D Z I E W I Ę T N A S Ć I E
Nachdem wir das Diner betreten haben, haben wir sogleich unseren gewohnten Platz eingenommen. Wieder am Fenster mit den vielen Fliegen, wieder an der kahlen Wand. Wir haben nicht viel Zeit für das Warten aufbringen müssen; eine Bedienung ist binnen weniger Augenblicke zu uns geeilt und hat unsere Bestellungen aufgenommen. Das Übliche. Nun sitzen Vincent und ich in einem recht vollen Diner und hantieren entweder mit der Serviette herum oder drehen das Handy in der Hand umher. Ich bin erneut in die Gedanken abgerutscht. Zurzeit geschieht das bei mir recht oft.
„Hast du heute Abend noch etwas vor?" Vincent hat mich aus der gedanklichen Welt geholt. Ich kneife ein wenig die Augen zusammen und richte den Blick zu ihm. Er hat die Serviette beiseitegelegt und die langen Finger ineinander verschränkt.
„Wollte eigentlich ins Gym", antworte ich langsam und neige etwas den Kopf zur Seite. Die Neugier regt sich schwach in mir. „Gibt es einen Grund, warum du mich fragst?"
Der Blonde übt ein Schulterzucken aus und schaut aus dem Fenster. Dieses Mal bedeckt die Jalousie die Hälfte des Fensters. Einzelne Sonnenstrahlen zwängen sich durch die winzigen Lücken. Die Insekten schwirren unterhalb des Glases herum.
„Interesse, und ich wollte heute auch noch dort hin." Der Dreißigjährige schweigt für einen Moment. „Wir können ja zusammen zum Gym fahren, wenn du magst." Er löst den Blick von dem Fenster und sieht mich an. Klares Blau begegnet einem matten Braun.
„Ich habe nichts dagegen einzuwenden." Ich ziehe das Handy näher zu mir und schalte es an. Benachrichtigungen und Werbung erscheinen. Ich entferne das Zweite und beginne, mir die Handvoll Nachrichten durchzulesen. Einige von meiner Schwester, wenige von Natasha und eine von einem Kollegen. „Von mir aus gern. Wir können gerne beide zum Gym. Was hältst du von sieben Uhr? Dann für zwei Stunden?"
Der Dreißigjährige beobachtet mich. Ich spüre seinen Blick auf mir, dennoch hebe ich nicht den Kopf. Schreibe einfach weiter. Zoë will erfahren, wie ich den heutigen Tag geplant habe. Heute habe ich nicht vor, etwas Spannendes oder Interessantes abzuhalten. Ein ganz gewöhnlicher Tag ohne jegliche Überraschungen. Auch wenn ich ein wenig Widerstand entwickelt habe, müssen solche sein.
„Passt. Ich bin heute bis sechs beim Job. Ich muss heute bei einer Konferenz dabei sein. Was aber nicht bedeutet, dass ich es nicht rechtzeitig zu dir schaffen werde." Vincent verfällt ins Schweigen, nachdem die Bedienung aufgekreuzt ist. Sie balanciert zwei volle Tabletts. „Das linke, das ist meins." Er nimmt den Teller an sich, platziert daneben das volle Glas. „Vielen Dank." Vincent verzieht den Mund zu einem knappen Lächeln, ehe er nach dem Besteck greift und zu essen beginnt.
Ich schiebe das Handy Richtung Tischkante und lasse es anschließend in die Hosentasche gleiten. Ich bleibe still, während die Brünette meine Bestellung vor mir stellt. Sie wechselt ein kurzes Wort mit meinen Kollegen, welche sie vereinzelt zum Lachen bringt. Ich nehme das Besteck und führe die Gabel durch das Essen. Ich bin jedes Mal aufs Neue verblüfft, wie Vincent es schafft, die Menschen in seiner Umgebung zum Lachen zu bringen. Ich schätze, dass das einfach seine Art ist.
Das macht ihn sympathisch, rede ich innerlich und erlaube mir den ersten Bissen. Vincent ist locker und unbeschwert. Und direkt, das muss ich hinzufügen. Warte mal, warum denke ich eigentlich darüber nach? Ich weiß doch, wie er sich verhält. Kleine Falten ziehen sich über der Stirn hinweg. Ich brauche dringend ein Gesprächsthema. Sonst fange ich an, über Dinge nachzudenken, über die man nicht nachzudenken braucht. Ich richte den Blick zu dem Blonden. Die Brünette hat sich mittlerweile von unserem Tisch entfernt und ihn somit alleingelassen. Eine Hand hat er um den Teller geschoben, mit der anderen hält er die Gabel umschlossen Jetzt muss ich nur noch überlegen, worüber man reden kann. Verdammt, ist das kompliziert. Wer hätte gedacht, dass das schwer ist?
„Und schon wieder haben wir kein passendes Gesprächsthema", forme ich meinen Gedankengang um und kaue auf dem Salat herum. Schlucke ihn herunter. „Das ist auch jedes Mal das Gleiche, wenn wir hier sitzen und essen."
Also besser hätte ich es nicht machen können. Ich erwidere seinen Blick. Was für ein Anfang für ein Gespräch. Ich kann mir getrost auf die Schulter klopfen. Selbstverständlich gehe ich diesem nicht nach.
„Stimmt, jetzt wo du das erwähnst, ist es mir ebenfalls aufgefallen." Vincent dreht die Gabel herum. „Denkst du, Seth ist schon zu dem Nervenbündel gefahren?"
„Ich würde schon sagen, ja. Als ich ihm Bescheid gegeben habe, hat es für mich geklungen, als würde er sich für eine Streife bereitmachen." Ein Räuspern kommt von mir. „Mich würde es nicht überraschen, wenn er danach angespannt und kurz vorm Platzen ist. Ich muss ehrlich sagen; die Kinder, die in diesem Wohnblock leben, haben mein Beileid." Der nächste Happen folgt. „Ich kann solche Reaktionen nicht nachvollziehen. Ich meine, es sind Jugendliche. Die sind immer etwas ... spezieller als die älteren Menschen. Das ist vollkommen normal."
Der Dreißigjährige setzt sich etwas auf und bringt ein langsames Nicken zustande.
„Ja, die tun mir auch leid", erwidert er und schaut sich für einen Augenblick um. „Aber na ja, irgendwie muss man sich damit arrangieren. Ach, das passt sogar gerade. Mein Bruder hat eine Tochter, die ist, warte kurz, ich muss überlegen." Seine Miene verändert sich.
Ich gebe ein leises Gelächter von mir und sehe Vincent amüsiert an.
„Du weißt wirklich nicht, wie alt deine Nichte ist?", frage ich erstaunt, untermale die Frage mit einem Grinsen. „Gott, Vincent. Das schaffe sogar ich nicht." Ich schüttele sachte den Kopf und widme mich dem Essen.
„Mensch, ich weiß das jetzt. Sie ist dreizehn", hängt er die Antwort rasch dazu, und seine Lippen geben ein kurzes Murren preis. „Dreizehn. Also, um noch einmal zurückzukommen; mein Bruder hat mir vor zwei Tagen geschrieben, dass er kommende Woche mit seiner Frau nach Österreich oder so fliegen will, aber Elisa nicht mitnehmen wollen." Ich hebe die Augenbrauen, wirke überrascht. Vincent nimmt es wahr, grinst ein wenig los. „Ja, die haben ein Hotel gebucht, das eine gewisse Altersbeschränkung hat. Kinder können da erst mit sechzehn 'rein."
„Wie nett", merke ich lieblos an und kratze die Reste, welche noch im Teller haften, zusammen. „Fahr' in den Urlaub und nimm dein eigenes Kind nicht mit. Genau solche Eltern wünsche ich mir."
„Du, Elisa findet das nicht schlimm. Sie hat sich sogar gefreut, und das hat mich echt überrascht. Ich an ihrer Stelle hätte sofort protestiert bis zum Umfallen. Aber nein, sie nicht. So, dann hat Nathan mich gefragt, ob Elisa denn bei mir übernachten kann. Eben für acht Tage."
„Und du hast natürlich mit Ja genantwortet, oder?" Die wenigen Überreste hängen auf den Zähnen der Gabel, und ich führe sie zu meinem Mund.
„Na, was denn sonst? Ich kann es schlecht ablehnen." Der Blonde nimmt einen Bissen zu sich und ergänzt etwas undeutlich: „Denkst du, ich lasse Elisa bei meinen Eltern zurück? Zur Hölle, niemals. Die sind die Definition von Spießer und entsprechen dem typischen Klischee von alten Leuten. Sie würde dort nach wenigen Minuten zugrunde gehen. Das tue ich ihr nicht an."
Ich kann kein Gelächter verbergen. Aber ich bemühe mich, es in einer angemessenen Lautstärke zu halten. Schließlich will ich nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregen.
„Nett. Ziemlich nett. Hmm, gut. Ich kann es nicht bestätigen. Ich habe deine Eltern noch nie gesehen. Ich weiß von meinen, dass sie ziemlich locker an Dinge herangehen." Ich lege das Besteck in den Teller und schiebe ihn ein wenig von mir. Hole stattdessen das kühle Glas heran. „Und du willst deine Nichte für acht Tage bei dir behalten? Das hast du dir auch gut überlegt? Du musst immerhin lange arbeiten und nächste Woche ist die Nachtschicht am Start."
Vincent blickt mich unverwandt an und rührt für die kommenden Augenblicke seinen Teller nicht an.
„Natürlich", antwortet er, Ruhe unterstreicht den Ton in seiner Stimme. „Ich weiß, wie ich mit ihr umzugehen habe, zumal Elisa mich ziemlich mag. Außerdem hat sie nächste Woche noch Schule, bevor sie in die Ferien geht. Wenn sie in der Schule ist, muss ich mich nicht um sie kümmern. Und wenn ich dann zur Arbeit muss, schläft sie bereits. Ich würde mal sagen; die acht Tage werde ich locker bewältigen." Zufriedenheit sticht deutlich hörbar aus seiner Stimme hervor.
„Das werden wir sehen." Ein belustigter Laut verlässt meine Lippen. „Wenn du mit einem genervten Gesicht zur Arbeit kommen wirst, werde ich dich damit aufziehen. Darauf kannst du dich verlassen." Die Finger schließen sich um das Glas. Eine schwache Kälte kratzt an der Haut. „Acht Tage mit einem Kind. Ich würde mir nach einem Tag die Kugel geben."
Der Blonde schiebt sein Glas umher oder fährt mit den Fingerkuppen über die beschlagene Oberfläche. Ich linse in meins, starre die Eiswürfel an, welche an der Oberfläche des Getränks umher schaukeln.
„Du hast kein Durchhaltevermögen, was so etwas angeht", meint Vincent und lässt etwas die schmalen Augenbrauen in die Höhe gleiten. „Probiere das ein Mal aus, und du wirst sehen; so schlimm beziehungsweise anstrengend ist das nicht."
Ich schaue Vincent ohne irgendwelche Emotionen an.
„Ich bin nicht der Typ für Kinder oder Jugendliche. Ehrlich, ich bin da raus. Die sind für mich allesamt anstrengend. Ich habe keinerlei Ahnung, wie ich mit ihnen umgehen soll, und wenn die nach ihrem Kopf gehen, falle ich schnell aus der Fassung. Nein, danke. Ich verzichte. Das muss und werde ich mir nicht antun."
Es genügt mir, wenn ich die ganzen Kinder in der Nachbarschaft habe. Die sind alle anstrengend und teilweise nervtötend. Vor allem am Wochenende, dort ist es besonders schlimm. Ich verziehe den Mund, als die Erinnerungen mich zu diesen Tagen führen. Von morgens bis abends nur das Geschrei. Es ist ein Wunder, dass ich hier sitze und meinen klaren Verstand besitze.
Vincent lacht zaghaft und sieht mich an, bevor er spricht: „Jedem das seine. Für mich sind sie erträglich, und ich weiß, was ich mit ihnen machen muss. Hey, wenn sie dich mögen, werden sie nach deiner Nase tanzen."
„Ich kann dazu nichts sagen." Ich hebe das Glas an und kippe mir einige Schlucke herunter. „Was ist jetzt mit Elisa? Tickt sie genauso wie die Jugendlichen in diesem Wohnblock? Bestimmt, die denken doch so oder so alle gleich." Die Finger legen sich fester um das Glas.
„Verallgemeinere nicht alles." Mein Kollege fährt die runde Form des Glases mit den Fingerspitzen nach. „Die haben schon unterschiedliche Denkweisen und Ansätze. Elisa immerhin auch. Nee, ich wollte eigentlich sagen, dass sie zurzeit in einer speziellen Phase steckt. Wenn sie Musik hört, dann so, dass alle es hören. Volle Lautstärke, scheißegal, was die anderen von dir denken. Hauptsache laut und nicht ruhig."
„Siehst du? Ein weiterer Grund, warum ich mich niemals mit Kindern auseinandersetzen werde. Die sind viel zu anstrengend." Die nächsten Züge passieren, und ich stelle das Glas mit Nachdruck auf dem Tisch ab. „Wie stehst du so etwas durch? Hast du mittlerweile Nerven aus Stahl?"
Er verneint meine Frage mit einem Kopfschütteln.
„Die habe ich nicht", antwortet er, stimmt einen nachdenklichen Ton an. „Ich weiß das selbst nicht genau. Ich schätze aber, dass das daran liegt, dass ich mit solchen Dingern ziemlich entspannt umgehe. Ich toleriere laute Musik; ich war selbst nicht besser, als ich ein bisschen jünger war."
Wir beide lachen für wenige Momente los, bevor wir uns besinnen.
„Was die älteren Leute nicht können", füge ich hinzu und leere das Glas. „Ich denke, der logische Grund hierfür ist der Unterschied der Generationen. Du gehörst noch zur jungen, darum siehst du die Dinge anders."
Ein Schulterzucken von Vincent.
„Das kann gut möglich sein", meint er und tut es mir im Folgenden gleich. „Was die älteren nicht ausstehen können, mögen wiederrum die jüngeren. Ein lustiger Gegensatz." Der Blonde schiebt das leere Glas von sich. „Du, ich wäre fertig. Du wohl auch." Er blickt mir in die Augen. „Willst du hier sitzen bleiben oder wollen wir so langsam zurück?"
„Der Wandel der Zeit, ganz einfach." Ich überlege. „An sich will ich hier noch gerne sitzen, weil es draußen bestimmt unerträglich heiß ist. Aber ich weiß nicht, wie lange Zeit wir haben." Ich löse nicht den Blick von meinem Kollegen, welche nun auf die Armbanduhr schaut. „Und? Was sagt die Uhr?"
„Die Frage hätte jetzt Platz für einen echt sinnlosen Spruch gemacht." Vincent lässt den Arm sinken. „Knapp achtundzwanzig Minuten haben wir noch. Zehn brauchen wir, um zurückzugehen. Ich denke, wir können in zehn Minuten los."
„Geht klar." Ich lehne mich zurück und wische die wenigen Schweißperlen von meinem Nacken. Schüttele ein wenig die Hand. „Eine kleine Pause kann ich gerade gut gebrauchen." Ich schließe halb die Augen und blende etwas die Geräuschkulisse aus, welche sich in dem Diner abspielt. Ein Geflecht aus verschiedenen Gesprächen, das Klappern und Klirren von Besteck und Geschirr. Der beißende Geruch nach getrocknetem Schweiß. All das umgibt mich, und wenn ich ehrlich bin, empfinde ich Wohlbefinden.
„Ich auch." Der Dreißigjährige lässt sich zurückfallen und spielt an der Uhr herum. Es kommen keine weiteren Worte. Stille breitet sich zwischen uns aus. Allerdings ist es kein betretendes Schweigen, eher ein angenehmes. Selbst in meinem Kopf herrscht eine wohlige Ruhe. Keine Gedanken sausen umher, keine Erinnerungen sind aufgetaucht. Nichts weiter als eine warme Schwärze.
Ich habe es doch gesagt. Kein Tag ist wie der andere. Jeder unterscheidet sich von anderen Tagen. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich es geschafft, alle Geräusche zu überhören. Hey, ich habe es tatsächlich auf die Reihe bekommen, ein Gespräch mit Vincent zu führen. Zwar über ein Thema, worüber man nicht oft redet, aber immerhin. Ich bin ziemlich gut. Ich schmunzele über meine eigenen Worte. Und heute Abend geht es mit Vince ins Gym. Dieser Tag wird sich mit Sicherheit auszahlen.
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