatte ich ihn erblickt, zuckte er zusammen und huschte fort. Meine Augen fielen zu, bevor ich es verhindern konnte. Der Schmerz war unverändert, aber die Blockade war verschwunden. So lange ich noch bei Bewusstsein blieb, horchte ich, lauschte ich, doch die Gestalt war nicht mehr da.
Ob eine Sekunde vergangen war, oder eine Ewigkeit - als ich das nächste Mal aufwachte, hatte ich genug Kraft, um die Augen zu öffnen und zu begreifen, wo ich war und was geschehen war.
Als ich das gesamte Ausmaß sah, wurde mir eiskalt.
Ich lag in einem Bett aus gefrorenem Gras, eine Wiese eines Berghangs, meilenweit entfernt vom Kloster, das unter mir im Tal lag. Mir war egal, wie mein Körper aussah, ich konnte nur ungläubig nach unten sehen. Gewaltige Türme schwarzen Rauchs stiegen aus den Gemäuern auf. Einige Außenwände waren eingefallen, als hätte sie jemand gewaltsam eingerissen. Schwarzer Ruß hatte fast das gesamte Dach schwarz gefärbt.
Selbst hier, so weit entfernt, konnte ich den ekelerregenden Gestank von verbranntem Fleisch riechen. Mein Magen verdrehte sich. Unzählige Körper lagen in der Nähe der ausgerissenen Tore der Großen Mauer übereinander. Der Boden unter ihnen war dunkel von getrocknetem Blut. Es waren die Hunde. Das Rudel wilder Streuner, die innerhalb der Klostermauern gelebt hatten und den Sirenen jahrhundertelang treu ergeben gewesen waren. Und nun sah ich ihre Körper, niedergemetzelt an den Mauern, die sie mit ihrem Leben beschützt hatten.
Der Boden war aufgewühlt von den Füßen einer Armee. Doch nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Und mir wurde plötzlich klar, was die rauchigen Schlieren, die in der Luft des Tals hingen, bedeuteten. Dass ich auch keine Sirene irgendwo finden würde. Sie hatten sich vor den Fängen der Angreifer gerettet, jede einzelne von ihnen war zu Staub zerfallen.
Alles stürzte plötzlich über mich herein. Ich war allein. Vollkommen allein.
Sie sind weg. Einfach so.
Ich brach in unkontrollierbare Tränen aus. Mit jedem Schluchzer zog die Kälte tiefer in meine Knochen, ich fühlte mich so nackt, so leer, so verloren. Wie konnte das alles nur passieren? Wer würde so etwas tun? Wo sollte ich hin?
Ich war noch mitten im bodenlosen Strudel meiner Verzweiflung gefangen, als ich plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Sie war winzig, weit entfernt, in den Toren der Großen Mauern, doch ich sah sie, als stände ich wenige Zentimeter davor. Mein Herz setzte aus und plötzlich war alles in mir totenstill.
Die Gestalt schritt durch die Trümmer, als wüsste sie genau wonach sie suchte. Sie war groß, aufrecht und mit einer überwältigenden Gewissheit erkannte ich, dass es ein Mann war. Breite Schultern unter einem dunkelroten Mantel. Die Kapuze versteckte den Kopf, der suchend hin und her schweifte. Mein Puls raste. Meilenweit entfernt kam ich mir so entblößt vor wie ein schwarzes Schaf im Schnee. Der Jäger musste nur den Kopf heben, nur ein kleines Stück -
Die Gestalt drehte sich und blickte auf.
Beute. Ich war Beute.
Ich wusste es im Bruchteil der Sekunde.
Ich sprang auf und rannte.
Ich rannte so schnell wie ich noch nie gerannt war.
Mein Kopf war leer, der Körper übernahm. Meine Beine flogen über den gefrorenen Hang. Weiter, weiter, weiter. Der Stoff meines Kleids riss, beim Laufen, beim Springen, beim Ducken, beim Kriechen. Ich wimmerte immer wieder vor Schmerz, wenn ich mich aufschürfte, meine Haut schabte über Stein, über Rinde. Meine Füße spürte ich nicht. Spürte nicht die Stöße, die Disteln, die Felsen, die Erde. Sie trugen mich fort vom Kloster, fort vom Jäger, fort von meiner Vergangenheit, von meinem alten Leben.
Mein Geist zog sich zurück. Er kroch in eine stille, sichere Ecke in meinem Unterbewussten, wo er sich versteckte und wartete, bis es wieder sicher war. Nur nicht stören. Vertrauen.
Ich rannte stundenlang. Oder waren es Tage? Immer wieder, wenn die Schritte langsamer wurden, wusste mein Körper, dass der Jäger aufholte. Also schneller, weiter, einfach nur weiter. Umwege. Verstecke. Alles tun, um ihn abzuhängen. Im Schlamm wühlen, tarnen, klettern, untertauchen.
Meine Füße trugen mich, bis sie es nicht mehr taten. Von einem Moment auf den anderen versagten sie ihren Dienst. Ich stürzte und diesmal stand ich nicht mehr auf. Da war keine Kraft mehr. Ich lag da, regungslos. Und langsam schlich mein Geist zurück ans Tageslicht.
Ich spürte meine Kehle, sie war trocken wie Sand, ich konnte nicht schlucken, die Schmerzen hätten mich umgebracht. Meine Brust atmete nicht mehr. Oder kaum. Winzige, flache Atemzüge versuchten, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen, mit letzter Kraft. Ich spürte etwas Hartes unter meiner Wange. Stein? Mein Blick war unscharf, konnte nichts erkennen. Irgendwann hörte ich etwas. Doch ich konnte nicht identifizieren was. Nur dass es langsam lauter, mehr durcheinander wurde. Für einige Momente fühlte ich mich sicher. Mein Herz schien ein winziges bisschen langsamer zu schlagen. Doch dann war sie da. Fühlbar. Glasklar. Die Präsenz von Menschen. Sie kamen näher. Waren bei mir. Ich wollte fliehen, rennen, mich wehren, doch ich konnte nicht mehr erleben, was passierte. Ich verlor das Bewusstsein.
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"Vorsicht, du tust ihr weh!"
"Was, wieso? Ich wische ihr doch nur den Schweiß von der Stirn!"
"Siehst du nicht, dass sie zittert?"
"Natürlich! Mein Gott, sie zittert seit wir sie gefunden haben!"
"Ach, gib den Lappen her, ich mach das!"
"Was, warum? Ich-"
"Raus mit dir, lass das eine Frau machen."
"Verdammt, dann mach halt!"
Eine Tür krachte.
Etwas Weiches an meiner Stirn.
"Herrje, was ist nur mit dir passiert, du armes Ding? Wie bist du nur hierher gekommen?"
Wärme umfing mich. Überall um mich herum war es kuschelig weich. Von weit weg klang das sanfte Spiel eines Klaviers.
"Ich hoffe, du wachst bald auf und kannst uns alles erzählen. Du hast uns ganz schön erschreckt..."
Die Stimme entfernte sich, das Geräusch von Wasser. Schritte kamen näher. Kühle Feuchte an meinen Schläfen.
Die Stimme sprach wieder, sie war kräftig und ein wenig rau, eine Frau.
"Und wie du aussiehst, Liebes, ganz schrecklich. Du hast ja gar nichts an... Was ist das, ein Kleid? Ach herrje..." Das Kuschelige um mich herum bewegt sich, wurde mir zum Kinn hochgezogen. "Dir ist bestimmt kalt, hier, so ist's besser." Ein Tätscheln. Die Schritte entfernten sich wieder, Stöckelschuhe auf Holz. Ein Feuer knisterte.
Feuer.
Blitzschnell schnellte ich hoch, in meinen Ohren dröhnte es.
Es brennt. Ich muss hier raus.
Ich sprang auf, ohne nachzudenken, rannte los. Da, eine Tür - Ein harter Aufprall. Ein Mensch. Mensch. In der Tür. Mein Fluchtweg, versperrt, mir wurde schwarz-
"Woa, hey, hey, hey, langsam, langs-"
Ich schlug um mich, musste raus, musste weg, es brennt-
"Jetzt reicht's aber!!" Ein fester Griff packte meine Schultern, drehte mich, drückte meine Schulter zurück auf das Weiche aufs Bett.
Ich weinte, schluchzte, meine Kraft ließ mich im Stich, meine Schläge waren nicht mehr als ein Streicheln der Luft. Ich hatte so Angst. Es brannte. Alles würde zusammenstürzen, ich musste weg, weg, weg...
Schwere, feste Hände ruhten immer noch auf meinen Schultern, drückten mich bestimmt und nachdrücklich nach unten. Sie blieben dort, bis ich aufhörte um mich zu schlagen, keine Kraft, keine Tränen mehr übrig hatte. Wasser benetzte meine Lippen, aber ich konnte nicht schlucken. Wasser... Ich wollte Wasser...
Die Stimme sprach mit mir, doch mein Bewusstsein entglitt mir und mein Körper blieb zurück in den Händen einer Unbekannten.
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Das nächste Mal wachte ich auf, als ich Hände auf meinem Oberschenkel spürte. Als hätten sie mich verbrannt, zuckte ich zurück und fegte die Hände mit einem Schlag, in dem all meine schwache Kraft lag, von mir. Am ganzen Körper zitternd und zusammengekauert starrte ich der Person in die Augen, die so nah bei mir saß.
Es war eine Frau. Sie sah alt aus, älter als alle Frauen, die ich je gesehen habe. Sie hatte Falten auf der Stirn, am Hals, in den Augenwinkeln und ihre Haare waren schon fast ganz grau, ein paar rote Strähnen schimmerten noch hier und da im Schein des Kaminfeuers.
Feuer.
Ich spannte an, fluchtbereit, da lagen schon die Hände auf meinen Schultern. Raue, dicke, starke Hände.
"Alles ist gut, alles ist gut.", beeilte sich eine volle, runde Stimme zu sagen. "Du bist in Sicherheit, niemand will dir weh tun."
Eine ganze Minute saß ich stocksteif da, zusammengekauert, starrte abwechselnd die Frau, dann das Feuer an, bis ich irgendwann merkte, dass ich die Luft anhielt. Immer noch voller Panik wagte ich es, ganz flach, ganz langsam auszuatmen. Meine Schultern entkrampften unmerklich. Doch der Fluchtinstinkt lauerte unter meiner Haut wie tausend Ameisen. Ich wusste nicht, wo ich war, wer diese Frau war, ein Mensch? Eine Sirene?
Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit gegenüber saßen - ich misstrauisch und bis zum äußersten gespannt, sie lächelnd, die Hände im Schoß - sah sie, dass meine Feindseligkeit vor lauter Durst und Hunger Risse bekam und traute sich wieder, mit mir zu sprechen.
"Hast du Durst? Deine Lippen sehen schrecklich aus, Liebes, möchtest d-"
Ich riss ihr den Krug Wasser so schnell aus der Hand, dass der halbe Inhalt sich über mein Bett ergoss. Doch das war mir egal. Ich stürzte alles hinunter und leckte auch noch die Tropfen am Rand des Krugs ab. Dann durchbohrte ich die Frau mit einem Blick, den sie sehr schnell begriff. Mit großen, verunsicherten Augen nickte sie und lief aus dem Zimmer. Kaum eine Sekunde später kehrte sie zurück und wieder gab ich ihr keine Gelegenheit, mir den Krug zu geben, sondern riss ihn an mich, sobald er in Reichweite war. Das Gefühl von Wasser, das in jede Zelle meines Körpers strömte, war berauschend. Ich hatte die Augen geschlossen und wollte, dass der Krug nie leer werden würde. Ich ließ die Frau noch dreimal auffüllen und ignorierte ihre Sorge, dass so viel Wasser auf einmal nicht gut für mich wäre. Immer wieder versuchte sie, mich anzufassen, um mich zu beruhigen, doch ich warf ihr einen Blick zu, der sie so verstörte, dass sie eilig aus dem Zimmer ging.
Als mir schwindelig wurde und mein Bauch aufgebläht vom Wasser schmerzte, setzte ich den Krug ab und kam soweit zu mir, dass ich mich umsehen konnte. Ich war in einem Zimmer ganz aus Holz. Schlichte Holzmöbel, ein Tisch, ein Stuhl und ein Wandschrank, schmückten den Raum und ein kleiner Kamin in der Ecke füllte den dunklen Raum mit orangenem Licht. Ein dicker, bunter Teppich lag auf dem Boden und ein kleiner Hocker stand neben dem Bett, wo die Frau gerade noch gesessen hatte.
Diese Frau... Sie wirkte nicht wie eine Sirene. Ihre Augen waren weder braun oder blau, wie die Kontaktlinsen und auch nicht strahlend und lebendig wie die einer Sirene. Es war ein blasses Grün, mehr Grau oder Braun, nicht sehr eindeutig.
Kontaktlinsen.
In plötzlicher Panik stürzte ich zum Wasserkrug. Im Rest des Wasser konnte ich mein Spiegelbild sehen und meine Augen - meine Augen waren braun. Ein schlichtes, unauffälliges Braun. Ich hatte meine Kontaktlinsen an. Meine Sirenenaugen waren versteckt. Gleichzeitig mit einer Welle Erleichterung stieg Verwirrung in mir hoch. Wie konnte das sein? Ich hatte sie nicht angezogen am Abend der Zeremonie...
Schmerz schnürte mir die Kehle zu und drohte, mich zu überwältigen. Ich durfte nicht daran denken. Ich kniff die Augen zu und kämpfte die Erinnerung mit aller Kraft nieder. Nach ein paar tiefen Atemzügen schlug ich die Augen wieder auf und wandte mich meinem Körper zu.
Ich schluckte hart. Die Frau hatte recht, ich sah tatsächlich entsetzlich aus. Da war keine unversehrte Stelle. Überall Schürfungen, Schnitte, Blutergüsse, Schorf und getrocknetes Blut. An einer Stelle an meinem Oberschenkel sah meine Haut etwas gesäubert aus, wahrscheinlich war das die Frau, bevor ich sie erschreckt hatte. Meine Knöchel waren geschwollen und ein paar Zehennägel waren tief eingerissen. Als ich mich abtastete, zuckte ich bei der Berührung meiner Rippen vor Schmerz zusammen. Wahrscheinlich waren sie geprellt, wie meine linke Schulter, die ich kaum bewegen konnte, ohne dass mir ein sengender Stich durch den ganzen Körper fuhr. Ich betastete gerade eine dicke, verkrustete Beule an meiner Stirn, als die Frau wieder hereinkam. Kurz versteifte ich mich, doch da schnaubte die Frau und stemmte ihre Hände in ihre breiten Hüften.
"Also hör mir mal gut zu. Noch einmal lass ich mich nicht so herumschubsen. Ich verstehe, dass du Angst hast, aber um dich schlagen hilft dir hier nicht weiter, okay?" Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, als sie selbstbewusst zu mir kam und sich auf den Hocker neben mir plumpsen ließ. Dann erweichten ihre Gesichtszüge ein wenig. "Ich möchte nur dein Bestes. Dich wieder aufpäppeln, Liebes." Ihre Präsenz hatte etwas Beruhigendes, Versicherndes. Ich merkte, wie mein Widerstand versiegte. Sie sah mich fragend an.
"Kannst du mir erzählen, was passiert ist? Wo du herkommst?"
Ich folgte ihrem Blick, der über meinen Körper streifte. Unsere Blicke trafen sich. Plötzlich fühlte ich mich so nackt, so verletzlich, dass ich meine Augen auf den Boden heftete und meine Schulter schützend vor mich schob. Sie war ein Mensch. Mein ganzes Leben lang wurde ich vor Menschen gewarnt. Ich konnte ihr nicht vertrauen. Niemand durfte wissen, wer oder was ich wirklich war.
Glücklicherweise schien meine ausbleibende Antwort die Frau nicht weiter zu stören. Stattdessen begann sie einfach von sich zu erzählen und ich war unendlich froh darüber.
"Also falls du dich fragst, wo du bist: Du bist hier am äußersten Rand der Alpen, in einem winzigen Dorf namens Steinbach. Ich bin Martha, ich leite das einzige Gaststübchen hier." Sie lächelte stolz in sich hinein, während sie erzählte. "Hier verirren sich eigentlich bloß alte Trottel und verwaiste Omas her, manchmal ein Tourist, der irgendwo verloren gegangen ist, aber das ist selten." Die Falten um ihre Augen vertieften sich. "Du würdest lachen, wenn du wüsstest, wie selten." Dann hob sich eine Augenbraue. "Du siehst allerdings gar nicht wie eine Touristin aus. Kein Rucksack, keine Sonnenbrille, kein Ausweis. Mal abgesehen von deinen vielen Verletzungen, dem seltsamen Kleid und deinem Verhalten." Sie kicherte. "Auf jeden Fall ist das mal ein wenig Abwechslung für eine alte Frau wie mich..." Sie senkten nachdenklich den Blick, dann sah sie mich plötzlich mit großem Ernst und Sorge an.
"Sag, Mädchen, wer war das? Wo sind deine Eltern? Soll ich die Polizei kommen lassen? Das wäre wahrscheinlich sowieso das Beste-"
Sie verstummte, als sie mich ansah. Wahrscheinlich musste mir meine Überforderung, Verwirrung und Angst ins Gesichts geschrieben sein. Marthe seufzte.
"Du armes Ding. Das ist wahrscheinlich der Schock. Ich bring dir erst einmal etwas zu Essen." Mit diesen Worten stand sie auf und ließ mich alleine zurück.
Ich hatte kaum über die vielen unverständlichen Worte grübeln können, da trug sie bereits eine dicke Schüssel einer dampfenden Brühe an mein Bett. Mit allergrößter Überwindung widerstand ich dem Drang, sie sofort aus Marthas Händen zu reißen und mein Gesicht hinein zu tauchen. Stattdessen ließ ich es zu, dass Martha Löffel für Löffel kühl pustete und mich fütterte. Als mir auffiel, wie sehr meine Hände immer noch zitterten, war ich sehr froh darüber.
Die Suppe war das Leckerste, was ich je gegessen hatte. Ich hatte zwar keine Ahnung, was es war, aber das war egal. Wahrscheinlich hätte sie mir die Speisereste aus der Tonne geben können und ich wäre ganz genauso überzeugt gewesen.
Während sie mich fütterte, redete Martha weiter mit mir und störte sich nicht daran, dass ich nichts erwiderte außer unfreiwillige Seufzer bei einem besonders leckeren Löffel.
"Wir haben dich in einer der Gassen am Dorfrand gefunden. Dein Körper war so kalt, ich dachte du wärst tot!" Sie lachte laut. "Herrje, hast du mir eine Heidenangst gemacht! Naja, jedenfalls haben mein Mann und ich dich dann gleich hierher gebracht und erst einmal in jede Decke gewickelt, die wir finden konnten. Du hast auch so viel geblutet, also haben wir dir Verbände gemacht, aber nach ein paar Tagen hat es dann aufgehört zu bluten und wir haben sie abgenommen."
Ein weiterer Löffel verschwand in meinem Mund. Mehrere Tage? Ich war so lange bewusstlos gewesen? Der Mann in dem dunkelroten Mantel schoss mir durch den Kopf. Hatte ich ihn abgehängt? Es musste so sein, sonst hätte er mich wahrscheinlich schon in diesem Haus gefunden...
"Aber es beunruhigt mich doch, nicht zu wissen, was mit dir passiert ist, Liebes.", seufzte Martha jetzt und kratzte die letzten Suppenreste zusammen. Ihre Menschenaugen sahen mich bekümmert an. "Die Polizei kann dir helfen. Deine Eltern kontaktieren. Oder so. Bist du dir sicher, dass ich sie nicht rufen soll? Sie brauchen eine Weile, bis sie hier oben ankommen, müssen unten in der Stadt losfahren, aber sie wären bald da..." Ich schluckte und erwiderte ihren Blick. Wenn ich nur gewusst hätte, was eine Polizei ist. Wenn ich ihr nur vertrauen könnte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tat ich das einzige, wozu ich in der Lage war. Den Kopf schütteln und schweigen. Martha runzelte ratlos die Stirn, dann tätschelte sie mir die Schulter. "Du brauchst vielleicht einfach noch ein wenig Zeit, Liebes. Ich werde mich in der Zwischenzeit informieren, ob du irgendwo vermisst wirst, vielleicht bringen sie etwas in den Nachrichten." Sie stand auf, doch ich griff nach ihrer Hand. Erstaunt drehte sie sich zu mir um.
"Was ist, Liebes?"
In meinem Hals saß ein Klos, dick wie ein Felsen. Sie durfte nicht suchen. Vielleicht würde sie etwas finden, herausfinden wer ich war. Ich war abhängig von ihrem Schutz, ihrem Schweigen. Wie konnte ich ihr nur sagen, dass sie nichts tun sollte? Nichts, das mich den Jägern oder dem Mann im Mantel verraten konnte?
Martha wartete, doch ich bekam kein Wort heraus. Verzweifelt sah ich sie an und sie schien zu verstehen. "Du willst das nicht, oder?", fragte sie halb flüsternd. Ich nickte. Voller Sorge und Unmut stand mir diese kräftige, kleine Frau gegenüber. Sie fuhr sich durch ihr strähniges Haar und schüttelte den Kopf. Das schien ihr ganz und gar nicht zu behagen.
"Wie du willst, Liebes.", seufzte sie und verließ mit hängenden Schultern das Zimmer.
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Als ich zum Ruf eines Hahns am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich zum ersten Mal die Umgebung hinter dem kleinen Fenster des Kämmerchens erkennen. Ich sah nicht viel, aber ein paar Spitzen von nah gelegenen Bergen streckten sich mit der Morgensonne um die Wette.
Ich lag regungslos in meinem Bett und starrte an die Decke. Die gleiche Frage drehte Kreise um Kreise in meinem Kopf.
Was soll ich tun?
Je länger ich hier blieb, desto stärker und gesünder wurde ich. Hier hatte ich Nahrung, ein Dach über den Kopf, eine gütige Frau, die mir Obhut gab. Aber je länger ich hier blieb, desto eher würde man mich finden. Irgendwann wäre es schwer, nur in diesem Zimmer zu bleiben, nie einen Schritt hinaus wagen. Und was dann? Martha fragte mich gerade nicht weiter aus, aber auch ihre Geduld wäre bald zu Ende. Nachbarn würden Fragen stellen. Vielleicht sah sie etwas in diesen "Nachrichten". Je länger ich blieb, desto näher würde mich Martha kennenlernen. Mich entdecken, wenn ich die Linsen waschen musste oder Fragen zu meinem Körper stellen. Warum meine Hautfarbe so anders war, warum meine Haare so anders waren, warum ich von so vielem keine Ahnung hatte.
Was soll ich nur tun?
Ich konnte einfach keine Lösung finden, eine dumpfe Angst schwellte unablässig in meiner Brust, wich mir nicht von der Seite, seit ich zum ersten Mal hier aufgewacht war.
Pünktlich zum Klang einer Standuhr auf der anderen Seite der Tür, kam Martha pfeifend hereinspaziert, in ihren Armen ein Tablett mit Broten, einer Tasse Tee und einem Bündel unter dem Arm. Nachdem sie mir einen fröhlichen Morgen gewünscht hatte und ich mich bereits über das großzügige Frühstück hermachte, zeigte sie mir, was das Bündel war.
"Ich hab etwas zum Anziehen für dich, wird höchste Zeit.", brummte sie grinsend und schüttelte das Bündel auf. Zum Vorschein kam ein schlichtes, aber hübsches graues Kleid mit vielen Schnürungen um Brust und Rücken. Es hatte lange Ärmel und einen hochgeschlossenen Kragen und der Saum fiel bis kurz über den Boden. Ich war erleichtert, wie viel es von meinem Körper verstecken würde.
Martha legte es neben mir auf das Bett und strich es glatt. "Das Kleid hat meiner Tochter gehört, aber sie ist lange ausgezogen und studiert in Berlin Architektur. Die vielen Schnüre könnten hilfreich sein, es für dich passend zu machen." Sie scannte mich einmal von oben bis unten ab. "Du bist ein wenig kleiner als sie, aber das sollte passen."
Kaum hatte ich fertig gespeist, half sie mir, es anzuziehen, zupfte und rupfte an mir herum, band die Schnüre und entfernte die Falten. Ihre Finger arbeiteten fleißig und sanft, vorsichtig, keine meiner Wunden neu aufzureißen. Der Stoff war nicht sehr weich, aber auch nicht kratzig. Martha trat nach dem Binden der letzten Schleife einige Schritte zurück und bewunderte zufrieden ihr Werk. "Na wie fühlt sich das an? Ich muss sagen, du wertest dieses alte Ding mehr auf als es verdient hat." Ihr Bauch hob und senkte sich bei ihrem schallenden Lachen und ihre Laune war ansteckend. Zaghaft lächelte ich und strich über den Stoff des Rocks. Es tat so gut, endlich wieder etwas zu tragen.
Ein dumpfer Ruf tönte durch die Wand und Martha wandte sich zu gehen. "Mein Mann ruft mich, ich bring dir gleich noch eine Portion von den Marmeladenbroten, was denkst du?" Begeistert nickte ich und bekam ein strahlendes Lächeln als Antwort. Als die Tür zufiel, setzte ich mich zurück aufs Bett. Ich fühlte mich immer noch zerbrechlich und schwach, ich seufzte bei dem Gedanken, wie erschöpft ich mich nach dem bisschen Stehen fühlte. Vielleicht sollte ich mich gleich nochmal hinlegen?
Durch die Wand waren die Stimmen undeutlich, ich konnte schwer unterscheiden, wer sprach. Dann hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde und eine dritte Stimme kam hinzu. Nach ein paar Wortwechseln erklangen plötzlich Schritte Richtung meines Zimmers und blanke Panik schoss in mir hoch. Ich wollte mich verstecken, hinter die Tür hechten, irgendetwas, doch die Tür ging auf bevor ich mich auch nur einen Zentimeter bewegen konnte. Martha kam aufgeregt lächelnd hinein.
"Liebes, du glaubst nicht, wer da ist!"
Ein Mann trat hinter ihr in den Türrahmen und warf einen Schatten ins Zimmer. Er war groß, seine Gesicht von einer frostbedeckten Kapuze verdunkelt. Und er trug einen dunkelroten Mantel.
Ich konnte nicht einmal schreien. Ich hörte keine der Worte, die Martha sagte. Der Raum verzerrte sich. Meine Haut brannte. Ich bekam keine Luft mehr.
Der Mann trat ans Bett, ging in die Hocke.
Meine Augen folgten jeder seiner Bewegungen.
"Sandra, da bist du ja. Wir haben uns solche Sorgen gemacht."
Die Stimme des Mannes brannte sich in meinen Kopf wie glühendes Eisen. Dunkel wie die Nacht, singend, wie ein Schwert, vorfreudig wie ein Raubtier. Seine Augen schimmerten im trüben Licht fast schwarz unter der Kapuze hervor. Fixierten mich Gierig. Überlegen.
"Sie scheint unter Schock zu stehen. Am besten bringe ich sie so schnell wie möglich nach Hause."
Martha antwortete etwas, worauf der Mann in Rot antwortete, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Seine Hand quetschte meinen Oberarm mit solch einer Kraft, dass ich sicher war, er würde ihn zerdrücken wie eine überreife Tomate. Der Schmerz war unerträglich, aber mein Körper war wie versteinert.
"Ja, natürlich werde ich sie auf dem Laufenden halten. Vielleicht können Sie uns auch einmal besuchen, da freut sie sich bestimmt."
Ein Lächeln stahl sich auf die blassen Lippen, der Stoppelbart folgte der Bewegung. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich es sah.
"Dann bringen wir dich jetzt nach Hause."
Er stand auf, zog mich hoch. Meine Beine drohten unter mir nachzugeben, da griff er mit einem Arm um meine Taille, sodass seine Hand seitlich auf meinem Bauch lag. Ich spürte etwas Spitzes. Etwas drückte gegen meinen Bauch, dort wo er die Hand aufgelegt hatte. Es war ein Messer.
Es war, als wäre ich nicht mehr in meinem Körper. Ich konnte nur zusehen, hilflos, wortlos, wie dieser Mann sich von Martha verabschiedete, Marthas Mann zunickte und mit mir in seinem eisernen Griff in die kalte Morgenluft hinausging. Das Messer gegen meinen Bauch. Ich stolperte, atmete nicht, stützte meinen schwachen Körper steif und zitternd gegen seinen Arm. Wenn ich nur die Kraft gehabt hätte, mich zu wehren. Oder irgendetwas, irgendetwas zu tun.
Er führte mich in eine abzweigende Gasse. Dort stand ein Auto. Es sah ganz anders aus, als die, die ich in Büchern gesehen hatte. Groß, kastenartig, schwarz. Er ging zur Rückseite und öffnete dort mit seiner freien Hand eine Flügeltür. Dann stieg er in den Innenraum, zog mich grob nach oben neben sich und drückte mich dann hart gegen die Wand.
"Dann schlaf mal schön, Sandra."
Mit diesen Worte drückte er mir einen weißen Lappen über Mund und Nase, ein beißender Gestank durchdrang meine Nase, meinen Mund, brannte in meinen Augen. Mit jedem bisschen Kraft, das ich aufbringen konnte, versuchte ich mich zu entwinden, ihn zu treten, zu schlagen, mich loszureißen. Ich hatte Todesangst. Doch mit jedem panischen Atemzug verlor ich mehr die Kontrolle über meinen Körper. Meine Wahrnehmung verschwamm und mein Bewusstsein entglitt mir.
Alles wurde schwarz.
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