1 | Der Patron
Eigentlich hätte ich nach einem solchen Tag völlig erschöpft in mein Bett sinken sollen.
Meine Hände waren rau und erdverkrustet von dem Ausrupfen der gigantischen Karotten, meine Unterarme brannten von den Kratzern, die die widerspenstige Hagebutte hinterlassen hatte und ich würde wahrscheinlich für die nächsten Tage meine Arme nicht mehr heben können, so sehr schmerzten meine Schultern von der endlosen Ernte der Äpfel und Birnen.
Wie konnte es sein, dass selbst 142 Frauen nicht genug waren, um die Ernte im Kloster vor dem ersten Frost einzufahren?
Ich seufzte, als ich mit den Fingern über meine aufgeplatzte Lippe fuhr. Ausgerechnet heute hatte sie sich nicht mehr gegen die beißenden Kälte im Tal wehren können. Hier im Tal bekamen wir schon im späten September die ersten Grüße des Winters, Frost legte sich über die Plantagen, die Hunde wimmerten in den ungeheizten Scheunen und die Turmspitzen des massiven Klosters erinnerten an Eiszapfen.
Während ich mit fahrigen Handbewegungen über meine frostbeschichtete Glatze fuhr, huschte ich hinüber zum kleinen Ofen in meiner Kammer und legte eilig ein paar grob gehackte Holzscheite nach. Gierig machte sich das Feuer über sie her und rülpste mir ein paar Funken ins Gesicht. Nur langsam breitete sich die Wärme im kleinen Raum aus, der die Kälte besser speicherte als der Kühlschrank in der Gemeinschaftsküche.
Wohlig schloss ich die Augen und atmete kurz den Duft des Ofens sein, dann eilte ich weiter zum Schrank, um mein Gewand herauszuholen. Es war schwierig, in meiner Hektik und Aufregung die vielen Stoffe des rituellen Kleids nicht durcheinander zu bringen, aber meine Fingerspitzen zitterten vor Nervosität. Heute war es endlich soweit! Dieses Jahr war ich nicht krank, diesmal würde ich dabei sein, bei der Schwarzen Zeremonie.
Das Teilnehmen war zwar eine heilige Pflicht, die in unserer Schutzschrift stand, aber wegen meiner Krankheit war ich letztes Jahr nicht bestraft worden.
Ich hatte riesigen Respekt vor den Schwestern, den Schriften und unserer Tradition und wenn es eine gewissenhafte Junge Schwester gab, dann war ich es. Bisher wurde ich erst ein einziges Mal für das Verletzen einer Schutzschrift-Regel gestraft und das war, als ich im Alter von sechs Jahren versucht hatte, eine Tür in der Großen Mauer zu öffnen.
Erste Regel: Setze niemals einen Fuß hinter die Große Mauer. Öffne keine ihrer Türen, betrete keine ihrer Treppen und gewähre niemandem Eintritt, der nicht zu den unseren gehört.
Wir hatten alle eine Abschrift der Schutzschrift in unseren Kammern, was ich übrigens etwas überflüssig fand, wenn man sie spätestens mit 4 Jahren bereits vollständig auswendig aufsagen musste und bei jeder Gelegenheit daraus vorgelesen wurde. Wenn mir die Oberste Schwester mitten in der Nacht befohlen hätte, die gesamte Schutzschrift aufzusagen, hätte ich sie problemlos rezitieren können ohne überhaupt aufzuwachen.
Jedenfalls gingen mir gerade ganz andere Gedanken durch den Kopf als die Gebote unserer Schrift. Nämlich:
Wo zur Höhle bleibt Brise?!
Es war schon kurz vor Mitternacht und meine Kammerschwester war immer noch nicht aufgetaucht! Angst drückte mir die Kehle zu und mein Atem kam nur stoßweise.
Ich biss mir auf die Unterlippe, wand mich aus dem schlichten Leinen-Overall, den ich den ganzen Tag getragen hatte - so wie jeden anderen Tag - und stieg langsam in den Bottich, der für uns am frühen Abend vorbereitet wurde. Heißer Dampf stieg an die niedrige Decke und das von Weizenmilch getrübte Wasser verströmte im ganzen Raum den Geruch von Lavendel, Zimt und Rosenblättern. Das rituelle Bad um unseren Körper für die Zeremonie zu reinigen.
Ich lehnte mich zurück und versuchte, in den letzten Minuten vor der ersten Zeremonie meines Lebens ein bisschen Ruhe zu finden, da sprengte die Tür auf und eine völlig zerzauste junge Frau kam herein gestürzt, in den Händen etwas Großes, Klobiges.
"Aura! Ich habe es geschafft! Das Radio funktioniert!"
Völlig entsetzt starrte ich das dunkle, verdreckte Mädchen vor mir an, das das Ding, das sie Radio nennte, wie ein zappelnder Fisch in die Luft hielt.
"Brise! Die Zeremonie beginnt gleich! Was hast du dir dabei gedacht?" Meine Stimme überschlug sich fast vor Panik, die Zeremonie war so heilig, so wichtig, musste so perfekt ablaufen, dass die Rücken derer, die den Ablauf störten, nach der Strafe blutig geschlagen waren.
Meine Worte mussten zu ihr durchgedrungen sein, denn das rundliche, verschmierte Gesicht fiel in sich zusammen und ihre katzenartigen Augen weiteten sich vor Entsetzen.
"Die Zeremonie!", keuchte sie erstickt.
Am liebsten hätte ich Brise irgendwie geholfen, doch so konnte ich nur im Wasser sitzen, ihr beim hektischen Hin und Her-Eilen zusehen und sie anfeuern. Als sie endlich zu mir ins Wasser sprang, waren ihre goldenen Augen glasig vor Panik.
"Aura, wie konnte ich nur die Zeremonie vergessen? Ich kann es nicht fassen!" Sie tauchte ihr Gesicht unter und kam prustend wieder zum Vorschein. Wassertropfen glitzerten auf ihren kurz rasierten Haaren. "Frag mich was Leichteres! Ich dachte schon, du tauchst nicht mehr auf!" Gemeinsam seiften wir uns gegenseitig ein, konnten aber dabei weder unsere Panik, noch unsere Aufregung im Griff behalten. Während Brise schon anfing, meine Haarstoppeln einzuölen, entwich ihr ein ungläubiges Lachen. "Oh ist es nicht unglaublich, dass wir heute beide unsere erste Zeremonie erleben werden? Was glaubst du, wie sieht er aus? Ob er mich wählen wird?"
Ich quiekte, als Brise ihre Fingernägel nicht vorsichtig genug über meine Kopfhaut fuhr. "Brise, wenn die Oberste Schwester dich hören würde! Ich mache mir Sorgen um dich, du weißt doch, wie wir uns verhalten müssen!" Brise beugte sich über meine Schulter und zog ihre Augenbraue hoch, so wie sie es immer tat, wenn sie mir etwas nicht glaubte. Ich schnaufte empört, als Brise nur in sich hinein lachte, und schrubbte mir die Schwielen von den Fingerkuppen.
"Aber ich meine es ernst, Brise", versuchte ich es noch einmal mit dringlicherer Stimme, denn mir schwebten die Bilder der Strafen vor Augen, die Brise für ihre verbotene Neugier drohten. Während ich es sehr gut beherrschte, alles Verbotene in meinem Inneren zu behalten, hatte Brise über die Jahre schon oft für ihre Expressivität büßen müssen. Sie war so oft beim Regeln-Brechen erwischt worden, dass sie sogar Narben auf ihren Handflächen von den Rutenschlägen trug. Nach den ersten Malen hatte ich Angst, dass das ihren aufgeweckten, neugierigen Geist brechen würde, doch das hatten die Schwestern bisher nicht geschafft.
Brise schob die Lippe vor und prustete mir Luft ins Gesicht. "Du bist so schrecklich ängstlich und regeltreu, Aura! Leb dein Leben, sei frei und wild!" Sie tauchte unter und kam mit geblähten Backen wieder hoch. "Wag es nicht!", kreischte ich, doch es war schon zu spät. Sie prustete mir den Inhalt ins Gesicht und stupste ihren Zeigefinger gegen meine Stirn, während ich jammernd meine Augen freiwischte. "Glaub an dich selbst und nicht an das, was dir die doofen Schwestern sagen!", sagte sie mit einer Mischung zwischen Spaß und Ernst, ihre Stimme hatte einen ironischen Unterton. Wir sahen uns einen Moment an und lachten, bis unsere Bäuche weh taten.
Nachdem wir fertig waren, trockneten wir uns ab und ölten einander mit Zitronenöl ein, schliffen die Fingernägel und trimmten unsere Körperbehaarung. Mit der kleinen Schere aus Kupfer an meinen Härchen herum zu schnippeln, war ein sehr befremdendes Gefühl. Es war eine Vorschrift für die Zeremonie und doch stand es so im Kontrast mit den Glaubensätzen, die die Schwestern lehrten.
Gleichzeitig mit mir saßen gerade fast 100 Frauen nackt auf ihren Holzhockern und kürzten ihr Intimhaar für den Patron und morgen früh beim Morgenritual würden uns die Älteren Schwestern von der Unabhängigkeit und Würde vorlesen, den Geschichten aus dem Blutigen Zeitalter, den Kämpfen gegen die Menschen, gegen die Männer.
Aber das war nun einmal der Preis für unsere Sicherheit.
Einmal im Jahr öffnete sich das massive Stahltor in der Großen Mauer und ließ einen Mann ins Innere, den wir alle nur unter dem Namen "Der Patron" kannten. Laut den Älteren Schwestern war er der Grund, warum uns die Menschen in Ruhe ließen und unser Kloster noch nicht ausgelöscht worden war, wie fast alle anderen Rückzugsorte der Sirenen. Laut der Karte, die in der Eingangshalle hing, gab es nur noch sechs Orte weltweit, wo wir Sirenen sicher leben konnten.
Obwohl nach so langer Zeit Jahr für Jahr eine Frau den Patron kennengelernt und Intimität mit ihm geteilt hat, ist das Geheimnis seiner Identität, seines Aussehens und was genau hinter der schwarzen Tür aus Obsidian-Gestein passiert, immer noch so gut behütet, wie am ersten Tag. Die auserwählten Frauen verloren kein Wort über das, was sie erlebt hatten.
Die Regeln der Schrift und die Angst vor den Konsequenzen hielt sie eisern im Griff.
Und ich persönlich hatte nie das Verlangen, nachzufragen. Der Patron war ein Mensch. Einer der Außenwelt. Er bedeutete Gefahr und Abhängigkeit. Die Regeln des Klosters waren mir heilig, denn sie beschützten jeden Tag mein Leben vor dem, was da draußen war. Und eine Regel davon war, dass nichts, was im Bezug zum Patron stand, je unsere Lippen verlassen durfte.
Ich war mehr als glücklich, dieser Regel zu folgen.
"Bist du soweit?"
Ich nickte und für einen langen Moment standen Brise und ich uns gegenüber, bewunderten die Kleider, die wir trugen und wie verändert wir aussahen.
Brise sah umwerfend aus in der dunklen Robe, die sich hauteng an ihren erdfarbenen Körper schmiegte. Das Gewand war aus dunkelblauem Samt gefertigt und entblößte mehr, als es verdeckte. Ich fühlte mich mindestens genauso fremd in so wenig Stoff wie meine Kammerschwester, waren wir doch unser ganzes Leben einen Overall gewöhnt, der nur der Praxis diente. Trotzdem fuhren meine Augen bewundernd über dieses Kleid, das genauso gut aus einer anderen Welt stammen konnte. Die Träger bedeckten zu beiden Seiten den Busen, aber auch nicht mehr, und liefen im Nacken zusammen, während der Rücken bis zur Hüfte entblößt blieb und auch vorne liefen sie erst unter dem Bauchnabel zusammen. Dort war der Stoff eng geschnürt und fiel dann in einem üppigen Rock auf den Boden, wie hunderte Wellen übereinander gefaltet.
Obwohl alle das gleiche rituelle Kleid trugen, war es in meinen Augen nur an Brises Körper am richtigen Platz.
Als Brise einen Schritt tat im Versuch, auf den hohen Stöckelschuhen zu balancieren, teilte sich der Rock auf und der Schlitz gab die Sicht auf ihr Bein fast bis zum Schoß frei.
Sie sah mich mit großen Augen an.
"Aura, ich hätte öfter üben sollen, in diesen Dingern zu laufen. Ich werde mir die Knöchel gebrochen haben, bevor ich überhaupt die Kammer verlassen habe!", flüsterte sie panisch, als könnte der Patron persönlich hinter der Mauer stehen und lauschen.
"Du siehst eleganter aus als die Kraniche im Klosterteich, mach dir keine Sorgen", versuchte ich sie zu beruhigen, doch selbst ich bekam bei ihren krakeligen, unbeholfenen Schritten einen Anflug von Panik. Es war unsere oberste Pflicht, uns neben unserer täglichen Pflichten im Laufe des Jahres auf die Zeremonie vorzubereiten und Brise hatte nicht wenige der Vorbereitungslektionen geschwänzt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich so sehr gehofft, dass sie aus den darauf folgenden Strafen gelernt und das Verpasste nachgeholt hatte, doch scheinbar war sie zu beschäftigt damit gewesen, Wildpferde anzulocken, in die verbotene Bibliothek einzubrechen und Radios zu reparieren.
Hektisch gab ich ihr noch ein paar Tipps, wie sie sicherer auftreten und sich gerader halten konnte, eilte hinüber zum Sockel neben dem Bad und nahm die zwei Bauchnabel-Piercings in die Hand, die wir vor dem Baden dort abgelegt hatten. Die Schatulle daneben ließ ich ungeöffnet, heute würden wir keine Linsen tragen.
Jede Sirene, die innerhalb der Klostermauern lebte, trug einen Bauchnabelpiercing und ein persönliches Set an Kontaktlinsen. Die Kontaktlinsen waren ausschließlich in einem dunklen Braun oder einem stumpfen Blau und dienten dazu, die Augen einer Sirene zu verstecken und wie gewöhnliche Menschenaugen aussehen zu lassen. Jeder Mensch hätte sonst eine Sirene schon aus fünfzig Metern Entfernung erkennen können, denn die Iris einer Sirene war ein leuchtendes, bewegliche Farbspiel, die - so nannten es die Schwestern- die ganz individuelle 'Essenz' der Sirene sichtbar machte. Schlieren der unterschiedlichsten Farben bewegten sich zeitlupenartig ineinander, umkreisten in einem magischen Miteinander die Pupille. Die Schriften sagen, dass ein Mensch, der in sie blickt, seinen Verstand verliert.
Die Vorstellung, dass meine Augen Menschen Leid zufügten und sie vergessen ließen, wer sie waren, jagte mir schreckliche Angst ein.
Während Brise und ich unseren Piercing einsetzen, teilte ich meine Sorge mit ihr: "Hey, was glaubst du, warum können wir den Patron ohne Kontaktlinsen treffen? Ist das nicht gefährlich?"
Sie zuckte bloß ratlos mit ihren Schultern und setzte den zweiten, schillernden Ohrring ein. "Keine Ahnung, vielleicht ist er immun oder so? Oder gar kein Mensch?"
Ich war alles andere als zufrieden mit ihrer Antwort.
Mit einem Samttuch putzte ich meine Fingerabdrücke von dem vielfarbigen Edelstein des Piercings und überprüfte den Zustand der Kapsel am anderen Ende.
"Ein Stein für das Leben, eine Pflanze für den Tod.", hauchten mir die Stimmen der Schwestern durch den Kopf. Ich konnte mich nie gegen die Angst wehren, die beim Betrachten des Piercings in mir aufstieg. Der Stein, der die Stimme der Sirene zum Schweigen bringt. Das Pulver einer Pflanze, die unseren Körper in Staub verwandelt. So etwas am Bauch zu tragen, war wie ein frisch geschliffenes Messer als Halskette.
Gerade legte ich das letzte goldene Schmuckstück an, da hallte ein durchdringlicher Glockenton durch die Gemäuer des Klosters und kitzelte in den Fußsohlen.
Brise sah mich an.
Ich sah sie an.
Mein Herz schlug wie verrückt.
"Bist du bereit?", flüsterte ich. Brise schüttelte den Kopf. "Nein, du?"
Meine Lippe zitterte.
"Ich auch nicht."
Wir griffen uns an den Händen und schlossen uns den Frauen an, die in wallenden Gewändern zum Zeremonie-Saal strömten.
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