P I Ę Ć D Z I E S I Ą T S I E D E M
Es sprießen keine Tränen aus den Augenwinkeln. Ich will gerne welche laufen lassen; will den Druck lösen, der sich in meiner Brust aufgebaut hat. Aber ich bin nicht fähig, das nötige Ventil zu öffnen. Mittlerweile habe ich die Arme um Cessy geschlungen. Noch immer hat kein Wort meine Ohren erreicht, wir schweigen. Vielleicht ist es das Beste; ein gezwungenes Gespräch hätte die ohnehin schon komplexe Lage verschlimmert.
Ich atme tief durch und drehe ein wenig den Kopf, starre direkt auf den Boden. Der kleine Käfer ist längst verschwunden. Kein anderes Insekt krabbelt über den Boden, nicht einmal eine Spinne hat sich ein eigenes Netz errichtet. Nirgends schwirren Fliegen durch die Luft. Es ist mir ein Rätsel, warum ich dafür meine Gedanken verschwende.
Ich sollte lieber an Vincent denken, den ich, wie es scheint, verloren habe. Das eigene Herz hat sich längst den unnachgiebigen Stichen hingegeben; wird gnadenlos attackiert. Es ist wegen der Schmerzen taub - ich selbst spüre nichts. Alles fühlt sich hohl und leer an. Es ist, als hätte man mir ein relevantes Stück aus der Brust gerissen, es auf den Boden geworfen und darauf getreten.
Cessy gibt mich langsam frei. Ich bewege keinen Muskel. Auch dann nicht, als ihre schlanken Finger mein rechtes Handgelenk umfassen und sie mich sanft zu der Wohnung zieht. Kein Widerstand regt sich in mir, kein Protest wird erhoben. Stille. Leere. Schwärze. Ich will am liebsten im Erdboden versinken.
Ich lasse mich von der Tänzerin mitziehen. Mitten in dem Flur hält sie inne und schließt die Tür mit der freien Hand. Das Schloss schnappt leise zu. Sie setzt sich wieder in Bewegung, mich im Schlepptau. Kein Wort bahnt sich aus Cessys Kehle; sie steuert die Couch an. Nimmt Platz und zieht mich neben sich. Ich lehne meinen Kopf an ihre rechte Schulter, starre den Tisch an. Die Sicht ist ein wenig verschwommen, als würde ein dünner Schleier vor meinen Augen hängen. Die Hände liegen schlaff auf dem Schoß. Die Blondine schiebt einen Arm auf meine Schultern und holt mich noch näher zu sich heran, sodass ich mein Kopf auf ihre Brüste ruht. Einige Sekunden ziehen an mir vorbei. Sekunden der Wortlosigkeit. Der bedrückenden Leere, die jegliche Lichter verschluckt. In meinem Kopf dreht sich alles um diesen einen Vorfall. Und um die Tatsache, dass ich das kostbare Band der Freundschaft entzwei gerissen habe. Vor meinem geistigen Auge erkenne ich die übriggebliebenen Fetzen. Ich könnte sie zusammennähen. Wieder zu einem festen Band. Ich will es. Aber ich besitze keine Vorstellung, wie ich anfangen soll. Wo soll ich überhaupt den Start ansetzen? Kann ich dies überhaupt? Lässt sich dieses Band zusammenflicken?
Ich weiß es nicht.
„Ich ... i-ich ..." Die Stimme versagt ihren Dienst. Ich kneife die Augen zusammen und sammele mich. Versuche es ein zweites Mal. Sie zittert immer mehr; beinahe wäre sie erneut verklungen. „Es tut mir leid." Eine mickrige Entschuldigung. Das ist alles, was ich aufbringen kann. Eine Entschuldigung, die eigentlich nicht ausgesprochen werden muss, weil sie keinen Sinn besitzt. Ich suche fieberhaft nach weiteren Worten. Nach irgendwelchen. Aber ich finde keine, zumindest nicht solche, die in die Situation hineinpassen.
„Nicht", wispert Cessy, und ihre Fingerkuppen streichen über meinen Arm hinweg. Auch wenn ich ein loses T - Shirt trage, geht die sanfte Berührung mir unter die Haut. „Hör' auf, dich für etwas zu entschuldigen, bei dem du keine Schuld trägst." Ihre kleine Nase vergräbt sie in meinen Haaren. Ein trübes Lächeln zeichnet sich auf meinen Lippen ab. „Du kannst nichts dafür, okay? Ihr beide könnt nichts für eure Gefühle."
Ein tonloser Seufzer drängt sich aus der Kehle. Ich taste mit meiner einen Hand nach Cessys freien. Die Fingerspitzen wandern über ihren Handrücken hinweg. Ihre Haut, weich und zart, die Finger, sehnig und feingliedrig. Ich verschränke unsere Finger ineinander. Cessy erwidert wie von allein den kurzen Druck, den ich ausgeübt habe. Eine Geste, die eine Kerze in mir anzündet. Ein einsames Licht inmitten der Dunkelheit. Sollte ich Hoffnung pflegen? Ich zögere sehr.
„Aber ich habe ihm gesagt, dass ich ... na ja, du weißt schon." Der Blick haftet an unseren Händen. „Ich hätte es nicht erwähnen dürfen. Damit hätte ich es nicht verschlimmert." Die Kehle ist wie ausgetrocknet. „Ich bin schuld, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Verdammt, und dabei weiß ich doch, dass er dich ebenfalls mehr als mag. Und trotzdem habe ich es gesagt." Ich realisiere, wie Cessy mich mehr an sich drückt. „Was ist, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will? Nie mehr mit mir reden will?" Jetzt stehe ich den Tränen nahe. Ich schlucke mehrfach, um sie zurückzuhalten.
Die Vorstellung macht mich fertig. Die Eifersucht hat uns endgültig auseinandergetrieben. Die Schattenseite der Liebe.
„Das hast du nicht, Valary", murmelt Cessy, und sie hinterlässt einen Kuss auf meinem Kopf. „Wirklich nicht, wenngleich du fest vom Gegenteil überzeugt bist. Es ist nur der Anfang, der ihm die Wunden zugesetzt hat. Aber mit der Zeit verheilen sie. Vincent muss es erst einmal verarbeiten; gib ihm die Zeit, die er braucht." Der nächste Kuss, und die Flamme in mir leuchtet auf. Dennoch zögere ich. „Du hast richtig gehandelt. Hättest du es ihm viel später erzählt, hättest du die Lage deutlich verschlimmert. Die Geheimnistuerei ist deutlich grässlicher, glaub' mir." Schweigen. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Wie ich es schon einmal gesagt habe, braucht Vincent seine Zeit, um damit klarzukommen. Das kann gut und gerne mehrere Tage, sogar Wochen in Anspruch nehmen. Und wenn er sich nicht mehr meldet ... Ja. Egal. Das ist jetzt irrelevant. Denk' nicht über Dinge nach, die möglicherweise nicht passieren werden."
Ihre ausgesprochenen Worte bewegen mich dazu, die Hoffnung zu pflegen, damit sie sich ein zweites Mal erheben kann. Die Kerze ist umgekippt, und die einst kleine Flamme hat den Boden erreicht. Nun gewinnt sie stetig an Kraft, strahlt immer mehr auf. Immer heller, immer größer. Immer mehr Funken. Die Wärme gelangt zurück, und das Lächeln kehrt wieder.
„Denkst du das wirklich?", frage ich leise, und neige ein wenig den Kopf zur Seite, als ihre wohlproportionierten Lippen meine Wange streifen. „Aber was wäre wenn?"
„Was wäre wenn?", greift Cessy meine Worte erneut auf und küsst wieder meine Wange. Sie kribbelt schwach. „Etwas, was geschehen kann oder nicht eintreffen wird. Eine Sache der Zweiwertigkeit." Die Vierundzwanzigjährige streicht eine Haarsträhne hinter mein Ohr. „Verschwende dafür nicht deine Gedanken, ja? Es bringt dir nichts." Sie scheint zu überlegen, denn sie schiebt mich vorsichtig beiseite und steht auf. „Weißt du was? Ich denke, ich kann dich auf andere Gedanken bringen. Dich ein wenig ablenken." Sie kichert für einen Augenblick, als sie meinen fragenden Blick bemerkt hat. „Ich rede nicht von Sex. Der würde nach der Aktion keinen Spaß machen." Sie greift nach meiner rechten Hand und zieht mich ebenfalls auf die Füße.
„Ich dachte schon. Hm, wie schade. Ich hätte mich zumindest gefreut." Ein kümmerlicher Funken Neugier hat sich in den braunen Augen breitgemacht, als Cessy aus dem Wohnzimmer geht und das Licht löscht. Ich will nachhaken, dennoch unterstehe ich mich. Neugierig trotte ich hinter der Tänzerin her, welche ein neues Zimmer betritt. Ein süßlicher und schwerer Geruch reizt meine Nase, der mir eine beschwingte Schwere beschert.
„Beim nächsten Mal, und wenn die aktuellen Gegebenheiten anders sind. Nicht so angespannt." Die Blondine steuert das Fenster an, das von einem schweren Vorhang bedeckt wird. Sie lässt mein Handgelenk los. Ich schaue mich währenddessen kurz um. Eine blaue Lavalampe steht auf dem Nachttisch und verstreut ihr Licht in der unmittelbaren Umgebung. Ein Gläschen mit Räucherstäbchen befindet sich direkt daneben; zarte Fäden tänzeln umher. Ein ordentliches Bett, auf dem Fußende thront eine halbgeöffnete Kiste. Ich blicke zu der Tür. Links daneben der Kleiderschrank, der die Hälfte der Wand einnimmt. Gegenüber von dem Bett ein hüfthohes Regal, bespickt mit Büchern, einer Ansammlung diversen Schmucks und einigen Souvenirs. Ich gehe einen kleinen Schritt zu dem Fernseher; kann einige Bilder an den Wänden ausfindig machen. Was genau sie darstellen, kann ich wegen des fahlen Lichtes nicht erkennen.
„Dort bin ich mit meiner Familie abgebildet." Cessy ist neben mir erschienen. Ich zucke kaum merklich zusammen. Ich habe sie nicht kommen gehört. „Das ist vor fünf Jahren gewesen. Oder ... nein, warte. Das ist entstanden, nachdem ich die High School abgeschlossen habe." Ihre Hand umschließt meine. Mittlerweile lodert ein warmes Feuer in mir. Hat die Schatten hinfort gejagt. Erglänzt jeden Winkel. „Ich habe sogar eine Empfehlung für das College bekommen. Aber na ja, ich habe sie nicht wahrgenommen. Warum auch? Ich bin ziemlich froh gewesen, dass ich nicht mehr für irgendetwas lernen muss." Cessy deutet auf das zweite Foto. „Das hat Ivanka mit mir gemacht. Sie ist, nachdem ich angefangen habe, im Red Roses zu arbeiten, zurück in ihre Heimat gegangen. Sie hat mir alles Wesentliche beigebracht und mir wertvolle Tipps gegeben. Hm, ich schätze, dass ich nicht die Person wäre, die ich heute bin, hätte ich nicht ihre Ratschläge zu Herzen genommen." Die Blondine zieht mich ein wenig zu dem Fenster. Ich sehe von den Fotos weg, nun zum Fenster. Für den Bruchteil einer Sekunde hat sich Erstaunen in meinem Gesicht widergespiegelt. Der Vorhang ist beiseite gezogen worden, zum Vorschein ist eine schmale Balkontür gekommen. „Das Schöne ist, dass du einen Blick Richtung Innenstadt hast, wenn der Himmel wolkenlos ist." Sie betritt mit mir den Balkon. „Er mag zwar klein sein, aber für uns reicht der vollkommen aus."
Würden Cessy und ich uns nebeneinanderstellen, wäre dafür gerade noch so Platz. Ich geselle mich zu ihr. Cessy steht an dem Geländer, hat sich daran gelehnt. Ihre Hände hat sie auf das warme Eisen gestemmt. Wortlos stelle ich mich vor sie und schiebe die Hände um ihre Taille. Sie lächelt leicht und legt ihre Arme um meinen Nacken.
„Es ist dennoch schön hier", murmele ich und sehe an sie vorbei. Die Tänzerin hat recht behalten. Man kann tatsächlich einen Blick zu der Innenstadt erhaschen. Bunte Lichter, sie funkeln und erleuchten den gähnenden Abend. Ein sternenklarer Horizont, geprägt von der Dominanz des tiefdunkeln Blaus. „Echt faszinierend." Ich sehe Cessy an. Lächele mehr. „Aber das ist nichts im Vergleich zu dir." Meine Worte bringen sie ebenfalls zur Geste. „Du bist hier die wahre Schönheit." Meine Finger wandern ihre Taille entlang. Langsam.
„Findest du?" Sie schaut mir weiterhin tief in die Augen. Das stechend klare Grün ihrer Augen glitzert hell wie zwei Edelsteine. „Ehrlich gesagt, finde ich es verrückt. Du musst wissen, dass mir noch niemand solche Arten von Komplimenten gemacht hat. Es ist etwas ungewohnt für mich."
„Entspräche es nicht der Wahrheit, hätte ich es nicht gesagt", räume ich die Bestätigung ein, und die Lautstärke steigt in den Keller hinab. „Du kannst mir ruhig glauben." Ich beuge mich ein wenig zu ihr, und meine Lippen berühren ihre Stirn. „Du bist wunderschön auf deine ganz eigene Weise, und das ist, was mich so fasziniert und was mir gefällt." Ich kann es nicht unterbinden; ein leises Gelächter ertönt aus mir. „Jetzt kann ich es auch verstehen, warum die Männer im Red Roses sich nach dir sehnen; du bist einfach atemberaubend."
Es ist das erste Mal, dass sich eine hauchzarte Röte auf Cessys Wangen ausgebreitet hat. Das Lächeln hat an Größe gewonnen - erstreckt sich von einem Mundwinkel zum anderen. Die Vierundzwanzigjährige nimmt ihre Arme von meinen Schultern und greift stattdessen nach meinen Händen. Keine Bewegung zuckt durch sie. Ich blicke sie an. Nein, eher unsere ineinander verschränkten Finger. Es ist ein unglaubliches Gefühl. Wie eine abwegige Achterbahnfahrt. Das Herz trommelt und trommelt. Fest und schnell. Für einen Augenblick habe ich die Sorge gehabt, der Brustkorb wird nachgeben. Aber dieser kräftige Muskel pumpt liebliche Glücksgefühle durch mich. Es ist, als rauscht flüssiges Gold anstelle Blut durch die Adern. Jegliche Winkel des Körpers werfen strahlendes Licht, nirgends haben Schatten die Chance, sich breitzumachen. Selbst die Gedanken setzen sich nicht mehr mit Vincent auseinander. Er scheint in die Vergessenheit geraten zu sein.
Zumindest für diesen einen unbeschreiblichen Moment. Nun dreht sich alles um Cessy. Ich habe Hoffnung. Sie ist stark und nicht falsch. Das Feuer hat sich währenddessen vollständig ausgebreitet, die Flammen haben mich wie eine dicke Decke eingehüllt und kriechen nun an mir empor. Ich verbrenne mich dennoch nicht. Die Wärme dringt tief unter die Haut. Jegliche Gliedmaßen kribbeln angenehm.
Ich werde nicht mehr von den Schattenseiten der Liebe geführt. Verschiedene Gefühle steuern und lenken mich. Hat die Hebel in den Händen. Wohlempfinden. Glück. Freude. Die zephirischen und warmen Gefühle. Sie tragen Verantwortung, dass ich die Welt mit anderen Augen sehe. Dass ich hin und weg von Cessy bin, nach der sich mein Herz sehnt.
„Hm, wenn du es so sagst." Sie verdreht amüsiert ihre Augen, als ich für einen Moment lache. „Hey, so lustig ist das gar nicht. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wie gesagt, außer du und Vincent hat mir noch nie jemand ein Kompliment gemacht. Zumindest nicht eins, was ernst gemeint ist." Ihre Hände schließen sich fester um meine.
„Ach, das ist doch nicht schlimm", gebe ich in einem belustigten Tonfall zurück und begegne ihrem ausdrucksstarken Blick. Ich habe gehört, dass Grün für Hoffnung stünde. Hegt die Vierundzwanzigjährige sie möglicherweise auch? „Mit der Zeit gewöhnt man sich an sie."
Cessy zuckt mit den Schultern.
„Dafür werde ich höchstwahrscheinlich ziemlich lange brauchen." Sie schweigt kurz. Ich kann behaupten, dass die Zeit stehen geblieben ist. Dass Cessy und ich uns in einer völlig anderen Welt befinden. Dass die Welt um uns herum nicht existiert. „Hat dir eigentlich jemand Komplimente gemacht?"
Ich muss nicht in Erinnerungen schwelgen. Die Antwort liegt mir auf der Zunge und hat nur darauf gewartet, ausgesprochen zu werden.
„In der High School ist es etwas extrem gewesen", spreche ich und fahre mit den Daumen über ihre Handrücken. Spüre die Sehnen. „Ich bin im letzten Jahr gewesen, und ein paar Tage vor dem Abschlussball haben die meisten Typen angefangen, mich mit diversen Komplimenten zu bombardieren. Es ist ja nicht so, dass ich mich schon längst geoutet habe, weißt du? Aber nein, denen hat es nicht interessiert. Warum mir auch zuhören? Ich erzähle ja nur Stuss." Ich gleite in die Erinnerungen ab. Eine Handvoll Bilder sind in meinem Kopf aufgetaucht. „Hauptsache, die kriegen 'n Mädchen ab, um nicht wie der letzte Vollidiot auszusehen." Verdrehe an dieser Stelle die Augen. „Na ja, ich habe sie allesamt ignoriert und bin mit einem Mädchen aus meinem Spanischkurs zum Ball gegangen. Hm, komisch. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist dieser Ball doch keine Katastrophe gewesen. Ich habe etwas Spaß gehabt."
„Die Vorstellung, wie du ein Kleid trägst, ist lustig." Als sie meine gerunzelte Stirn registriert hat, lacht sie. Es weicht förmlich mein Herz auf und hallt wie eine Melodie in meinen Ohren wider. „So etwas passt überhaupt nicht zu dir."
„Sehe ich so aus, als würde ich Kleider tragen? Hallo? Auch damals habe ich sie nie getragen. Die Teile sind viel zu unbequem. Und sie passen nicht zu mir." Ich schaue kurz Richtung Innenstadt. Verfolge das Wachwerden der Stadt und den Abschied des Abends. „Ich habe ein einfaches weißes Hemd getragen und dazu eine schwarze Hose. Ähnlich wie bei den Jungs, aber nicht zu einhundert Prozent gleich. Meine damalige Begleitung hat es getragen." Das Bild erscheint vor meinem geistigen Auge. Ich halte eine banale Beschreibung ab: „Ein rotes, das bis zu ihren Knöcheln gereicht hat. Es ist trägerlos gewesen. Und es hat diesen schwarzen Gürtel gehabt, falls man das so nennen kann."
„Ich wollte schon sagen. Du bist wahrhaftig nicht der Typ Frau für Kleider. Ich will nichts Falsches sagen, ja? Aber für ein Kleid verfügst du nicht über die weibliche Eleganz." Sie studiert mein Gesicht, will sich vergewissern, dass sie mich mit ihren Worten nicht verletzt hat. Ich zucke mit keiner Wimper oder verhärte gar die Gesichtszüge. „Du bist eher ein anderer Typ, der dementsprechend solche Charakterzüge aufweist."
„Das musst mir kurz erläutern, weil ich dir nicht ganz folgen kann." Ich richte den Blick auf Cessy. Mustere ihr Gesicht. Stelle fest, dass sie sich keinerlei Make-Up aufgetragen hat. Dennoch kommt mir ihr reines Gesicht so makellos vor.
„Nun ja, du bist eine starke unabhängige Frau, die sehr ehrgeizig ist und enorme Willensstärke aufweist. Du besitzt ein gesundes Ausmaß an Sturheit und ein unglaubliches an Selbstbewusstsein. Kurz und bündig; du wirst von deiner eigenen Stärke gekennzeichnet." Sie neigt leicht ihren Kopf. Stimmt einen nachdenklichen Ton an. „So würde ich dich beschreiben, denn so sehe ich dich vor mir."
„Lustig. So empfinde ich es nicht einmal, aber gut. Du hast wahrscheinlich recht." Ich räuspere mich. Ich schätze, es wird Zeit, die Tür weiter zu öffnen, um die ersten Schritte zu riskieren. Ein tiefer Atemzug meinerseits. „Cessy? Darf ich mal ganz spontan das Thema wechseln?"
„Ich kann mir gut vorstellen, worauf du jetzt hinauswillst." Dennoch nickt sie. „Aber gern. Schieß' los mit dem, was du wirklich auf dem Herzen hast." Sie löst nicht den Blick von meinem Gesicht. Ich weiß nicht, wie genau ich es anstelle, aber ich fühle eine innere Ruhe.
„Gern." Die Stille legt sich auf uns, und ich linse zu der Straße. Die Straßenlaterne streut ihren Lichtkegel auf die Straße, das Licht flackert gelegentlich. Einige Menschen überqueren die Straße oder haben einen anderen Weg eingeschlagen. Höre ich genau hin, kann ich ihre Stimmen vernehmen. „Seit wann ist Vincent hier gewesen? Und hat er sein Kommen irgendwie angekündigt?"
Ich will alles erfahren. Den gesamten Ablauf. Darauf poche ich. Die Blondine seufzt für einen Augenblick. Habe ich etwa eine Grenze überschritten? Aber das kann gar nicht sein. Ich habe keine entdecken können. Ich rede mir nichts ein. Bewahre mein inneres Gleichgewicht.
„Lass' uns nicht über Vincent reden. Ich habe dir vor einigen Minuten gesagt, dass besonders dir das nicht gut tun wird." Sie sieht unsere Hände an. „Vincent wird kein Gesprächsthema darstellen." Ihr Ton klingt bestimmt. Ein eindeutiges Zeichen für mich, nicht weiter nachzuhaken. „Aber das ist nicht das, was du eigentlich sagen willst. Da ist noch etwas anderes."
Verblüffung untermalt meine Miene.
„Woher weißt du das denn wieder?"
Cessys Lippen verformen sich zu einem kleinen Grinsen.
„Tja, in der High School habe ich seit Anfang an den Kurs Psychologie besucht. Da habe ich einige interessante Dinge gelernt, die ich immer noch hervorragend anwenden kann", erklärt die Blondine und erwidert meinen Blick. „Also? Ich höre?"
„Ich muss in Zukunft aufpassen, wie ich mich in deiner Gegenwart aufführe." Ich schmunzele für einen Moment, ehe ich ernst werde. „Das heißt, dass ich dir nichts vormachen kann. Ich hätte es so oder so nicht vorgehabt." Ich halte inne. Lege mir die Worte zurecht. „Ja, wie fange ich am besten an?"
„Wie wäre es, wenn du gleich auf den Punkt kommst?", schlägt Cessy vor und lässt meine rechte Hand los. Sie legt sie auf meine Wange. Ich schließe halb die Augen und genieße augenblicklich die Wärme, welche von ihrer Hand ausgeht. „Ich mag es nämlich nicht, wenn man zu lange um eine Sache redet. Komm' lieber gleich auf den Punkt, dann hast du es unter anderem hinter dir."
Das vertraute Zögern kehrt zurück.
„Soll ich das wirklich tun? Nicht, dass es zu plötzlich kommt." Ich schmiege meine Wange mehr an ihre Hand. Habe gar nicht realisiert, dass ich leiser spreche. Viel leiser. Fast schon flüsternd.
„Du hast mir deine Gefühle gestanden. Mich wird so schnell nichts mehr von den Füßen hauen." Die Tänzerin nimmt ihre Hand weg und streicht stattdessen über meinen Arm.
Ein kraftloser Stich, welchen ich mit Erfolg ignorieren kann. Ich tue so, als hätte ich ihre Worte überhört.
„Gut, ganz wie du meinst." Ich umfasse Cessys freie Hand und behalte sie in meiner. „Du hast es ja schon mitbekommen, als Vincent mich zum Reden gezwungen hat. Ich habe Gefühle für dich entwickelt. Das bedeutet konkret ... Ich habe mich in dich verliebt." Es hat mich etwas Überwindung gekostet, dennoch ist mir eine riesige Last abgenommen worden. Ich kann viel leichter durchatmen - endlich ist es mir ermöglicht worden. „Ich weiß, es sind gerade einmal ein paar Tage vergangen, um es zweifelsfrei festzustellen. Normalerweise nimmt diese Erkenntnis mehrere Wochen oder gar Jahre in Anspruch. Aber nicht bei mir." Ich spähe zu einem Busch. „Ich benötige nur wenige Tage, denn wenn ich einmal etwas für jemanden empfinde, dann sind diese Gefühle keine Einbildung. Sie sind echt." Ein knappes Lächeln. „Besonders bei dir bin ich mir noch nie so sicher gewesen. Aber jetzt steht es zweifelsfrei fest; ich habe mich in dich verliebt." Cessy spricht keine Worte aus. „Jetzt kann ich auch alles auspacken, wenn wir schon einmal dabei sind. Du musst wissen, dass du mir auf Anhieb gefallen hast. Als du das Blue Cigarettes betreten hast, habe ich sofort eins festgestellt; diese Frau, da. Die gefällt mir sehr. Vincent hat es mir angesehen, und darum ist er damals zu dir gegangen. Ich habe mich nicht getraut, dich anzusprechen." Die Vierundzwanzigjährige hört mir schweigend zu. „Erst habe ich ihn dafür gehasst, aber jetzt bin ich ihm dankbar." Ich denke nach. „Auch der Sex mit dir ist etwas völlig anderes gewesen. Nicht so eintönig und teilweise gefühlslos, wie ich ihn sonst kenne. Keine schnelle Nummer, die man nebenbei hat. Nein, bei dir habe ich seit Langem wieder das Ausmaß der Lust und Leidenschaft zu Gesicht bekommen. Ja, es sind diese ganzen Empfindungen, die ich wieder gefühlt habe. Nach mehr als vier Jahren." Vorsichtig löse ich unsere Hände voneinander und platziere sie auf ihre Arme. „Ähm ... nun ja. Ich kann verstehen, wenn du jetzt Zeit brauchst, um darüber nachzudenken. Ich ... ich kann dafür auch gerne gehen."
Ein ganzes Geständnis, das Cessy erst einmal sacken lassen muss. Sie ist nach wie vor still. Die Hoffnung hat sich mittlerweile vollständig aufgerappelt. Das Feuer lodert hell und versprüht unzählige Funken. Wird sie es löschen? Wird Cessy einen mickrigen Aschehaufen zurücklassen? Wird sie die Hoffnung zu Fall bringen? Ein zweites Mal? Viele Fragen haben sich in meinem Kopf aufgestaut - nicht mehr lange, und dieser Damm würde brechen. Mir kommt es vor, als würde jemand hinter dem Schädel sitzen und zaghaft klopfen.
Es geschieht es Unerwartetes. Die Blondine zieht mich noch näher zu sich heran, sodass unsere Knie sich berühren. Ihre Hände ruhen auf meinen Schultern, und sie verbindet unsere Lippen miteinander. Mein Kopf schaltet sich automatisch ab, die Gedanken verpuffen. Der Puls jagt in die Höhe, meine Knie werden etwas weich. Es sind gute Zeichen. Ein starkes Glücksgefühl saust durch mich, und ich erwidere freudig den Kuss. Ein sanfter. Kein Drängen, kein Zögern. Kein Hunger, keine Leidenschaft. Nichts weiter als Liebe, Sanftmut, Wohlempfinden. Eine kleine Geste und eine intensive Auswirkung. Es gleicht einem Wirbelsturm. Aber es ist die Art von Chaos, die ich gerne in mir trage.
„Dass du mit mir ein paar Späßchen gehabt hast, lässt darauf schließen, dass du momentan keine Freundin hast?", wispert sie gegen meine Lippen und streichelt meinen Nacken. Ein wohl tuender Schauder breitet sich aus, und ein Kribbeln durchzieht den vor Wärme strahlenden Körper.
„Richtig", murmele ich und küsse sie kurz. „Hätte ich nämlich eine, würde ich so etwas nie tun. Ich bin ein sehr loyaler Mensch." Ich lehne meine Stirn an ihre. „Warum fragst du mich das?"
„Du kannst es dir doch denken." Cessy kichert leise. Ich lächele sofort los.
„Ach, sag' es doch. Ich würde es gerne hören wollen." Schließe etwas die Augen.
Unsere Lippen treffen aufeinander, ehe sie sagt: „Okay. Ich habe dir diese Frage gestellt, weil ich gerne deine Freundin sein will."
Es ist ein Feuerwerk ausgebrochen. Knallbunte Funken stoben durch die Lüfte, das Feuer brennt lichterloh und versorgt mich mit Wärme und einer beflügelnden Geborgenheit. Mein Herz hat sie vollständig in sich aufgenommen. Ich gleiche einem Maschinenwerk der Liebe. Sanftmut und Euphorie betätigen die Hebel in meinem Kopf. Das Herz, eine einzige Pumpe, befördert flüssiges Glück durch die Adern. Der Körper, das Konstrukt, das diese ganzen Prozesse am Laufen hält.
Ich antworte nichts darauf, sondern hole sie in einen neuen Kuss, in dem ich all meine Gefühle hineinstecke. Ich lasse meine Hände zu ihrem Rücken wandern, sie ruhen dort. Ein Kuss, den man nicht mit Worten beschreiben kann. Der diverse Gefühle aus verschiedenen Winkeln lockt. Der mir die unvergleichlichen Facetten der Liebe zeigt.
Ich kann es kaum begreifen. Cessy ist ab heute Abend meine Freundin. Ich könnte vor Freude platzen. Ihre Entscheidung ist auf mich gefallen. Erwidert meine Gefühle. Sie befindet sich in einem gleichen Zustand.
Nach mehr als vier Jahren habe ich endlich wieder eine Freundin an meiner Seite. Eine atemberaubende Naturschönheit. Eine elegante und clevere Tänzerin. Eine einzigartige Frau, die ich begehre und liebe. Bei der lüsterne Leidenschaft und liebliche Bescheidenheit sehr nahe beieinanderliegen. Bei der ich alles fühlen kann, was es zu fühlen gibt.
Ich beende den Kuss und berühre mit meiner Stirn ihre. Wir sprechen nicht, stehen still da. Genießen diesen sagenhaften Moment. Ich kann nicht denken, bin dazu nicht fähig. Aber das will ich auch nicht. Ich will nur mit Cessy auf diesem Balkon stehen. Mitten in der anfänglichen Nacht, in der wachen Stadt.
Irgendwelche Worte hätten die traumhafte Stille zerstört.
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