Vierzehn
Delilah wartete offensichtlich auf Sins Reaktion. Schweigend lehnte sie immer noch an ihm, ohne ihn anzusehen. Und das war auch gut so.
Sin hatte keine Ahnung, was er hätte erwidern können. Er hatte nie Familie gehabt und war auf der Straße groß geworden.
"Hälst mich jetzt für ein weinerliches Mädchen?", fragte sie geradeheraus und löste sich von ihm.
Er seufzte und lehnte sich müde gegen die Wand. "Nein, Delilah. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass nicht alle Piraten gefühllose Monster sind? Wir wollen nur überleben, das ist alles."
"Dann lass mich frei! Ich male euch von mir aus eine Karte nach St. Muerde, aber lass mich bitte gehen!"
"Und wenn wir wieder auf so ein Ding wie die Korallenschlange oder Sirenen stoßen? Ich brauche eine Garantie zum Überleben."
Delilah verstand. Sie war also eine Garantie.
Wütend krempelte sie ihren Ärmel hoch und nahm den Verband von der Bisswunde der Korallenschlange.
"Und wenn deine Garantie draufgeht, ist es in Ordnung, oder was!?"
"Natürlich nicht! Nur bin ich der Käpt'n und das wohl meiner Crew steht an erster Stelle! Und zwar immer!"
Delilah raufte sich die Haare. Das konnte doch nicht wahr sein!
"Weißt du was!? Ich pfeif auf dich, deine Crew oder euren Schutz! Ich führe euch nach St. Muerde, stopfe mir selbst die Taschen voll und wenn wir auf dem Weg dahin angegriffen werden, dann ist es mir egal, ob ihr gefressen, ertränkt oder sonst wie um die Ecke gebracht werdet! Vielleicht stifte ich die Ungeheuer auch noch an, damit sie euch töten?"
Dazu war sie natürlich nicht in der Lage, aber das brauchte er ja nicht zu wissen.
"Du bist wirklich ein stures und hinterlistiges Biest, Diebin! Vielleicht sollten wir dich wirklich eine Karte malen lassen und anschließend über Board werfen!"
"Ach, und springst du mir diesmal nicht hinterher, um mich wie eine Jungfrau in Not zu retten?"
"Einer Jungfrau, jederzeit wieder, aber ein aufmüpfiges Monster wie dich ketten wir am besten noch an einen Anker, damit zu diesmal auch wirklich am Meeresboden bleibst!"
"Piraten mögen es wohl nicht, wenn ihnen widerspricht."
Die Tür wurde aufgerissen und Cem und Nev starrten ihnen jeweils mit einer Waffe in der Hand entgegen. Als sie sahen, dass nur die beiden miteinander stritten, wurde Cem rot und Nev begann zu stottern.
"Wir ... äh ... dachten ... es hätte sich ein Einbrecher an Board geschlichen, oder..."
"Nein!", rief Delilah dazwischen. "Werdet bloß nicht verlegen! Ihr seid genau im richtigen Moment gekommen!"
Sie wollte sich an ihnen vorbeidrängen, aber Sindbad packte sie von hinten, so fest, dass sie sich nur einmal kurz befreien konnte, eher er nochmal nach ihr griff.
"Ich hab die Nase voll von deinen Launen! Cem, Nev, sperrt sie nach unten, bis wir sie brauchen. Wer sich wie ein Verräter benimmt, der wird auch so behandelt!"
Die beiden sahen sich einmal kurz an, bevor sie seinem Befehl folgten. Delilah wäre gegen die zwei leicht angekommen, aber sie war viel zu verletzt. Sie hatte ihm ihre Geschichte verraten. Sie war das größte Geheimnis gewesen, das sie besaß, und er ließ sie einsperren. Er hatte wohl jede Nettigkeit nur vorgetäuscht. Sie war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Sie wollte, dass sich ihre Trauer in brennende Wut verwandelte, wie sie es immer tat. Aber diesmal kam sie sich nur wie ein Häufchen Elend vor. Sie war so dumm. Als Nev und Cem sie in eine kleine abschließbare Baracke brachten, schienen beide etwas sagen zu wollen. Delilah winkte ab und drehte sich zur hölzernen Wand, durch die sie das Rauschen des Meeres hören konnte. Ein Bullauge gab es nicht, nur eine Kerze, die als einziges Licht spendete. Kaum waren die beiden jungen Männer verschwunden, trat und schlug so lange gegen die Wand ein, bis ihre Knöchel blutig waren.
Sie musste aufhören, sich wie ein weinerliches Kind zu benehmen! Sie musste nur nachdenken. Sie hätte problemlos flüchten können, wenn sie nicht noch die Münze hätte suchen müssen. Aber ohne sie konnte sie nicht gehen. Sie war das Letzte, das sie von ihrer Mutter hatte. Schon allein deswegen durfte sie nicht aufgeben. Das hier war sicher nicht die Art, wie sie sich vorgestellt hatte, St. Muerde zu finden. Aber ihre Schwester hatte gesagt, dass man immer das Beste aus jeder Situation herausholen musste. Der Gedanke an ihre Familie ließ sie neue Kraft schöpfen. Nein, sie würde sicher nicht aufgeben!
°*°
Sin konnte nicht glauben, was eben noch passiert war. Wie konnte Delilah die Crew und ihn erneut hintergehen? Vielleicht hatte er sich getäuscht. Diebe konnten kein Vertrauen lernen. Delilah war da keine Ausnahme.
Wütend tigerte er über das Deck. Spätestens nach zehn Minuten wusste die gesamte Crew dank Cem und Nev was vorgefallen war und die Gemüter wechselten zwischen Wut, Enttäuschung und dem immer mehr werdenden Wunsch, Delilah über Bord zu werfen.
Sin lehnte jedes Mal ab, obwohl auch er langsam große Lust dazu bekam. Aber sie brauchten Delilah. Nur sie kannte den Weg nach St. Muerde. Die Hälfte hatten sie hinter sich. In etwa einem Monat würden sie ihr Ziel erreichen, dann würde er sie aussetzen und er hätte den Frieden auf der Silbertiefe zurück.
"Da stimmt was nicht.", hörte er irgendwann Malik murmeln. "Mit dem Mädchen stimmt was nicht."
Interessiert sah Sin zu seinem Ersten Steuermann. "Was meinst du?"
Malik lehnte sich gegen die Reling und sah nachdenklich zum Himmel. "Überleg doch mal. Delilah traut uns nicht, sie steht mit St. Muerde und den Wesen des Meeres in Verbindung. Dass sie eine Rhaji ist, ist ja mehr als offensichtlich, aber warum weigert sie sich, mit uns nach St. Muerde zu kommen? Sie will sich als Diebin doch sicher selbst die Taschen voll schlagen. Sie weiß, dass wir sie nicht töten, solange wir den Kurs von ihr brauchen. Warum sollte sie sich also davonschleichen wollen?"
"Vielleicht denkt sie, wir hätten sie getötet, sobald wir in St. Muerde werden?", schlug Amir vor.
"Sie hat vor irgendwas Angst.", mutmaßte Sin.
Aber vor was?
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