P I Ę Ć D Z I E S I Ą T P I Ę Ć
„Lass' dich nicht von den anderen ärgern", ruft meine Schwester mir hinterher, als ich mich dem Wagen nähere. „Auch wenn Vince 'n Idiot ist; ignoriere ihn, sonst bist du nicht viel besser als er." Zoë lehnt sich an den Türrahmen, führt die halbaufgegessene Banane zu ihrem Mund. „Na dann, viel Spaß."
Ich spüre ihren Blick in meinem Rücken. Ein rascher Knopfdruck, und das Fahrzeug springt auf. Ich werfe die Tasche auf den Beifahrersitz und lasse mich anschließend auf den Sitz fallen. Ehe ich die Tür schließe, werfe ich der Blondine einen kurzen Blick zu. Sie schaut weiterhin in meine Richtung, kaut nebenbei auf der Banane herum.
„Ich werde mir Mühe geben", versichere ich ihr und ergänze: „Garantieren kann ich dir nichts. Wenn du nachher oder im Laufe des Tages eine Riesennachricht von mir bekommst, dann weißt du Bescheid. Mich fuckt wieder einmal alles ab." Schweigen. Über mir fliegt ein kleiner Vogel hinweg. „Iss mal weiter, du siehst schlecht aus." Ich ziehe die Tür zu und setze mich angemessen hin. Gut möglich, dass Zoë leise Beleidigungen murmelt, die an mich gerichtet sind. Es amüsiert mich. Die Lippen zu einem kleinen Grinsen verformt, erwache ich das Fahrzeug zum Leben und setze es in Bewegung. Ich schwenke den Blick ein letztes Mal zu meiner Schwester, winke ihr zum Abschied zu. Zoë aber erwidert die Geste, indem sie mir den Mittelfinger entgegenstreckt. Aus mir zwängt sich ein kurzandauerndes Gelächter. „Jaja, du mich auch."
Amüsiert widme ich mich der relativ schmalen Einfahrt. Bedächtig rolle ich zum Straßenrand. Der Blick wachsam und die Sinne geschärft. Ich behalte die Umgebung genau im Auge. Niemand kreuzt meinen Weg. Langsam lenke ich den Wagen auf die ruhige Straße. Schalte in einen neuen Gang und baue Tempo auf.
„Na, geht doch." An dem heutigen Tag empfinde ich nichts anderes als Gelassenheit und leichte Spuren der Heiterkeit. Ich schätze, dass es am gestrigen Abend liegt, der mich nach wie vor nicht kalt lässt. Oder es liegt am Namen, der in meinem Kopf spukt. „Weißt du was? Etwas Musik wird mir nicht schaden. Zum Glück habe ich hier noch ein paar CDs herumzuliegen." Ich nehme eine Hand von dem Lenkrad und schiebe eine Hand in die Ablage. Nebenbei konzentriere ich mich auf den zunehmenden Verkehr, der sich vor mir auf der Straße abspielt. „Komm' schon." Das Fahrzeug rollt zu der ersten Kreuzung. Direkt vor dem Gefährt ist ein schwarzer Transporter. Ich nehme beide Hände, hole die CD aus der Hülle und schiebe sie in den Spieler. „Geht doch." Die Hülle zurück in die Ablage, schalte ich den Spieler an und suche sogleich nach dem ersten Track.
„Ein bisschen Motivation kann man immer gebrauchen." Ich seufze zufrieden, als die ersten Töne den Innenraum meines Wagens eindecken. Die kräftige Stimme des Sängers bahnt sich in meine Ohren, die Musik lullt mich ein. „Jedes Mal Gänsehaut pur. Mann, was bin ich froh, dass ich ihn durch Zufall gefunden habe." Ich kann es nicht unterbinden. Werde quasi dazu verleitet, mitzusingen und mich leicht im Takt der Musik zu bewegen. „Wenn man einen Arschtritt braucht, dann ist er der richtige Sänger. Besser geht es nicht."
Ich schraube die Lautstärke höher, sodass der Herzschlag anfängt, sich dem Tempo anzupassen. Wie zu erwarten, hat sich Gänsehaut auf meinem Körper ausgelegt. Ich lehne mich mehr zurück und genieße die Auswirkungen des Songs auf mich. Intensivere Gefühle, exakter Fokus, Motivation für den Tag.
Der Transporter kommt zum Stehen, ich tue es ihm gleich. Ich summe leise mit, habe den Gesang eingestellt. Mir ist bewusst geworden, dass meine Gesangskünste sehr ausbaufähig sind. Für einen Augenblick gleite ich in Überlegungen ab, dann beuge ich mich zu der Tasche und wühle nach meinem Handy. Ertaste es und hole es heraus. Schalte es an und linse auf das Display. Das kleine Lämpchen signalisiert mir das Empfangen einer Nachricht.
„Bestimmt Vince", mutmaße ich und schüttele langsam den Kopf, tippe die Nachricht an. „Oder ... vielleicht doch nicht." Die Mundwinkel zucken ein wenig, während ich mir die Worte durchlese. „Ja, wie soll es mir schon gehen? Wie immer. Eine Mischung aus Scheiße und gut. Das Übliche." Ich betätige das Gaspedal; der Transporter hat einen Satz nach vorne gemacht. „Ja, verdammt. Ach, egal. Es ist nur eine kleine Nachricht. Außerdem darf ich das." Der Daumen schwebt über die einzelnen Tasten, ich sehe erst auf die Straße, dann auf das Handy. „Gott, das schreibt sich vielleicht blöd. Scheiß' auf mögliche Fehler, Hauptsache, die Antwort ist fertig." Ich schicke die Nachricht ab und lege danach das Gerät beiseite. „Hoffentlich hat mich jetzt niemand gesehen."
Es fädeln sich mehr Fahrzeuge in meine aktuelle Spur ein. Muss also das Tempo anpassen. Langsamer. Ich mache mir nichts draus - noch habe ich den Raum zum ausreichenden Spielen. Ich schalte den nächsten Song ein. Grinse augenblicklich los, als ich feststelle, dass es sich um mein momentanes Lieblingslied handelt.
„Jetzt ist der Morgen erst recht gerettet", murmele ich, und Zufriedenheit prägt den Ton in der Stimme. Das Grinsen weiterhin auf den Lippen tragend, blicke ich auf die Straße. Das gleißende Sonnenlicht trifft auf das Material der Fahrzeuge, sodass es teilweise immens reflektiert wird. Ich kneife etwas die Augen zusammen und versuche, mich nicht darauf zu konzentrieren. Das Licht gewinnt außerdem an Intensität; mein Körper hat die Temperaturen hochgefahren. „Und es ist nicht 'mal acht Uhr, und trotzdem ist es schon so warm. Das heißt; nachher werde ich mir ein schönes Eis erlauben."
Die Einfamilienhäuser meines Viertels werden spärlicher. Zitternde Umrisse der Hochhäuser zeichnen sich ab, und die Straße dehnt sich in die Breite aus. Der schwarze Transporter ist in der Zwischenzeit in eine schmale Straße eingebogen. Vor mir befindet sich nun ein Taxi. Der Song nähert sich dem Ende, die letzten eindrucksvollen Töne werden gespielt. Die Gänsehaut hat sich etwas verstärkt.
Es ist dennoch irgendwie verdächtig. Der Morgen fängt sonst nie so an. Ich bin mit einem holprigen oder gar schlechten Start vertraut. Entweder durch eine Nachricht von Vincent oder durch Verschlafen. Oder durch Zoë, die meinen muss, meine Nerven bis zum Anschlag anzuspannen. Heute nicht. Gelassenheit und Ruhe kennzeichnen mich, die innere Waage befindet sich im Gleichgewicht. Cessys Name stimmt mich sogar heiter, und mein Lieblingssänger hält die Motivation für den Tag aufrecht. Nichts und niemand bringt dieses Konstrukt zum Fallen oder veranlasst es zum Schwanken. Nein, es steht stabil auf dem Fundament.
Dennoch hege ich Bedenken. Es schaut viel zu verdächtig aus.
-
Kühle Luft umgibt mich, als ich die Eingangstür aufstoße und das Revier betrete. Diverse Gespräche und das Klackern der Absätze geben der Stille keine Chance, sich durchzusetzen. Wie immer herrscht ein reges Treiben. Viele Kollegen, die durch den übersichtlichen Saal gehen oder Zivilisten, die sich in dem Wartebereich niedergelassen haben. Ich setze mich in Bewegung, behalte die Tasche etwas an mich gedrückt. Die Stimme des Sängers scheppert weiterhin in meinen Ohren wider, und ich ertappe mich dabei, wie ich tonlos eins seiner Lieder nachsinge. Ohne dass ich es realisiere, blende ich die Geräusche der Umwelt aus. Konzentriere mich einzig und allein auf das Lied.
Es überrascht mich somit nicht, dass ich Jim vollkommen ignoriere, der plötzlich aufgetaucht ist. Erst, als ich in ihn hineingelaufen bin, habe ich seine Gestalt zur Kenntnis genommen. Vor Schreck werden meine Augen groß. Ich gelange zurück in die Realität. Eine zarte Röte breitet sich auf den Wangen aus, und hastig setze ich einen Schritt nach hinten. Stammele: „D-das wollte ich nicht. Ich habe dich nicht ... gesehen." Die Röte fängt an zu glühen; Jim blickt mich an. Ich senke ein wenig den Kopf und lächele misslungen. „Ich war in Gedanken versunken. Wie gesagt, entschuldige." Allerdings bewege ich mich nicht von der Stelle. Etwas hält mich fest.
„Das habe ich längst festgestellt", sagt er und stimmt einen ruhigen Ton an. „Aber das kann passieren. Es ist ja noch früh. Zu früh." Er lässt den Blick über mich schweifen. Ich will gerade im Erdboden versinken. „Du kannst dir vielleicht vorstellen, was jetzt für eine Frage kommen wird." Er geht aus dem Weg, als sich jemand an ihm vorbeischiebt.
„Dann lass' die Frage stecken." Ich schaue auf. „Du würdest so oder so die gleiche Antwort von mir bekommen." Ich stehle mich an ihm vorbei. Die Lippen ähneln einem schmalen Strich. Irgendwie klinge ich schärfer, als ich es will. „Weißt du was? Gib mir erst 'mal ein paar Stunden, und nachher in der Mittagspause können wir gerne reden."
Ich nehme mir nicht die Zeit, um auf eine Antwort zu warten. Nähere mich der Tür und stoße sie auf. In meinem Rücken spüre ich den skeptischen Blick meines Kollegen. Ich atme tief durch und laut aus, gehe die einzelnen Stufen empor. Die Reinigungskraft hat zu viel Putzmittel verwendet - der stechende Geruch bahnt sich aggressiv in meine Nase, und ich rümpfe sie. Erhöhe das Schritttempo, bis ich mich der nächsten Tür begebe, welche zu dem Stockwerk führt, wo mein Büro liegt.
„Den heutigen Tag werde ich schon irgendwie schaffen", fange ich ein Gespräch mit mir selbst an. Schlüpfe durch den schmalen Spalt. Für den Bruchteil einer Sekunde ist mir die akute Stille völlig fremd vorgekommen. Ich blinzele träge und spähe Richtung anderes Ende des Flurs. Eine kleine Gruppe aus vier Frauen, allesamt in Uniform. Sie reden miteinander, zwei von ihnen händigen sich diverse Unterlagen aus. Jemand trinkt Kaffee; sogleich schaltet sich das Bedürfnis nach diesem Getränk ein. Einen Kaffee? Wie gut, dass ich mir einen Becher vorbereitet habe. Wenigstens dafür ist die Zeit übriggeblieben.
Ich betrete mein Büro. Dicke Luft herrscht. Hinter mir drücke ich sie zu und durchquere das übersichtliche Büro. Trete zu dem Fenster und öffne es halb. Ein kraftloser Windzug zwängt sich durch den Spalt und streicht über mein Gesicht. Viel nützen wird es allerdings nicht; im Laufe des Tages werden die Temperaturen unachtsam nach oben klettern. Ein leiser Seufzer verlässt mich, und ich beginne, die wenigen Habseligkeiten in dem Schrank zu verstauen. Fische das Handy aus der Tasche, ehe ich die Schranktür schließe und mich danach auf dem Stuhl sinken lasse.
Ich sacke etwas in mich zusammen, und ich starre gedankenversunken den schwarzen Bildschirm an. Wenn ich mir einer Sache bewusst bin, dann ist es die, dass der Tag sich förmlich in die Länge ziehen wird. Dass er mir das Gefühl vermitteln wird, niemals zu vergehen. Dass die Sekunden nicht voranschreiten werden. Ich presse die Lippen aufeinander, und schiebe das Handy neben die Blätter, die ich nicht angerührt habe. Ich müsste mich um die auch noch kümmern. Langsam hole ich den kleinen Stapel zu mir und begutachte das erste Stück Papier. Ein Bericht, wenngleich auch ein recht übersichtlicher. Ich soll ihn nun in das System übertragen.
„Sag' mal, sind das alles Berichte?" Ich ziehe die Augenbrauen hoch, schiebe zwei Finger unter mehrere Blätter und hebe sie an. Die vielen Worte springen mir förmlich in das Auge. Ich überfliege sie knapp. „Ja, anscheinend schon. Hm, na super. Dann weiß ich, was ich für die nächste Stunde zu tun habe. Bürokram, welch ein Wunder. Eine wahrhaft sinnvolle Beschäftigung." Ich fahre den Computer hoch. In diesem Moment hege ich den Wunsch, mit Vince einen Kaffee zu trinken. Mit ihm über die vergangenen Themen zu reden oder über den kommenden gemeinsamen Besuch im Gym. Jetzt, wo ich exzessiver darüber nachdenke, erwachen schwache Stiche zum Leben, die mein Herz belästigen.
Der schwarze Bildschirm hat Farbe gewonnen. Ich konzentriere mich nicht darauf, sondern schwelge in den Gedanken. Und wieder gerate ich aus der Realität. Nur für einen kurzen Augenblick. Schnell schüttele ich den Kopf, schiebe den Stuhl nach hinten und strecke mich nach der Schranktür. Ich öffne sie und fische ungeschickt die Tasche von dem Boden. Beinahe wäre ich zu Boden gefallen, hätte ich nicht rechtzeitig das Gewicht in den Stuhl verlagert.
„Aber ich sitze noch. Kaum zu glauben, aber ich sitze noch." Ich zücke den tragbaren Becher hervor und werfe die Tasche zurück in den Schrank. Rolle zu dem Schreibtisch. „So. Jetzt erst einmal der Kaffee. Den brauche ich jetzt sehr." Ich schraube den Deckel ab und setze den Becher an meine Lippen. Das Getränk hat sich in keinster Weise abgekühlt; scheinbare Flammen schlagen gegen die Mundhöhle. Etwas unsanft stelle ich den Becher ab und huste. „Okay, okay. Das war zu heiß." Verziehe den Mund. „Jetzt ist er taub." Mal schürfe ich die Lippen, mal forme ich sie zu einem schmalen Strich. „Lassen wir den noch für 'ne Weile stehen." Ich widme mich der Berichte. „Nun zu euch."
Ich muss einen sonderbaren Eindruck vermitteln. Hock allein in einem Büro, während ich mit mir selbst rede. Warum schaffe ich es nicht, diese Angewohnheit zu unterbinden? Ganz gleich, wie sehr ich mich darum bemühe; ich bin nicht fähig, sie zu unterdrücken. Solange mir niemand Gehör schenkt - ohne, dass ich davon Notiz nehme -, bin ich auf der sicheren Seite. Dann würde ich für keinen Spinner gehalten werden.
Ich beginne, den ersten Bericht in das System zu übertragen. Die Finger schweben über die Tatstatur. Mir kommt es vor, als würden sie es vollkommen mechanisch machen. Der Blick haftet an dem Bildschirm. Das leere Dokument wird nach und nach mit verschiedenen Wörtern bespickt. Ich weiß nicht, wie viele Blätter ich vor mir habe, aber dieser Vorgang wird vermutlich mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.
Genug Zeit für den Kaffee, sich abzukühlen.
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„Na, da hast du ja noch einen ganzen Stapel an Arbeit vor dir", bemerkt Jim erstaunt, nachdem er sich mir gegenüber hingesetzt hat. „Wie viele Blätter sind das überhaupt? Dreißig, oder was?" Er verschränkt die dünnen Arme vor der Brust. Das T - Shirt, ohne jeglichen Aufdruck, liegt locker an seinem Oberkörper. „Wenn du magst, kann ich dir 'was abnehmen. Aktuell muss ich mich mit nichts herumschlagen."
Mittlerweile habe ich festgestellt, dass Jim erst dann kommt, wenn nur noch zehn Minuten uns von der Mittagspause trennen. Ich schaue von dem Bildschirm auf, dann linse ich auf den Stapel. Im Laufe der Stunden ist er gewachsen; Carly, eine junge und schüchterne Frau, die gerade erst aus der Akademie entlassen worden ist, hat mir neue Berichte gebracht. Ich habe erst gar nicht nachgefragt, von wem sie stammen - hätte ich außerdem nicht, denn Carly ist rasch abgezogen.
„Aber hey, ich kriege die Zeit schneller tot als vorher", erwidere ich trocken und nehme eine geschätzte Zahl an Blättern von dem Stapel. „Es ist ätzend. Achtzig Prozent beinhalten den gleichen Mist." Ich überreiche ihm die Papiere. Jim nimmt sie an sich und liest sich die ersten Zeilen durch. „Routineuntersuchungen. Fahrzeugkontrollen. Kleinigkeiten wie Hausfriedensbruch und dergleichen. Aber! Ein paar Sachen sind interessant. Ich habe bis jetzt sieben Fälle gehabt. Ich bin verblüfft, wie gut die Rekruten anstellen. Und das auch noch so schnell. Damit habe ich nicht gerechnet, wenn ich ehrlich bin." Ich speichere meinen bisherigen Schreibprozess ab. „So schlimm ist es außerdem nicht. Klar, der Schreibkram macht keinen Spaß, dennoch gehört er zum Job dazu."
Jim lässt das Blatt sinken und nickt langsam.
„Die einen lernen schnell, die anderen brauchen ihre Zeit, um es zu verstehen." Der Sechsunddreißigjährige rollt die Papiere zu einem Zylinder zusammen. „Ein ganz normaler Prozess." Er erwidert meinen Blick. Ich unternehme den Versuch, das zu deuten, was ich erkenne. Oder zumindest meine zu erkennen. Was mir auch noch aufgefallen ist; seine Augen sind eine Nuance dunkler als meine. Würde kein Sonnenlicht auf die Farbe treffen, könnte ich die Farbe kaum von der Pupille unterscheiden. „Wollen wir wieder ins NIU oder willst du stattdessen ein anderes Diner aufsuchen?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Ehrlich gesagt, ist es mir egal. Wenn du gerne dort hin willst, dann können wir es gerne." Ich greife nach dem Becher. Führe ihn an meine Lippen. „Ich höre schon den Magen knurren. Hab' ziemlich Hunger." Ich genehmige einen Schluck. Behalte den Becher in der Hand. „Weißt du, so langsam fange ich an, dich zu verstehen."
Jim schmunzelt ein wenig.
„Inwiefern? Worauf beziehst du das?", will er wissen, und ich kann Ansätze eines Grinsens erkennen.
„Mit dem Essen", antworte ich, und wir beide lachen für einen Moment los. „Ich könnte glatt zwei Mahlzeiten auf einmal verschlingen."
„Im Gegensatz zu dir muss ich so viel essen." Jim beruhigt sich langsam. Die Belustigung unterstreicht dennoch den Ton in seiner angenehm tiefen Stimme. „Sonst werde ich wieder so klapperdürr." Er erhebt sich. „Wie so'n Skelett, das nur mit Haut überzogen ist. Schön ist etwas anderes."
„Diese Vorstellung hat meinen Appetit gedämpft." Ich tue es ihm gleich. Trete zum Schrank und wühle in meiner Tasche herum. „Ist kein schönes Bild, was ich gerade im Kopf habe." Ich schiebe es in die Hosentasche und sammele das Handy von dem Schreibtisch ein. Behalte die Finger um das Gerät geschlossen. „Übliche Frage. Dein Wagen oder meiner?"
„Darum sage ich es ja; schön ist etwas anderes." Jim lässt mich passieren, ich trete hinaus in den Flur. Er folgt mir. „Da hat es eine Zeit in meinem Leben gegeben, da hat sogar meine Familie mich abstoßend gefunden. Viel zu dürr. Meine eine Tochter hat mir die Frage gestellt, ob ich denn magersüchtig sei. Ich habe es ihr erst einmal vereinfacht erklären müssen, dass das an meiner Erkrankung liegt." Er schaut an sich hinab. „Es hat sich teilweise gebessert, aber nichtsdestotrotz bin ich für mein Alter und für meine physischen Verhältnisse viel zu dünn."
„Die nächsten drei Pizzen gehen auf mich", beschließe ich und grinse. „Dann hast du locker zwei Kilogramm mehr auf den Hüften." Ich spüre, wie die gute Laune sich entfaltet. Die Gelassenheit durch meinen Körper strömt. Das Eingangstor zu den eigenen Gedanken geschlossen wird.
Jim schnaubt.
„Selbst wenn; nach drei Tagen sehe ich wieder wie am Anfang aus." Er hält für mich die Tür offen. Ich schenke ihm ein winziges Lächeln. „Dennoch kann ich dich beruhigen. Wie ganz am Anfang werde ich nicht mehr aussehen. Die Phase ist zum Glück vorbei. Dank einiger Medikamente." Schweigen. Gemeinsam gehen wir die Treppe herunter. „Ach, ja. Deine Frage habe ich fast vergessen. Wir fahren wieder mit meinem Wagen."
„Manchmal beneide ich dich um die Krankheit. So viel essen, wie man will, und dabei kein sichtbares Gramm zunehmen." Ein Nicken meinerseits. „Okay, dann wäre das geklärt." Ich springe die letzten zwei Stufen herunter, schreite zu der Glastür und schiebe die Finger um die Klinke.
„Deswegen muss man mich nicht beneiden. Glaub' mir. Es ist wirklich nicht schön, die ganze Zeit über so dermaßen dünn zu sein. Zumal du dich mit diversen Symptomen herumschlagen musst. Der Sport leidet ebenfalls mächtig unter der Krankheit, nicht zu vergessen." Jim schließt zu mir auf. Zusammen durchqueren wir den vollen Flur.
„Gut ... dann beneide ich dich lieber nicht darum. Gott, nein. Der Sport ist mir sehr heilig." Ich schiebe eine Hand in die Hosentasche. Ertaste das Handy. Die Finger legen sich um dieses.
„Das sieht man", meint der Sechsunddreißigjährige und untermalt mild die ausgesprochenen Worte.
„Wenn man lange genug dabei ist, dann kann man es nicht mehr übersehen." Ein Anflug von Stolz beflügelt den Ton. Ich behalte den Blick zu der Tür gerichtet. Nehme den Fokus von der Umgebung. Höre nicht dem dichten Geflecht aus Gesprächen zu. Ich müsste schon dieses Geflecht anpacken, wenn ich auch nur einen Wortwechsel deutlich verfolgen will.
Wir haben weiterhin über den Sport und über Teile der Krankheit gesprochen. Teile der eigenen Vergangenheit aufgegriffen und sie in das Gespräch mit eingeflossen. Manchmal hat einer von uns sein Gelächter erschallen gelassen. Teilweise haben wir Scherze gerissen. Entweder über die Zeit, wo meine Schwester mir Streiche gespielt hat oder über Jims Bruder, der ihn permanent an den Pranger gestellt hat. Ich habe mich außerdem damit arrangiert, dass mein Kollege kein Befürworter der gleichgeschlechtlichen Liebe ist, auch wenn es mir nach wie vor zusetzt. Aber ich könnte es so oder so nicht ändern. Daher habe ich mich damit abgefunden. Solange er mich nicht persönlich angreift, muss ich nichts unternehmen.
Ehrlich gesagt, ist Jim mir ein wenig mehr ans Herz gewachsen. Und das innerhalb einer so kurzen Zeit. Dennoch, und darauf kann er keinen Einfluss nehmen, kann er Vincent nicht ersetzen.
Ich muss schleunigst dafür sorgen, dass die Wellen zwischen uns nicht mehr das Meer aufwühlen. Die raue Oberfläche soll glatt sein. Ruhig.
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