D W A D Z I E Ś C I A P I Ę Ć
„Man merkt deutlich, dass du zu kurz geschlafen hast", spricht meine Schwester, während ich ihr mit dem Abräumen helfe. „Du bist schlecht gelaunt und siehst aus, als würdest du gleich nach vorne auf den Boden fallen."
Ich schaue den leeren Tisch an, mustere ab und zu die Krümel, welche wir vergessen haben, zu entfernen. Ich trete näher heran und schnipse sie herunter. Sie segeln allesamt zu Boden, bis sie schließlich auf dem glatten Boden liegen.
„Das stimmt auch", murmele ich und gehe von der Vierundzwanzigjährigen weg. Kurz bevor ich das Wohnzimmer verlasse, sehe ich über die Schulter. Ich stelle fest, dass sie mir nachgesehen hat. „Ich habe Bedenken, dass ich den heutigen Tag ganz gut durchstehen werde. Ich denke, ich sollte aufpassen. Nicht, dass ich jemanden unabsichtlich anfahre, weil ich keine Nerven mehr habe." Ich schaue weg und lasse anschließend das Wohnzimmer hinter mir. Dass Zoë etwas erwidert hat, interessiert mich nicht. Ich habe nicht zugehört. Wie immer. Ich gehe die Treppe hoch, steuere das Badezimmer an und betrete es.
„Vielleicht wird etwas kaltes Wasser helfen", spreche ich leise und trete zu dem Waschbecken. Eine kühle Brise schwebt durch das Bad, und ich richte den Blick zu dem Fenster. Meine Schwester muss es wohl vor etlichen Minuten geöffnet haben. „Zumindest ist es nicht so heiß. Das hätte echt noch gefehlt." Ich fokussiere mich auf das eigene Spiegelbild. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mit jedem neuen Tag schlimmer aussehe. Kaum zu glauben, dass so etwas möglich ist." Ein Seufzer entfährt mir, und ich betrachte mein Gesicht. „Nein, dazu muss man wirklich nichts mehr sagen." Die blaue Farbe in den Augen wirkt stumpf, kein Leuchten geht von ihr aus. Dunkle Augenringe zeichnen sich ab, und die untere Lippe ist an einer Stelle aufgerissen. „Muss man nicht."
Ich nehme den Blick von mir, drehe den Wasserhahn auf und spritze mir kaltes Wasser in das Gesicht. Ein sanfter Schauder überkommt mich, welchen ich ignoriere. Ich wische einige Tropfen hinfort und stelle das gleichmäßige Rauschen ein.
„Ich hoffe sehr, dass mich niemand nervt. Jedenfalls nicht so extrem. Heute sind meine Nerven sehr, sehr angespannt. Scheiß Schlaf, scheiß Nacht. Verdammt." Ich drücke die Lippen aufeinander und stemme die Hände auf den Rändern des Waschbeckens. „Na ja, irgendwie werde ich das durchstehen. Das muss ich auch, mir bleibt so oder so nichts anderes übrig." Ich löse die kommenden Worte in Luft auf und raffe mich auf. Vielleicht muss ich mir nur einige Dinge einreden, damit der Ablauf ein wenig reibungslos verläuft. Vielleicht sollte ich dies wirklich tun. Schließlich nützt es etwas, auch wenn es selten ist.
-
Nachdem ich mich aufgefrischt habe, habe ich nicht länger überlegt und bin aus dem Haus gegangen. Ich habe vorher meiner Schwester einen Abschied zugerufen. Sie hat ihn wahrgenommen, aber nichts erwidert. Wahrscheinlich ist sie mit ihrer Kosmetik beschäftigt gewesen. Das habe ich als Möglichkeit in Betracht gezogen.
Ich habe meinen kleinen Wagen angesteuert, ihn aufgesperrt, die Tasche auf die Rückbank befördert und mich danach an das Steuer gesetzt. Was die Uhr sagt, kann ich momentan nicht sagen, aber ich denke, dass ich mich etwas in Eile setzen sollte. Dem werde ich nachgehen.
Für einen Augenblick hustet der Motor, und ich bekomme für den Bruchteil einer Sekunde einen Anflug der Panik, welcher sich schnell verzieht, nachdem das Husten in ein Brummen übergegangen ist. Ein erleichterter Laut verlässt mich, und ich baue nach und nach das Tempo auf, um aus der Einfahrt zu rollen.
„Und ich habe doch tatsächlich gedacht, du alte Kiste würdest schon wieder den Geist aufgeben. Schön, dass du es schaffst, durchzuhalten." Ich fahre mit dem Zeigefinger über das Steuerrad und werfe einen flüchtigen Blick in beide Richtungen, ehe ich auf die Straße fahre. Heute spielt das Glück mit mir. Keine Schulkinder befinden sich auf dem Gehweg, und ich kann nirgends den Schulbus erkennen. „Freie Fahrt, also." Ich stelle fest, wie die Zufriedenheit mich übermannt. „Lustig, jetzt fühle ich mich etwas besser. Na hoffentlich wird dieser Zustand den ganzen Tag über anhalten." Ich lasse die Umgebung an mich vorbeiziehen, fokussiere mich einzig und allein auf die übersichtliche Straße. Gelegentlich treffe ich einen anderen Fahrer an, ansonsten liegt mein Wohnviertel erstaunlicherweise ruhig da. „Wollen wir wetten? Wenn ich mich der Innenstadt nähere, wird der Verkehr sich verschlimmern?"
Ich löse eine Hand von dem Steuerrad und hole das Handy aus der Ablage. Ich bin mir bewusst, dass es nicht gerne angesehen wird, wenn man mit dem Gerät während des Fahrens hantiert, aber ich habe einen guten Grund. Schwache Falten ziehen sich über der Stirn hinweg, ab und zu schaue ich auf, um die Straße im Auge zu behalten.
„Unbekannte Nummer? Okay?" Ich schiebe das Handy in die Halterung, ein Zögern stoppt das kommende Vorgehen. Sollte ich zurückrufen? An sich spricht nichts dagegen. Dennoch hege ich Skepsis. „Ach, sei's drum. Einfach riskieren." Ich tippe die Nummer an und stelle im Anschluss das Radio ab.
Es erklingt ein regelmäßiges Tuten. Ich schließe die freie Hand um das Lenkrad und stoße einen scharfen Laut aus, als sich die erste Schlange gebildet hat. Sogleich lasse ich das Tempo abfallen und steuere die erste Kreuzung an.
„Ich dachte schon, du würdest mich nicht mehr zurückrufen." Das Tuten hat aufgehört, eine melodische Stimme ertönt stattdessen. Es bedarf einige Sekunden, um zu registrieren, wer gerade spricht. Und wer meine Nummer herausgefunden hat. „Oder gedacht, dass Vince mir die Nummer falsch aufgesagt hat."
Das kann doch nicht wahr sein, denke ich ein wenig verbissen und umklammere das Steuerrad so sehr, sodass die Knöchel sich sichtbar unter der Haut abzeichnen. Wie kann das möglich sein? Ich muss mich in einem miesen Traum befinden. Das kann nur die einzig logische Erklärung sein. Die rote Farbe wechselt nicht zu Grün. Ich starre das Display an, direkt zu der Telefonnummer. Es will nicht durch mich dringen. Entweder stellt sich etwas quer oder ich tue das. Oder jemand spielt mir einen üblen Scherz.
„Du kannst ruhig etwas sagen, ich weiß, dass du noch unterwegs bist." Stimmt sie absichtlich diesen provokanten Ton an oder habe ich ihn mir eingebildet? In diesem Augenblick kann ich keine klaren Gedanken erfassen. Mir steht die Verblüffung deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich kneife die Augen zusammen und habe es beinahe geschafft, den weißen Transporter mit der Stoßstange zu berühren, als ich das Gaspedal betätigt habe.
„Verdammt", entfährt es mir, die Schärfe hat die Verblüffung verdrängt. „Warum zur Hölle hat Vincent dir meine Telefonnummer gegeben? Und wieso hast du mich angerufen?" Es sind wahrscheinlich nicht die besten Fragen, aber ich will ungern die ganze Fahrt über wortkarg bleiben.
Cessy gibt einen belustigten Laut von sich. Ich presse die Lippen zusammen und bohre die Fingernägel in das weiche Leder. Automatisch bemühe ich mich um das innere Gelichgewicht, das etwas schwankt.
„Weil ich ihn gefragt habe", antwortet sie und verbirgt nicht einmal den amüsierten Ton. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und nehme unbewusst eine Anspannung an. „Da ich heute zu meinem Zweitjob muss, hat sich das gut angeboten. Das Department liegt nämlich auf meinem Weg." Eine Türklingel nimmt die folgenden Worte weg. Ich schweige und lausche dem raschen Wortwechsel zwischen Cessy und einem Mann. Ich biege in die nächste Straße, kann endlich die ersten Umrisse der Skyline erkennen. „Sorry, das war gerade wichtig." Ein kurzes Knacken hat meine Aufmerksamkeit zu der Blondine gerichtet.
Ich komme immer noch nicht ganz darauf klar. Das sieht man mir bestimmt an. Ich wechsele die Spur, werfe einen flüchtigen Blick aus dem Seitenfenster, um zu dem Linienbus zu schauen. Das ist das Letzte, was ich erwartet habe. Ich habe nie und nimmer erwartet, dass sie mich anrufen würde. Und das von sich aus. Die nächste Ampel kommt in Sicht. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
„Zweitjob?" Das Einzige, was ich zustande bringen kann. Für mehr Worte reicht es nicht aus. Irgendein Rascheln füllt die Leitung aus, es folgt ein dumpfes Geräusch. Ab und zu Schritte. Viele Fragen brennen auf der Zunge. Ich will sie am liebsten stellen, aber irgendetwas hindert mich daran.
„Zweitjob", antwortet Cessy wie selbstverständlich und stellt das Rascheln ein. „Als Stripperin verdient man nicht so viel, musst du wissen. Das Gehalt reicht zwar für mein Apartment aus, aber nicht für die ganzen Rechnungen und Lebensmittel und was weiß ich." Sie klingt ein wenig undeutlicher, und ich muss genauer hinhören, um sie verstehen zu können. „Ich arbeite tagsüber in einem kleinen Shop. Befindet sich beim Lummus Park, wenn du es wissen willst. So gesehen in deiner Nähe."
Kurz bin ich der Versuchung zum Opfer gefallen. Ich bin kurz davor gewesen, eine scharfe Kehrtwende auf der Straße zu vollführen, umzudrehen, um zu Cessy zu fahren. Aber ich habe mich schnell von ihr entfernt und die Gedanken vertrieben.
Ich rede nicht, bleibe stumm, schaue starr das schwarze Fahrzeug vor mir an. Dieser Tag hat einen vollkommen verrückten Start hinter sich, soviel steht fest. Ich will lachen, irrelevant, ob es echt oder gespielt ist. Hauptsache lachen. Aber ich kann es nicht. Ich bin dazu nicht fähig. Cessy hat mich mit ihrem plötzlichen Anruf aus der Bahn geworfen.
„Bevor ich auflege, will ich dir gerne eine kleine Frage stellen." Sie wartet nicht auf meine Antwort. Ich fahre still weiter. Überquere die breite Kreuzung. Jeder ist drauf und dran, den Arbeitsplatz zu erreichen. Überall herrscht Bewegung, ich wage zu behaupten, dass die meisten, die unterwegs sind, Hektik verbreiten. „Wirst du nach Dienstschluss zu mir ins Red Roses kommen? Ich habe nämlich eine besondere Überraschung für dich."
Ich werde hellhörig. Ihre Worte haben den Herzschlag bestimmt, welcher nun schneller ist. Eine Überraschung also. Ich sehe zu dem Handy, jongliere mit allerlei Vermutungen. Was hat sie für mich geplant? Was will sie mit mir machen? Fragen purzeln über neue Fragen, nicht mehr lange, und ein großer Berg bleibt zurück.
„Was für eine Überraschung?", frage ich, jedoch weiß ich, dass Cessy mir keine Antwort schenken wird.
„Das wirst du sehen, wenn du heute Abend ins Red Roses kommst", erwidert die Vierundzwanzigjährige, und erneut erschallen Schritte. „Wenn ich es dir nämlich jetzt schon sage, wird es keine Überraschung sein."
„Auch wieder wahr", murmele ich kaum hörbar und wiege die Entscheidungen ab. Soll ich bejahen oder ablehnen? Was ist besser? An sich ist nichts besser, beide Seiten wollen mich. Die Mundwinkel zucken, und ich nage an der unteren Lippe. Ein tiefer Atemzug folgt. Sekunden der Stille verstreichen. Die Vierundzwanzigjährige wartet geduldig.
Ich sollte hingehen, rede ich mit mir selbst und steuere die nächste Straße an. Die muss ich durchqueren, dann habe ich das Department erreicht. Ich sollte es einfach tun. Die Neugier beeinflusst mich. Ja, doch. Ich werde es tun.
„Ich werde kommen", spreche ich den Gedanken aus und bin von mir selbst überrascht. Der Ton zeugt nicht von Unruhe, von Schärfe. Nichts. „Gleich nach Dienstschluss. Vince werde ich dieses Mal nicht mitnehmen."
Sie hat für mich eine Überraschung vorbereitet. Eine Gänsehaut entsteht, und ich schüttele mich ein wenig. Die kann alles bedeuten. Ich habe immer noch diese vielen schier unzähligen Bilder in meinem Kopf. Sie werden sich nicht mehr verziehen. Werden mich den ganzen Tag über beschäftigen.
„Das ist vollkommen in Ordnung." Da ist dieser markante Ton. Sogleich schlittern viele Bilder in meinen Kopf. Die schnelle Nummer von gestern. Ich bohre die Zähne tiefer in die Lippe, sodass sich der Geschmack von Blut in der Mundhöhle ausbreitet. „Gut, dann werden wir uns heute Abend sehen." Der Ton sticht noch deutlicher hervor. „Ich freue mich schon auf dich, Valary." Dann legt sie auf. Es tutet nun. Ich hasse dieses Geräusch. Ich tippe auf den roten Hörer, habe gar nicht bemerkt, wie sehr ich das Steuerrad umklammert habe.
Ich kann nicht klar denken, ich kann nichts sagen. Ich sitze wortlos da und fahre. Heute Abend werde ich mich zu dem Red Roses begeben, um meine Überraschung in Empfang zu nehmen. Dieses Mal ohne meinen Kollegen. Ich ignoriere den kupfernen Geschmack, welcher stärker geworden ist.
Heute Abend.
Ich werde mich nicht auf die Arbeit konzentrieren können, das kann ich jetzt schon sagen. Ich werde angespannt sein. Die Geduld wird schrumpfen, die Nerven werden kurz vor dem absoluten Riss stehen. Wie ich den heutigen Tag überstehen soll, ja. Ich habe selbst keine Vorstellungen. Keine Ideen. Keine Ansätze.
Einfach nichts.
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