2 | Die Mauer fällt
Der Klang von hundert Paar Stöckelschuhe belebte die mitternächtlichen Klosterflure.
Hand in Hand aneinander geklammert, hasteten wir still vor uns hin, hier und da streifte ein Blick einer Schwester meinen und wir alle hatten die gleiche Angst, die gleiche Unsicherheit in den Augen.
Die schwarze Zeremonie. Die Große Mauer öffnet sich. Ein Mann.
Im Labyrinth der Gänge staute sich die Hitze der Aufregung und der Dampf der rituellen Bäder drang durch die Holztüren hinaus. Ich klammerte meine schwitzigen Finger fester um die von Brise.
Doch die schien eher aufgeregt als ängstlich und das flüssige Gold ihrer Augen funkelte mich im Halbdunkeln verschwörerisch an.
"Aura, was denkst du, wie sieht so ein Mann aus? Ich konnte in den Büchern keine Abbildung finden." Ihr Flüstern war ein wenig außer Atem von der Eile, aber hörte ich da tatsächlich Vorfreude? Mir war unwohl, dass sie ein erzwungenes Ritual genauso begrüßte wie ein Geburtstagsgeschenk und meine Schultern versteiften sich.
"Was weiß ich, sie haben Gesichtshaare, einen Bart oder so", zischte ich zurück und hoffte, sie würde es dabei belassen. Stattdessen lachte sie leise und schubste mich mit ihrer Schulter.
"Du weißt genau, was ich meine. Ich frage mich", sie schnappte nach Luft auf einer der vielen Treppen. "wie sie - da unten aussehen." Als ich nicht sofort antwortete, musste sie es auch noch wiederholen. "Da. Unten. Verstehst du?"
Ich warf ihr einen mahnenden Blick zu und quetschte ihre Finger. "Au, was soll-" "Sei still, Brise! Das wirst du noch früh genug wissen!" Meine Stimme drohte laut zu werden und ein paar Schwestern sahen sich nach uns um. So leise wie möglich flüsterte ich: "Du bringst uns beide in Gefahr! Ich will jedenfalls keine Rutenschläge und ich möchte auch nicht in einem Raum mit einem Mann alleine sein!" Brise wirkte verstimmt. Ich drückte ihre Hand, in der Hoffnung, ihr vermitteln zu können, dass ich einfach nur Angst hatte. "Wir haben nicht umsonst eine riesige Mauer, die uns vor ihnen beschützt, Brise."
Brise wollte noch etwas erwidern, da passierten wir das große Tor zum Hauptgebäude und eine der Älteren Schwestern, die an den Toren standen, strafte uns mit einem Lippenschürzen. Sofort verstummten wir beide und senkten unsere Blicke.
Die Frauen strömten in den Zeremonie-Saal und jede suchte ihren Platz in dem Kreis, den wir um die Älteste bilden sollten.
Die Älteste stand auf einer goldenen Bodenplatte in der Mitte des turmhohen Raums, der Boden war über und über mit goldenen Zeichen bemalt worden. Unzählige Kerzen flackerten an den Wänden. Die Augen der Ältesten waren schmal wie Weizenkörner, während sie uns beim Aufstellen beobachtete, und ihr Haar wie bei uns allen zu einer Glatze geschoren. Ein komplett geschlossenes, schlichtes Kleid verdeckte ihren gesamten Körper wie bei allen Schwestern, die alt genug waren, um nicht an der Zeremonie teilnehmen zu müssen. Auf ihrer Stirn prangte ein aufgemaltes, goldenes Mal, das sie als die Älteste Schwester im Kloster auszeichnete.
Obwohl sie kleiner war, als die meisten von uns, füllte ihre Präsenz den gesamten Raum aus und ihr zierlicher Körper war gerade und stark wie ein frisch bespannter Geigenbogen. Die Sache mit dem Alter von Sirenen war für mich ein Rätsel. Alle Frauen im Kloster sahen für mich jung aus. Ich wusste nicht einmal, wie alt die Älteste war, aber ihr Gesicht sah krank aus und trotz ihrer majestätischen Ausstrahlung bildete ich mir schon seit Jahren ein, eine erschöpfte Müdigkeit in ihren blautönigen Augen zu sehen. Wie konnte eine Frau mit einem solch leistungsfähigen Körper so alt wirken?
Stille kehrte ein, als der Glockenschlag ein weiteres Mal erklang.
Alle Augen waren auf die Älteste gerichtet und als sie ihre hauchige Stimme erhob, flatterte mein Herz vor Nervosität.
"Meine geehrten Schwestern. Der Tag der Zeremonie ist wieder einmal gekommen."
Sie stand so erhaben dort und doch wirkte sie auf mich, als trüge sie das ganze Gewicht der Klostermauern auf sich.
"Der Preis für unsere Sicherheit wird heute entrichtet. Wie ihr alle wisst, wird der Patron heute zu uns kommen und eine von euch erwählen, mit der er die Nacht verbringen wird. Ihr wisst, wie ihr euch zu verhalten habt. Wehrt euch nicht. Tut, was der Patron will, erfüllt ihm seine Wünsche. Solange ihr das tut, wird euch nichts geschehen." Sie verzog dabei das Gesicht, als bereite es ihr Schmerzen, diese Worte auszusprechen. Mir selbst schnürte sich die Kehle zusammen, mein Bauch rumorte vor Anspannung und Unbehagen. Wovor sollten wir uns nicht wehren? Was würde mit derjenigen passieren, die er erwählte?
Ein paar der Schwestern warfen mir und Brise einen gewissen Blick zu und ich konnte erahnen, was sie dachten. Soweit ich wusste, hatte der Patron immer eine Jüngste erwählt, das bedeutet, ein Mädchen, das zum ersten Mal an der Zeremonie teilnahm. Gab es keine, die zum ersten Mal dabei war, wählte er die, die die wenigsten Zeremonien miterlebt hatte. Ich sah Brise an. Wir beide waren die Jüngsten. Und damit war die Erwählte sehr wahrscheinlich entweder sie oder ich. Mir drehte sich der Magen um, bei diesem Gedanken.
"Der Patron wird noch vor Sonnenaufgang verschwunden sein und was auch immer ihr erlebt habt, werdet ihr als Geheimnis hüten. Kein Wort kommt über eure Lippen, das mit diesem Abend und dieser Nacht zu tun hat."
Der Glockenklang ertönte ein Drittes mal.
Die Älteste straffte ihre Schultern. "Denkt daran: Euer Schutzkristall darf nur auf den Befehl des Patrons abgelegt werden und ihr werdet ihn wieder anziehen, bevor ihr den Raum verlasst. Und lasst ihn niemals aus den Augen, er ist euer wichtigstes Hab und Gut."
Neben mir bewegte sich Brise unruhig in ihren hohen Schuhen, der Saal, der so kalt gewesen war, als wir in betreten hatten, kam mir nun schwül und stickig vor. Die Älteste fuhr fort.
"Ihr alle kennt unsere Vergangenheit. Wie die Menschen uns behandelten und welche schrecklichen Kriege und Geschehnisse uns heute zu diesem Ort gebracht haben. Dieses Kloster, unsere Ländereien und die Mauer sind unser letzter Zufluchtsort. Niemand weiß, dass wir hier sind. Und das, dank dem Patron. Ihm haben wir es zu verdanken, dass -"
Im Gleichklang des vierten Glockenschlags flogen die gewaltigen Torflügel des Saals auf.
Alle Versammelten schraken zusammen, ein eiskalter Luftzug fegte über unsere nackte Haut und die Kerzen zuckten.
Eine Gestalt stand in der Mitte des Tores. Komplett in Schwarz gekleidet, ein Anzug, ein Hut, ein rabenschwarzer Mantel. Die Hände versteckt in schwarzen Handschuhen. Ein Umriss so anders, als ich ihn je gesehen habe. Und eine schwarze Maske in Form eines Schakals, die das Gesicht verdeckte.
Mein Puls pochte wie verrückt, Blut rauschte in meinen Ohren. War das der Patron?
Bevor die Älteste ein Wort ergreifen konnte, tat die Gestalt große, raumgreifende Schritte, der Klang der Schuhe jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Völlig steif vor Schock beobachteten wir, was passierte. Das war sicher nicht, wie es ablaufen sollte. Selbst die Älteste wirkte völlig überrumpelt, als sie ein paar Schritte auf den Patron zumachte. Doch der gab ihr wortlos ein Signal. Sie blieb stehen und machte ihm Platz auf der goldenen Platte, während sie sich selbst in den Kreis der Schwester zurück zog.
Seine schaurige Schakalmaske glitt einmal schnell über uns alle, bevor er seine Stimme erhob. Sie war tief, rau und durch die Maske stark verzerrt. Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares gehört.
"Es tut mir leid, werte Damen, dass ich unsere heilige Zeremonie auf diese Art beginnen muss."
Wäre ich nicht so in den Bann gezogen von dieser fremden Stimme, hätte ich bestimmt die Anspannung und Hast in ihr bemerkt. Oder die schnellen Bewegungen der Finger oder das nervöse Zittern seiner Schuhspitze.
Seine nächsten Worte allerdings hörte ich klar, als wäre es Donnergrollen und Glockenschläge.
"Ich kann euch nicht länger beschützen. Mein Einfluss reicht nicht mehr aus. Die Jäger haben euer Kloster gefunden und sie werden kommen. Wie lange ihr noch habt, weiß ich nicht."
Beinahe wären seine letzten Worte in den aufkochenden, panischen Stimmen untergegangen.
"Eine von euch werde ich mitnehmen, mehr kann ich nicht beschützen. Es tut mir leid."
Damit ging er direkt auf uns zu, genauer gesagt, auf Brise und mich.
Die schwarze Gestalt ragte für einen kurzen Moment vor uns auf. Die Schakalaugen waren so dunkel wie der Nachthimmel und schienen alles Licht zu schlucken. Ein Geruch, den ich nicht einordnen konnte, stach mir in die Nase.
Dann streckte er eine Hand aus, packte Brise am Handgelenk und zerrte sie fort.
Irgendwo jenseits meines rauschenden Blutes konnte ich ihre Schreie hören. Oder waren es meine?
Chaos brach aus.
Schwestern stürzten aus dem Kreis, verschwanden in den Gängen, Kerzen wurden umgestoßen, Rufe und Aufschreie erfüllten den Raum. Türen fielen krachend ins Schloss.
Jemand schubste mich, ein Ellenbogen traf mich in die Seite.
Ich stand nur da und sah, wie Brise von dem Mann in Schwarz über die Schwelle des Tors gezogen wurde. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, sie schrie.
Ich wollte schreien, zu ihr laufen, sie aus seinen Händen entreißen. Doch meine Füße bewegten sich nicht. Warum half ihr niemand? Warum hielt ihn niemand auf?
Die riesigen Torflügel fielen langsam zu.
In der Dunkelheit konnte ich die weit aufgerissenen, golden leuchtenden Augen sehen.
Tränen. Verzweiflung. Flehen.
Die Augen fanden mich. Sie riefen um Hilfe.
Sie riefen, bis die Finsternis sie verschluckt hatte.
Und die Tore sich schlossen.
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Ich weiß nicht, wie lange ich dort gestanden hatte.
Mir war schwindelig, als wäre mir der Boden unter den Füßen entrissen worden. Alles verschwamm und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Zeit wurde relativ. Ein durchdringender, schriller Ton summte in meinen Ohren.
War das gerade wirklich passiert? War das alles ein Traum?
Die Umrisse meiner Umgebung waren durcheinander, ich konnte sie nicht begreifen.
Alle Geräusche waren wie hinter Nebel, dumpf und ungenau. War es das Bellen von Hunden? Schreie von Frauen? Einstürzendes Gestein? Ich wusste es nicht.
Irgendwann berührte mich jemand, führte mich fort aus dem Saal. Versuchte mit mir zu sprechen. Lies mich alleine und eilte fort.
Wieder wurde ich angerempelt.
Dann Stille.
Das nächste, an das ich mich erinnern konnte, war, dass ich mit etwas in der Hand durch die Flure wankte.
Mein Geist war geflutet von Angst, Panik und Orientierungslosigkeit.
Mein Körper gehorchte mir nicht und immer wieder stolperte ich über den Rock meines Kleids.
Wer weiß, wie lange ich dort umhergewandert wäre, wenn mir nicht ein geöffneter Türflügel im Weg gewesen wäre. Ich kannte diese Tür, sie war immer verschlossen, denn sie führte aufs Dach des Klosters. Ein Ort, den nur die Ältesten betreten durften. Jetzt stand sie offen.
Wie von unsichtbarer Hand gelenkt, fanden meine Füße den Weg die unzähligen, steinernen Stufen hinauf, eine Wendeltreppe führte in engen Kreisen immer höher und höher. Alte Fackeln beleuchteten den Stein, doch die Hitze der Flammen drang nicht zu mir durch . Die Absätze klangen hohl und stumpf beim Auftreten und ich hörte mich selbst angestrengt keuchen. Meine Atemluft bildete kleine Dampfwolken zwischen den engen Turmwänden.
Nach Minuten, die mir wie Jahre vorkamen, erreichte ich das Dach, auch hier eine Tür, die offen stand. Eiskalte Nachtluft zog hinein, streifte meine Knöchel und huschte die Treppe hinunter. Benommen trat ich hinaus.
Ich fand mich auf einer Plattform, einem Balkon wieder, der sternenübersäte Nachthimmel thronte jenseits des Geländers und nur eine kleine Kerze stand auf dem geflochtenen Tisch in der Mitte. Lange stand ich da und starrte zu den Sternen, als könnten sie mir verraten, was ich tun sollte. Als könnten sie ihre Arme ausstrecken und mich aus dem Sumpf der Gefahr ziehen, in dem ich zu versinken drohte. Das Gefühl der Bedrohung pochte in meinen Schläfen, stach mir als saurer Geruch in die Nase und benetzte meine Haut wie zähes Wachs. Mein ganzer Körper zitterte, aber mir war nicht kalt. Mein halbnackter Körper war taub und stumpf, die beißende Kälte der Luft und das Reißen des Sturms merkte ich nicht.
"Was für ein Jammer, dass es so zu Ende gehen muss..."
Ich zuckte so stark zusammen, als hätte mir jemand einen Dolch in den Rücken gestoßen, und fuhr blitzschnell herum.
An dem Tisch am Rand des Balkons saß eine Gestalt, kaum beleuchtet von der Kerze verschmolz sie mit der Dunkelheit. Sie war rundlich und das, was ich als Gesicht erahnte, war ebenfalls zum Sternenzelt gerichtet. Erst als sie wieder sprach, setzte sich in mir ein Bild zusammen, wer mir gegenüber saß.
"Ich habe die Älteste gewarnt, dass das passieren würde. Es war nur eine Frage der Zeit..." Die Stimme der Zweitältesten Schwester des Kloster, Schwester Erde, klang, als würde sie mehr mit sich selbst sprechen, als zu mir. Vielleicht hatte sie gar nicht gemerkt, dass ich hier war. Doch für mich war es, als wäre sie nur für mich da, meine Retterin, mein Halt in einer untergehenden Welt. Wackelig ging ich ein paar Schritte auf sie zu.
"Schwester Erde, ich... was..." Meine Stimme versiegte, wurde fortgetragen in den immer stärker werdenden Sturmböen. Schwester Erde drehte ihren Kopf. Ihre Augen wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Das durchdringende Spiel von Lila, Rosa und Rot floß wie ein kaltes Feuer um ihre Pupillen.
Der Boden unter meinen Füßen bebte und ein gewaltiges Krachen zerriss die Nacht. Schreie vermischten sich mit einem entfernten Lärm, den ich nicht einordnen konnte. Der Geruch von Verbranntem stieg bis hinauf in die Turmspitzen.
Doch ich konnte nichts anderes sehen, nichts anderes wahrnehmen, als diese unendlich weisen Augen vor mir. Etwas in mir wollte sich an sie klammern, verzweifelt, panisch. Ich hatte das Gefühl zu fallen, in eine unendliche, schmerzhafte Leere, aber da war sie, Schwester Erde. Wenn ich sie nur fassen könnte, nur halten könnte...
Sie sah mich an und nickte verständnisvoll. "Setz dich zu mir, Aura", sagte ihre Stimme, die von den stillen, unbewegten Gründen eines Teiches stammen könnte. Wie durch Nebel stolperte ich zu ihr, setzte mich auf die kalte, steinerne Bank und drückte mich zitternd an ihre Seite. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Zweitälteste wieder zu den Sternen blickte.
"Wenn sie nur ihren Hass, ihre Verzweiflung heilen hätte können ... und diese verdammte Verantwortung nicht auf ihren Schultern gelegen hätte..." Sie schüttelte ganz sanft, langsam den Kopf. Im flackernden Schein der aufgewirbelten Kerzenflamme sah ich eine Träne ihre Wange hinab laufen. Dann sah sie mich wieder an und wieder stieg dieses Gefühl der totalen Abhängigkeit in mir auf. Ich brauchte ihren Halt, ihr Wissen, ihre Sicherheit. Ich griff ihre Hand und sie entzog sich nicht. Ließ es geschehen und drückte sie zärtlich.
"Oh Aura, sie haben euch so wenig erzählt, ihr wisst nichts von den wunderschönen Wundern, die es da draußen gibt." Tränen glitzerten in den strahlenden Augen. Ganz langsam bewegte sie ihren Kopf von einer Seite zur anderen, als wäre er so schwer, dass er vom Wind hin und her gewogen wurde. Ihre vollen, dicken Lippen lächelten traurig. "Wir Sirenen sind nicht dazu gemacht, hinter Mauern versteckt zu bleiben, uns nicht zu zeigen, nicht zu leben." Ihre Worte beruhigten mich, sie umarmten mich, schirmten mich ab von dem bebenden Boden, der Gewalt in der Luft, dem feinen Staub von Asche und Feuer, der in meinen Augen brannte. Alles war gut, solange ich ihr zuhörte.
"Hast du dich je gefragt, warum wir Sirenen so alt aussehen, obwohl wir so wenige Jahrzehnte hier leben?" Sie stellte die Frage an die Sterne und beantwortete sie für mich. "Wir sind wie Pflanzen ohne Licht. Samen ohne Wasser und ohne Erde. Wir gehen ein, wenn wir nicht unserem wahren Wesen nach leben."
Der Lärm schwoll an, stieg hinauf zu uns auf das Dach und drückte mit unnachgiebiger Gier auf den sanften Schleier, den Schwester Erde heraufbeschworen hatte.
Die Sirene senkte den Kopf und meine Augen folgten ihren Fingern, wie sie den Bauchnabel-Kristall abnahm und vor sich auf den Tisch legte. Etwas in mir regte sich, doch ich begriff nicht.
Eine unfassbare Aura verbreitete sich mit einer gewaltigen Intensität. Es war, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen, die Luft vibrierte, summte, mir war, als hörte ich einen Gesang, in mir selbst, in meiner Brust, meinen Beinen, meinem Bauch, meinen Händen. Es war eine tiefe, verlockende, hoffnungsvolle Stimme, die mich tief in meinem Inneren berührte.
Die Finger schraubten den Verschluss des Kristalls auf, schütteten den Inhalt der getarnten Kapsel auf ihre Handfläche.
Eine Pflanze für den Tod.
Das Bellen der Hunde klang mit einem Mal stechend scharf in meinen Ohren. Das riesige Rudel des Klosters, hunderte treue Seelen, gingen in Angriff über. Jemand griff das Kloster an und sie würden es beschützen. Selbst wenn es ihren Tod bedeuten würde . Ein Schmerz, jenseits von allem, was ich bisher gespürt hatte, verbreitete sich in mir.
Und immer noch war da diese Aura, der Gesang, der mich einlullte, mich besänftigte.
Schwester Erde betrachtete mit einer unwirklichen Ruhe das weiße Pulver in ihrer Handfläche.
"Immerhin müssen wir so nicht leiden. Angeblich soll es sehr schmerzlos sein, wie einschlafen..." Sie lächelte über irgendetwas und sah mich dann wieder so durchdringlich an.
"Aura. Liebe kleine, junge Aura. Ich wünschte, man hätte euch die anderen Geschichten erzählt. Die Geschichten von Helix, dem Seelen-Schmied, die Geschichten von Musicae, den blühenden Inseln, die Geschichten von Aurora, der Mentorin von Generationen von Sirenen. Und die Geschichten von den Sireos, unseren Gefährten. Aber jetzt? Jetzt ist es zu spät..." Sie seufzte und die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme ließ mein Herz zittern.
Schwester Erde straffte die Schultern, hob ihre Handfläche zum Mund und schluckte das Pulver. Sie hatte die Augen geschlossen, saß für einige Sekunden wie erstarrt da, dann schien sich ihr ganzer Körper zu entspannen und ihre Augen öffneten sich wieder.
Irgendwie sah sie glücklich aus. Und traurig. Beides.
"Das fühlt sich seltsam an. Seltsam aber gut." Sie kicherte und sah mich aufmunternd an. "Es bleibt nicht viel Zeit, Aura, am besten schluckst du es auch gleich." Sie hob die Hand und strich mir über die Wange. "Hab keine Angst, es ist das schönste Schicksal, das uns noch bleibt. Alles, was jetzt folgt, ist Schmerz, Gewalt, Tod. Wenn die Sonne wieder aufgeht, wird es diesen Ort nicht mehr geben, unsere Spuren ausgelöscht." Sie schloss die Augen, breitete die Arme aus und lehnte sich lächelnd zurück. "In einem anderen Leben, Aura, da hättest du es geliebt, eine Sirene zu sein..."
Ich merkte, wie ihre Stimme leiser und leiser wurde und die Aura um mich herum leicht erbebte. Sie wurde schwächer und schwächer. Die Außenwelt wurde lauter, einzelne Geräusche drangen zu mir durch.
Der Körper, der mir gerade noch so viel Halt gegeben hat, begann leicht zu zittern. Dann, in unendlicher Langsamkeit, begann er sich aufzulösen. Die Haut färbte sich gräulich, winzige Risse krochen über die Haut, wurden größer, bis sich Stück für Stück löste und vom Sturm in Bruchteil einer Sekunde hinfort gerissen wurde. Vor meinen eigenen Augen zerfiel Schwester Erde zu Staub, vereinte sich mit dem Sturm und war verschwunden.
Ich hatte keine Zeit mehr, zu begreifen, dass sie fort war. Keine Zeit, selbst den Piercing zu lösen, zu Schlucken, zu Staub zu verfallen.
Denn plötzlich zerfiel der Boden unter mir. Die Aura war fort. Alles brach zusammen und ich fiel.
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