C Z T E R D Z I E Ś C I O S I E M
„Tada, ich bin fertig." Ich erscheine im Wohnzimmer und schreite zu der Couch. Meine Schwester liegt halb versunken auf der linken Seite, etwas in die halbgefaltete Decke eingemummelt. Ihre grasgrünen Augen sind offen und fixieren mich, als ich mich auf die Couch niederlasse. „Ich habe mal den Kleiderschrank genauer durchgewühlt. Lassen wir mal das halb entstandene Chaos außer Acht." Mein Rücken berührt die Lehne, und ich lege die Füße auf den Tisch. Betrachte meine Beine, während ich hinzufüge: „Ja. Also. Ja."
Mir sind irgendwie die Worte ausgegangen. Ich habe keine Idee, wie ich das Thema anschneiden soll. Soll ich direkt mit der Tür in das Haus fallen? Falten entstehen auf der Stirn. Eigentlich könnte ich dies tun, schließlich kennt Zoë das aktuelle Problem.
„Dieses Shirt sieht an dir verdammt scheiße aus", erlaubt sich die Blondine die Bemerkung und schenkt mir einen prüfenden Blick. Ich starre sie an. „Total verblichen und ausgeleiert. Das sieht aus, als hättest du es aus der Altkleidersammlung gekramt." Ein kurzes Grinsen huscht über ihr Gesicht, nachdem sie meine murrende Geste registriert hat. „Was denn? Das stimmt doch." Sie wehrt das Kissen ab, das ich nach ihr geworfen habe. „Jaja, du mich auch, du Sack."
„Mann, halt' doch deine blöde Klappe", brumme ich und presse das Kissen an mich, nachdem Zoë es zurückkatapultiert hat. „Das Shirt ist toll. Nichts gegen das Shirt, klar? Das ist noch eins aus meiner Anfangszeit bei der Polizei." Ich streiche über das weiche Material des Kissens. Übe gelegentlich ein leichtes Zupfen aus.
Die Vierundzwanzigjährige lacht für einen Moment los und schiebt die Decke von sich. Sie setzt sich mehr auf und hört mit dem Gelächter auf. Ernsthaftigkeit zeichnet ihre Miene aus. Der Ton in der hellen Stimme ordnet sich dementsprechend unter.
„Seit wann ist er so?", will sie erfahren und wendet sich mir zu. „Weißt du was? Das kann doch erst seit einer kurzen Weile so sein, oder? Vorher ist er nämlich ziemlich normal gewesen." Sie zieht die Stirn kraus. „Normal für seine Verhältnisse. Locker, unbeschwert und vor allem nicht so leicht reizbar." Ein Seufzer entweicht Zoë. „Und dann ist er von Null auf Hundert anders."
Würde ich eine Antwort parat haben, hätte ich sie dir schon längst offenbart, spreche ich in Gedanken. Die Mundwinkel zucken, und ich spitze die Lippen. Setze eine ratlose Miene auf. Aber leider habe ich keine. Ich würde es selbst gerne wissen wollen. Aber na ja. Stille breitet sich zwischen uns. Das leise Ticken der Uhr, welche neben der Tür befestigt ist, scheint viel lauter zu sein als vorher. Draußen ziehen verschiedene Fahrzeuge vorbei. Mein Blick haftet an dem Tisch. Oder ... Eigentlich habe ich schon eine gewisse Richtung. Ich weiß nicht. Sie klingt vollkommen verrückt. Ziemlich unglaubwürdig. Es brennt mir auf der Zunge. Der Gedanke will ausgesprochen werden. Aber ich zügele mich sehr. Er klingt absurd – ihn aussprechen werde ich nicht, auch wenn in mir alles danach verlangt.
„Ja, seit einigen Tagen", beantworte ich ihre Frage und bohre die Zähne ein wenig in die untere Lippe. „Seit ... warte, lass' mich überlegen." Es fällt mir schwer. Lange kann ich mich nicht beherrschen. Der Gedanke wird unnachgiebiger. Es brennt mir immer heißer auf der Zunge. „Ich habe eine ungefähre Vorstellung. Aber, ganz ehrlich. Das klingt total bescheuert." Ich erwidere den Blick von meiner Schwester. Mir fällt erst jetzt auf, dass sie ihre Haare zu einem kleinen Zopf zusammengebunden hat.
„Du, ich kann das ganz schlecht beurteilen", meint sie, und ihr Blick wird eindringlicher. „Nun sag' es doch einfach und mach' aus der Sache kein großes Geheimnis."
Ich hadere mit der Entscheidung. Warum? Nun, ich besitze selbst keinen klaren Grund. Vielleicht liegt es daran, dass der Gedanke verrückt klingt. Ich lege die Hände um das Kissen und knete es etwas durch. Mal mit mehr Druck, dann wieder mit einem schwachen. Sieht man mir an, dass in mir kleine Wellen unruhig schäumen? Möglicherweise. Ich kann die ruhige Fassade nicht mehr ganz aufrechterhalten.
„Hm. Aber ich habe dich gewarnt." Ich breche schlussendlich heraus. „Er ist so launisch, seit Cessy bei ihm aufgetaucht ist, um meine Telefonnummer zu bekommen. Das ist, ich kann mich auch irren, drei oder vier Tage her." Ein verächtlicher Laut erklingt. „Als ob da irgendein Zusammenhang besteht. Das klingt komplett bescheuert." Ich werfe der Blondine einen flüchtigen Blick zu. „Oder glaubst du daran?"
Ich lehne es entschieden ab. Weshalb sollte er nur wegen Cessy diese Launen angenommen haben? Kein klarer Grund will sich mir entschließen. Ich bleibe dabei, denke ich und nehme das Handy in die Hand, welches ich auf das Kissen gelegt habe. Aber ... ich könnte ihn dennoch darauf ansprechen. Nur so, um sicherzugehen, dass tatsächlich kein Zusammenhang besteht. Ich begegne dem Blick meines Spiegelbilds, als ich mich im Display betrachte. Cessy hat mit Vincent überhaupt nichts zu tun. Darum glaube ich nicht daran. Was soll da auch schon für ein Zusammenhang herrschen? Ein ablehnender Laut entweicht mir. Nämlich gar keinen. Ganz einfach.
„So seltsam ist das Ganze nicht", sagt Zoë zu meiner Überraschung und stimmt einen mäßigen Ton an. „Klar, es klingt bescheuert, da gebe ich dir recht, aber wenn ich länger darüber nachdenke, könnte ... dabei schon ein gewisser Zusammenhang bestehen." Die folgenden Worte gehen in einem Gähnen unter, und meine Schwester schiebt sich von der Couch. „Weißt du was? Ich schaffe es nicht mehr, länger die Augen offenzuhalten. Ich merke, wie ich halb einschlafe." Sie reibt sich den anfänglichen Schlaf aus den Augen. „Ich gehe jetzt schlafen."
Sie hält an dem Gedanken fest. Ich kann mich nicht ganz damit abfinden. Mir bleiben die Worte aus. Schweigend sehe ich Zoë nach, wie sie das Wohnzimmer verlässt. Langsam und mit schlurfenden Schritten. Dann bin ich alleine. Ich sehe wieder zu dem ausgeschalteten Fernseher. Mustere die schwarze Fläche, nehme meine schemenhafte Gestalt wahr. Ich könnte mich ebenfalls erheben und schlafen gehen. Mein Körper verlangt danach – ich bestehe mehr aus Blei als aus Fleisch und Blut. Ich bleibe auf der Couch liegen.
Ich kann ihn darauf ansprechen. Was spricht schon dagegen? Vielleicht kriege ich endlich den Anlass für den Wechsel heraus. Das Handy landet mit einem kleinen Bogen auf dem Tisch. Schlittert ein wenig über die Oberfläche, ehe es bei der Glasflasche zum Erliegen kommt. Ich schiebe mich längs auf die Couch und lasse den Kopf auf die Seitenlehne sinken. Vielleicht. Das heißt, wenn er mich nicht ein zweites Mal abweist. Ich tauche in die Dunkelheit ab. Schere mich nicht darum, dass ich vergessen habe, das Licht zu löschen.
Mein Körper schafft es relativ schnell, Ruhe zu finden. Das Blei wird aus mir entfernt, eine angenehme Schwere überfällt mich und füllt schließlich jeden Zentimeter des Körpers aus. Ich lege die Arme verschränkt auf meinen Bauch. Es scheint, dass ich eine Nacht auf der Couch verbringen müsste. Aber das stört mich minder. Es ziehen nur wenige Minuten an mir vorbei. Blende vollständig die Gedanken aus und lasse nicht zu, dass sie meinen Schlaf beeinflussen. Ich werfe die letzten Reste der Anspannung von mir. Leichter und deutlich ruhiger schlafe ich schlussendlich ein.
Ohne einen weiteren Gedanken.
Ohne den Tag Revue passieren zu lassen.
-
Ich weiß nicht, wie spät es ist. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich nicht einmal die Ahnung besessen, welcher Tag oder welches Jahr heute ist. Ich schlage die Augen auf und starre die Decke an. Sonnenstrahlen durchfluten die Wohnung, und von irgendwoher ertönt das liebliche Lied eines Vogels. Ich bin von alleine aus dem Schlaf gerutscht. Langsam richte ich mich auf und stoße ein herzhaftes Gähnen aus. Hebe die Arme empor und verschaffe meinem Körper eine mäßige Lockerung. Die Knochen ächzen leise, und ich entferne den Schlaf aus meinen Augen. Die vorher aufrechte Haltung sackt leicht in sich zusammen, als ich die Arme sinken lasse und aus dem Fenster spähe. Ich habe ganz vergessen, dass ich die Nacht im Wohnzimmer verbracht habe.
Die beiden großen Fenster sind halb geöffnet. Vereinzelt streicht ein schwacher Wind durch die schweren Gardinen und veranlasst sie höchstens zum Zittern. Sonnenstrahlen zwängen sich durch die Lücken und wandern in das Wohnzimmer.
Okay. Heute ist Montag, ist das Erste, was mir durch den Kopf geht, nachdem ich aufgestanden bin und die Kleidung zurechtgerückt habe. Ein verdammter Montag. Ein richtiger Scheißtag. Ich mache mir nicht die Mühe, ein Lächeln auf meine Lippen zu setzen oder gar Ansätze entstehen zu lassen. Etwas mürrisch suche ich die Küche auf. Bleibe verdutzt auf der Schwelle stehen.
Meine Schwester ist nicht hier. Ich hebe die Augenbrauen hoch und schaue mich um. Es ist nicht normal, immerhin ist sie die Erste von uns beiden, die in der Küche steht und oft das Frühstück zubereitet. Ich kann keine Spur von ihr entdecken. Verwirrung prägt meine Miene, als ich die Küche betrete. Ein mulmiges Gefühl hat sich in mir ausgebreitet. Die Augen ein wenig zusammengekniffen, wende ich den Kopf langsam zu der Uhr. Ich riskiere einen Blick. Dann setzt das Herz für eine Sekunde aus.
Kurz vor halb neun. Ich habe verschlafen.
„Scheiße."
Ich benötige gewisse Sekunden, um es zu begreifen. Als ich es realisiert habe, löse ich mich aus der Starre und jage wie ein aufgescheuchtes Huhn aus dem Wohnzimmer, direkt zu der Treppe. Jegliche Müdigkeit ist aus mir gewichen, ich bin nun hellwach. Das Ende der Treppe erreicht, laufe ich direkt zu meinem Schlafzimmer, stürme in das Zimmer und stoppe vor dem Schrank. Nun muss sich alles rasend schnell ablaufen. Ich krame neue Sachen heraus – Zoë hat scheinbar die saubere Wäsche in den Schrank einsortiert, denn die Stapel sind ein wenig gewachsen – und klemme sie mir unter den rechten Arm. Dem Stress schutzlos ausgesetzt, wühle ich die Unterwäsche aus dem Schrank, schließe ihn und schäle mich hastig aus den Schlafsachen.
Ich habe recht behalten. Der vorherige Gedankengang hat sich die endgültige Bestätigung eingeholt. Dieser Montag ist eine reine Katastrophe. Der Start ist vollkommen schlecht. Der kommende Verlauf wird sich nicht anders abspielen. Ich stoße ein lautes Knurren aus, knöpfe die Hose zu und stopfe das Hemd in diese hinein. Falten dominieren das Oberteil, jedoch glätte ich sie nicht. Dafür habe ich keine Zeit. Ich habe im Allgemeinen keine Zeit mehr.
Meine Füße tragen mich aus dem Schlafzimmer. Ich muss auf das Frühstück verzichten. Die Erkenntnis zieht meine Laune weiter nach unten. Gehetzt gehe ich in das Badezimmer. Selbst für die banalen Dinge habe ich kaum Zeit übrig. Ich schnappe mir die Zahnbürste, schmiere etwas Zahnpasta auf diese, während ich zurück zu der Treppe gehe.
Warum hat Zoë mich nicht geweckt? Normalerweise tut sie dies, wenn sie merkt, dass ich zu lange schlafe. Warum heute nicht? Der Ärger kocht in mir auf, und ich rausche in die Küche, nebenbei reinige ich die Zähne. Hat sie das etwa vergessen? Das wäre zumindest eine logische Erklärung. Ich schüttele verärgert den Kopf und greife nach einer kleinen Dose. Ohne groß darüber nachzudenken, nehme ich einen Apfel und einige Weintrauben, lege sie in die Dose. Verschließe sie und lege auf dem Deckel eine kleine Banane. Das muss als Snack für den Arbeitstag reichen. Ich lasse mich in die Hocke fallen, ziehe eine Wasserflasche aus dem unteren Schrank und platziere sie neben dem provisorischen Frühstück.
Ich wirbele herum, gehe aus der Küche, zurück zu der Treppe. Dieses Mal nehme ich zwei Stufen auf, sodass ich schneller das andere Ende erreicht habe. Ich suche das Badezimmer auf und beginne, mir eine oberflächliche Reinigung des Gesichts vorzunehmen. Die Zahnbürste befindet sich wieder im Becher. Ich drehe den Wasserhahn auf, spritze mir etwas Wasser in das Gesicht. Kalt ist es nicht, aber ich fühle mich dennoch erfrischter.
„So eine verdammte Scheiße", erhebe ich meine Stimme und starre mich im Spiegel an. Die Augenbrauen sind verzogen, die Lippen gleichen einem schmalen Strich. Ich presse sie so fest aufeinander, sodass sich ein sanfter Schmerz zu Wort meldet. „Dieses blöde Huhn. Warum hat sie mich nicht geweckt?" Ein lautes Knurren verlässt mich. „Zoë, du bist unmöglich." Ich greife nach der Haarbürste und führe sie hastig durch meine förmlich verknoteten Haare. Hier treffe ich eine widerspenstige Klette an oder ich erwische eine an einer anderen Stelle. „Mann, warum denn heute? Ihr scheiß Haare." Ich lege die Bürste weg. „Super. Das sieht noch schlimmer aus als vorher. Prima. Ich sehe aus, als hätte ich Kontakt mit einer Steckdose gesucht." Ich knirsche mit den Zähnen und binde die zerzausten Haare zu einem unordentlichen kleinen Zopf zusammen. „Es sieht beschissen aus, aber egal. Ich habe keine Zeit mehr."
Ich drehe mich um und nehme den Weg zu der Treppe auf. Zoë ist nicht einmal mehr zu Hause. Da ist sie wohl zu der Universität gefahren. Ohne mich vorher zu wecken, und dabei hätte sie die Zeit gehabt. Diese Erkenntnis und ich werden keine guten Freunde mehr sein. Ich durchquere das Wohnzimmer, habe vorher meine Tasche an mich genommen, und befinde mich nun in der Küche.
„Super. Okay, okay. Ein kleiner Check." Ich stopfe die Wasserflasche und die Dose in die Tasche, lege die Banane dazu. „Mein Frühstücksersatz ist drinnen, etwas zum Trinken auch." Ich lege die Stirn in Falten. „Schlüssel?" Versenke die Finger in die Tasche und wühle darin herum. „Passt. Die Hausschlüssel sind dort." Mein Blick wandert an mir herab. „Klamotten sitzen. Irgendwie. Okay, dann wär's das." Die Finger wandern nach vorne und fahren über die vorderen Taschen hinweg. Ich bekomme die Umrisse des Portemonnaies zu fassen. „Das Geld habe ich auch. Und falls nicht; die Kreditkarte wird mir behilflich sein."
Ich versetze mich in Bewegung, betrete den Flur. Jetzt darf ich keine weitere Zeit verlieren. Schnell schlüpfe ich in meine Schuhe, sammele die Autoschlüssel ein. Trete zu der Haustür. Lege die Finger um die Klinke und blicke ein letztes Mal in den Flur. Er liegt still und wie leer gefegt da. „Nun gut. Falls ich etwas vergessen haben sollte; scheißegal. Zoë soll sich darum kümmern." Ich öffne die Tür und gehe nach draußen. Schließe sie hinter mir und eile zu meinem Fahrzeug. Ich entriegele es und werfe die Tasche achtlos auf den Beifahrersitz. „Nun denn; los geht's." Der Schlüssel steckt im Zündschloss. Leise knirscht er, als ich ihn umdrehe. Der Wagen stottert für einen Augenblick, und er jagt mit einem Satz nach vorne und rollt zu der Straße.
Mein Blick gleitet zu der linken, dann zu der rechten Seite. Eine Schar Kinder stolpert über den Gehweg, die meisten von ihnen befinden sich in einem sehr jungen Alter. Ich fahre auf die Straße. Zögere nicht länger und baue das Tempo auf. Kann jedoch nicht ein konstantes Tempo anpeilen. Ich sehe verbissen auf die Straße und überhole vereinzelt ein weiteres Fahrzeug. Ich bin mir bewusst, dass man Innerorts kein anderes Gefährt überholen sollte, aber in diesem Moment spielt es für mich keine Rolle. Das Einzige, was für mich zählt, ist, dass ich pünktlich zu der Arbeit komme.
Ich schieße über eine Kreuzung, ehe die Ampel auf Rot springen kann. Irgendein Fahrer hupt, ich ignoriere es. Die Finger schließen sich fester um das Steuerrad, die Fingerknöchel wölben sich sichtbar unter der Haut. Ich kann es einfach nicht fassen, fange ich an, mit mir selbst zu reden, während ich mich dem Vorort von Miami nähere. Ich schenke der scheinbar verzauberten Umgebung keine Beachtung. Der Himmel trägt goldene Farben, die weißen Wolken kleben wie Watte an der Farbe, und das gleißende Sonnenlicht überschwemmt die Stadt. Da hat sie es versäumt, mich zu wecken. Meine Fresse, warum hat sie sich nicht die Zeit genommen? Ich meine, sie ist früher als ich wach gewesen, da hätte man getrost die Zeit in Anspruch nehmen können, mich zu wecken. Wieder grollt in mir ein Knurren. Aber nein, sie hat es nicht getan, und jetzt komme ich zu spät zur Arbeit. Die ersten Hochhäuser bauen sich vor mir auf, und der Verkehr nimmt zu. Ich drücke das Bremspedal mehr durch und nehme schrittweise das Tempo ab. Mein Chef wird sich freuen.
Ich hoffe inständig, dass Mister Sutherland nicht allzu scharf darauf reagieren wird und mich mild davonkommen lässt. Zwar bezweifle ich dies, aber man dennoch Hoffnung pflegen. Mein Vorgesetzter ist kein schlechter Mensch. Auf dem ersten Blick mag er sehr autoritär und eisern wirken, doch wenn man lange mit ihm zu tun hat, zeigt der erfahrene Mann eine freundliche und sanftmütige Art. Er kümmert sich sehr um uns und steht jedem zur Verfügung, falls man einmal etwas auf der Seele hat.
Wetten, der Tag wird noch beschissener werden? Ja? Wer wettet mit mir? Ich bin gerne bereit. Zehn Dollars für denjenigen, der sagt, dass der Tag es werden wird. Ich schnaube. Ich hasse den Montag.
-
Ich habe mir die Tasche geschnappt, bin aus dem Wagen gesprungen und zu der Station geeilt. Während ich die Straße überquert habe, hat ein Autofahrer mich beinahe erwischt. Ein tiefer Schrecken hat mich überrascht, und ich bin schneller über die Straße gegangen. Diese Sache hat meine Laune endgültig zum absoluten Nullpunkt befördert. Ich habe die Tür des Eingangsbereiches aufgestoßen, immer wieder undeutlich gemurrt und dabei niemanden begrüßt. Auch nicht meine Kollegen. Charly hat mir irgendetwas zugerufen, es hat sich wie eine Aufforderung in meinen Ohren angehört. Ich bin ihr nicht nachgegangen. Soll er zu mir kommen oder es mir zukommen lassen, aber ich will erst einmal mein Büro aufsuchen.
Niemand hält mich auf oder behindert mich. Ich schlängele mich durch die Wartenden oder stehle mich an ihnen vorbei. Ein Kind schreit, jemand hustet. Ich habe das Ende des Flurs erreicht. Öffne die Glastür und trete in das stille Treppenhaus ein. Wieder nehme ich zwei Stufen gleichzeitig auf mich. Ich begegne keiner Person im Treppenhaus. Ohne mich hier länger aufzuhalten, suche ich die erste Etage auf und suche mein Büro auf. Diese Etage liegt deutlich ruhiger da als das Erdgeschoss. Ich kann gleichmäßige Schritte vernehmen, gedämpfte Gespräche, die innerhalb der Büros abgehalten werden. Irgendwo wird ein lauter Protest veranstaltet, vereinzelt mischt sich ein wutentbrannter Schrei ein. Ich blicke kurz den Flur hinauf, ehe ich mein Büro betrete.
Ich drücke mit dem Ellenbogen die Tür zu und hebe den Blick von dem dunklen Fußboden. Gerade wollte ich mich zu dem Schreibtisch begeben, denn das Telefon signalisiert mir, dass ich verpasste Anrufe habe. Auch ein Stapel Papier liegt dort. Allerdings hat mich eine plötzliche Starre überfallen. Stocksteif stehe ich vor dem Schreibtisch und starre meinen besetzten Platz an.
Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Nicht einmal daran gedacht. Eher habe ich gedacht, dass ich ihm ständig nachlaufen muss, um ihn überhaupt zum Reden zu bewegen. Aber dass er mir entgegenkommt und das vollkommen ohne Zwang ... Das ist unglaublich. Ich rede nicht von Jim. Er sitzt hier nicht.
Vincent sitzt hier, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist er keineswegs erfreut oder dergleichen. Nein. Eher scheint es mir, als hätte er nur auf meine Ankunft gewartet, um mich anzuschreien. Ich straffe ein wenig meine Schultern und halte seinem seltsamen Blick mühselig stand.
„Wir müssen reden", meint er und blickt mich nach wie vor unverwandt an. Das Unbehagen nagt an mir und lässt die Fassade immer weiter bröckeln. Ich versuche sogleich, mir nichts anmerken zu lassen. Auch nicht den schnellen Herzschlag.
„Auf einmal?" Ich nehme die Tasche von meiner Schulter und lasse sie auf einen der Besucherstühle sinken. „Ich dachte, du willst nicht mehr mit mir reden?"
Vincent geht nicht darauf ein. Es ist, als würde er meine Aussage vollkommen ignorieren.
„Über deinen gestrigen Besuch im Red Roses", antwortet er. Vincent macht sich nicht einmal die Mühe, den gepressten Ton zu verbergen. „Ja, Valary. Ich weiß Bescheid." Seine Lippen gleichen einem schmalen Strich, als er kurz danach hinzufügt: „Warum?"
Es überkommt mich völlig kalt. Ich stehe starr und steif da. Bin unfähig, ein Wort herauszubringen. Das hat mir alle Möglichkeiten des Sprechens geraubt. Was soll ich außerdem groß sagen, wenn ich dazu fähig gewesen wäre? Woher weiß Vincent davon? Ich habe ihn nicht in Kenntnis gesetzt, Cessy mit höchster Wahrscheinlichkeit auch nicht – diese Nummer geht nur uns beiden etwas an. Ich starre den Dreißigjährigen wortlos an. Sekunden der Stille verstreichen. Ich habe das Gefühl, dass ich die ohnehin schon angespannte Lage schlimmer mache.
„Warum?", wiederholt er seine Frage, der Ton unterzieht sich einer Veränderung. Die Frustration nimmt beständig zu. Seine Augen ähneln zwei grauen Schlitzen.
Mein Mund bleibt geschlossen. Das Herz trommelt schmerzhaft gegen den Brustkorb. Die Starre ist eiserner geworden, mein Mund ist wie ausgetrocknet.
Eine einzige Frage blüht in meinem leeren Kopf auf. Woher weiß Vincent, dass ich gestern Abend im Red Roses gewesen bin?
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